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Mittels des gekonnten Einsatzes von Erzähltechniken ließ sich zwar möglicher-weise die aff ektive Kraft von Armuts beschreibungen, ihre Wirkung auf die philan-thropische Bewegung erhöhen, doch ein eff ektiver administrativer Umgang mit den sozialen Pro ble men der Metropole setzte andere Dar stellungsformen voraus.

Ein heitliche Maßstäbe waren vonnöten, um Informationen zu in tegrieren und zu ordnen. Die Korrelation quan ti tativer Daten über die soziale Welt ver langte stan-dardisierte Formen visueller Re prä sentation, musste dabei aber bereits auf eine stan dardisie rende Klassifi kation der beobachteten Objekte zurückgreifen kön-nen.36 An die Stelle von Reiseberichten mussten Repräsentationsformen des espace (de Certeau) treten, die auf prakti sche Anwendung von Herrschaftswissen zielten, den Wegen der Armut nicht gehend folgten, sondern eine »Ordnung der Orte« ent-warfen, die unmittelbar gesehen werden konnte.37 Zahlen boten hier die Möglich-keit, Informationen nicht nur leichter zueinander in Be ziehung zu setzen, son dern auch für andere Wissensfelder zugänglich zu machen. Mittels statistischer Verfah-ren konnten Informa tionen auch zu den Bereichen er schlos sen werden, für die kein persönliches Experten wissen vorhanden war. Dies galt ins be son dere vor dem Hin-tergrund zunehmender so zialer Desintegration und sich diff e renzie render sozialer Lebenswelten, was exaktes persönliches Wissen über das sozio kulturell Andere, über fremde Lebensbereiche erschwerte. Wie Th eodore Porter vor dem Hinter-grund der seit den 1830er Jahren wach senden statistischen Bewegung heraus-gestellt hat: »In a large-scale industralized society, numbers provide an appro pria-tely im per sonal way of learning about people in alien settings […]. Some institu tions in Victorian Britain continued to function mainly through intimate know ledge and face-to-face contact.«38 Dem administrativen Ziel der Steuerung me chani scher so zialer Prozesse von oben dienten daher quantifi zierende Darstellungen, da sie dem lo kalen Expertenwissen der Kirchen und Philanthropen, das auf den mora li-schen Cha rakter einzel ner Individuen zielte, ein anders geartetes Wissen gegen-überstellen konn ten. Aussagen über die Lebensver hältnisse ließen sich mit Hilfe

36 »Th e administrators’ forest cannot be the naturalists’ forest«, wie James C. Scott, Seeing like a State.

How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven u. a. 1998, S. 22, festgestellt hat: Die Realität muss umgear beitet, ihre Komplexität reduziert, Katego rien von Men-schen und Dingen müssen defi niert werden und Maßstäbe austauschbar sein. Vgl. Th eodore Porter,

»Objectivity as Standardization: the Rhetoric of Impersonality in Measurement, Statistics, and Cost-Benefi t Analysis«, in: Allan Megill (Hg.), Rethinking Objectivity, Durham 1994, S. 197–237.

37 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 217 und S. 221; zu dem damit ver-bundenen Panoptismus Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994, S. 251–292.

38 Th eodore Porter, »Precision and Trust: Early Victorian Insurance and the Politics of Calculation«, in: Wise (Hg.), Values of Precision, S. 173–197, hier S. 192.

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 45 von Tabellen verifi zieren, in denen die jeweili gen Verhältnisse numerisch erfasst und damit weniger der Gefahr interpretativer Verfäl schung ausgesetzt zu sein schie-nen. So ließen sich Durchschnittswerte errechnen, die wiederum der Überprü fung und Einordnung statistischer Irrläufer, zur Korrektur von Abweichungen dienen konnte – ein seit Mitte des 19. Jahrhunderts gängiges Verfah ren.

In dieser Hinsicht gänzlich anders als Mayhew verfuhr der Geschäftsmann und zeitweilige Präsi dent der Royal Statistical Society Charles Booth in seiner zwi schen 1889 und 1903 in 17 Bänden veröff entlichten Studie Life and Labour of the People in Lon don, einer sozialen Erhebung auf monumentaler empirischer Basis,39 die sein Namensvetter William Booth nicht umsonst hinsichtlich der darin wiedergegebe-nen minutiösen Beobach tungen als positive Ausnahme unter den Armutsdarstel-lungen nannte.40

Gemäß dem Ziel, ein natur ge treues Bild der Sozialverhältnisse der seinerzeit etwa vier Millionen Einwohner Londons zu zeichnen, führte Charles Booth ab 1886 mit wechselndem Mitarbeiterstab41 eine Erhe bung durch, die Einblick in die soziale Ab-stufung von Lebensstan dards eröff nete. Drei Th e menfel der – Armut, Arten von Ar-beit und Religionszugehö rigkeit – wurden unterschie den, zu denen mittels Besu-chen und Inter views vor Ort qua litative, vor allem aber statistische Informationen erhoben wurden. Wichtiger als das Er gebnis, dass letztlich 35 Prozent der Londoner Bevölke rung als »arm« bezeichnet werden müssten, war die Schlussfolgerung, über staatliche Inter ventionen steuernd in die soziale Mechanik eingreifen zu müssen:

Die Ursachen der Armut seien weni ger in individuellem Versagen, als vielmehr in

39 Zunächst erschien nach drei Jahren Erhebung Charles Booth, Labour and Life of the People in Lon-don, 2 volumes, plus maps under separate cover, London 1889–1891; sodann nach weiteren sechs Jah-ren Erhebung eine weitere Aufl age in neun Bänden (London 1892–1897), 1902–1903 schließlich eine Aufl age in 17 Bänden mit einer überarbeiteten Fassung der Armutskarten, für die Booth und seine Mitarbeiter alle Straßen noch einmal besucht hatten. Booth, Sprößling einer wohlhabenden Familie Liverpooler Getreidehändler, politisch liberal und religiös unitaristisch erzogen, hatte weder eine formale akademische Ausbildung, noch arbeitete er innerhalb des universitären Kontexts. Dies und der Umstand, dass er sich selbst als Geschäftsmann mit sozialem Gewissen beschrieb, mag dazu beigetragen haben, dass sein Einfl uss auf die Sozialwis senschaften zunächst für gering erachtet wur-de. Im Rahmen der akademischen britischen Soziologie spielte er keine bedeutende Rolle, und nicht zuletzt wegen seines persönlichen sozialen Engagements galt er der entstehenden US-ameri-kanischen empirischen Soziologie der 1920er Jahre als theoretisch unrefl ek tiert. Vgl. Harold W.

Pfautz, Charles Booth on the City: Physical Pattern and Social Structure, Chicago 1968.

40 Vgl. Booth, In Darkest England, S. 21.

41 Das von ihm gegründete »Board of Statisti cal Research« beschloss die Erhebung auf seiner ersten Versammlung 1886. Angeregt wurde es durch eine Äußerung des Führers der Social Democratic Fe-deration Henry Hyndman, in London lebten 25 Prozent der Menschen in Armut. Zu Booths »so-cial investigators« gehörten neben seiner Frau Mary zu unterschiedlichen Zeiten Bea trice Webb, Arthur Baxter, Clara Collet, David Schloss, George Duckworth, Hubert Llewllyn Smith, Jesse Ar-gyle, und Ernest Aves. Siehe Kevon Bales, »Charles Booth’s survey of Life and La bour of the People in Lon don 1889-1903«, in: Bulmer et al., Social Survey, S. 66–110; E.P. Hennock, »Con cepts of po verty in the Bri tish social surveys from Charles Booth to Arthur Bowley«, in: ebd., S. 189–216.

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Umweltbe din gungen wie Überbe völkerung, unregelmäßigem Einkommen, oder dem stattfi ndenden Verteilungskampf zu suchen. Entsprechend basierte Booths Ethnogra phie des Sozialen nicht auf Reiseberichten, sondern auf quantitativen Repräsenta tions formen. Über die Armen schreibt Booth: »It may be their own fault that this is so, that is another question; my fi rst busi ness is sim ply with the numbers who, from whatever cause, do live under con ditions of poverty or destitution.«42

Zur wissenschaftlichen Darstellung wählte Booths Erhebung vier sich ergänzen-de Medien gesellschaftlicher Selbstbeobachtung: Zunächst präsentierte auch sie ergänzen- de-taillierte Beschreibungen des generellen Cha rakters der untersuchten Distrikte.43

42 Charles Booth, Life and Labour of the People in London, First series: poverty. East, Central and South London, London 1892 (Aufl . 1902), S. 33.

43 Zum Beispiel St. Hubert Street, ebd., S. 10 f.: »An awful place; the worst street in the district. Th e inhabitants are mostly of the lowest class, and seem to lack all idea of cleanliness or decency. Few of the families occupy more than one room. Th e children are rarely brought up to any kind of work, but loaf about, and no doubt form the nucleus for future generations of thieves and other bad characters. Th e property is all very old, and it has been patched up and altered until it is dif-fi cult to distinguish on house from another. Small back yards have been utilized for building addi-tional tenements. Th e property throughout is in a very bad condition, unsanitary and overcrow-Abb. 5: »XX. Table of household expenditure.«

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 47

Wichtiger aber waren Überblickstabellen (Abb. 5) mit Angaben zur Anzahl der Personen pro Haus halt, Einkommen und Ausgaben, anhand derer sprachliche In-formationen ge bündelt und relationiert ablesbar sind. Dem Ideal der Übersicht-lichkeit noch näher kam die Ver arbeitung tabellarisch geord neter Information in Form von Bal kendiagrammen (Abb. 6). Karten schließlich stellten einen wei te ren Schritt der Kom plexitätsreduktion dar. Sie umfassten solche zur Popula tionsdichte, zur Immigration und solche, die Wissen über die geographi schen und infrastruktu-rellen Besonderheiten der verschiedenen unter suchten Stadtregionen vermittelten.44 Neben diesen Karten standen prominent die poverty maps, neuartige Werkzeuge der Wis sensvermittlung, die die Möglichkeit eröff neten, das Lon doner Armutsproblem auf einen Blick zu erfassen. Hier kam die Idee des »sur veys« im Sinne der »surveil-lance« voll zum tragen, als Blick aus der Vogel per spek tive, von einer hohen und ent-fernten Position auf das Ganze (Abb. 7).

Obwohl eine schematische Darstellung, verstand Booth seine Armutskarten doch als Photogra phie, folgte der moralischen Ökonomie mechanischer Objektivität.45 Als photographi sche Momentaufnahme fi xiere sie einen zeitlichen und räumlichen Ausschnitt des Sozialen, der sich auf grund durchlässiger Grenzen real in permanen-ter Bewegung be fi n de. Die Me tapher der Photographie betonte so die empirische Datengrund la ge der vorgenommenen Stan dar di sierungen:

Th e special diffi culty of making an accurate pic ture of so shifting a scene as the low-class streets in East London present is very evident, and may easily be exaggerated. As in photographing a crowd, the details of the picture change continually, but the general

ef-ded; and it is stated (as a suggestive reason why so little has been done in the way of remedy) that until very recently the rent collector of the property was a brother of the Sanitary Inspector! A number of rooms are occupied by prostitutes of the most pronounced order.«

44 Diese geben Auskunft über Wohnraum und Dichte der Bebauung, öff entliche Räume und Gärten, über die sanitäre Infrastruktur, Entfernungen zwischen Wohngegenden und Arbeitsstätten, oder Möglich keiten der Selbstversorgung – mithin über strukturelle Aspekte des Lebensstandards; vgl.

ebd., S. 28 ff .

45 Vgl. Lorraine Daston, Peter Galison, »Th e Image of Objectivity«, in: Representations 40 (1992), S. 81–128.

Abb. 6: »Proportion of Classes – Graphic Representation.«

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fect is much the same, whatever moment is chosen. I have attempted to produce an in stan taneous picture, fi xing the facts on my negative as they appear at a given mo-ment, and the imagination of my readers must add the movemo-ment, the constant chan-ges, the whirl and tur moil of life.46

Wie Booth ausführt, sollten diese Armutskarten als ein »transfer of verbal into gra-phic description« verstanden werden.47 Sie basierten auf Informationen des Zensus und von »school board visi tors«, die im Auftrag der munizipalen Verwaltung Be-richte über die Lebensumstände in allen Londoner Haushalten zusammenstellten.

Da diese nur die für ihre eigenen Belange rele vanten Informationen sammelten,

46 Booth, Life and Labour, 1902, S. 26, Hervorh. B.K.

47 Ebd., S. 24. Booths Map shewing degrees of poverty in London in areas with about 30.000 inhabitants in each compiled from information collected in 1889-1890 enthält eine Überblickstabelle zu den Be-zirken, mit Angaben der jeweiligen Bevölkerungszahlen, der Anzahl der Personen pro Acre und dem Prozentsatz an Armut, angezeigt durch sieben verschiedenfarbige Schattierungen.

Abb. 7: »Descriptive map of London poverty 1889. North-Western sheet, comprising part of Hamp-stead; Paddington (excepting north-west corner); Parts of St. George’s Hanover Square, Westminster,

Strand, Holborn and Islington; the whole of St. Giles’s and Marylebone; and most of St. Pancras.«

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 49 werde, so Booth, nur auf Wissen rekurriert, das auf »natürlichem Wege« zu stande gekom men und nicht durch Interessen und Leidenschaften der Beobachter ver-fälscht worden sei. Die Schul in s pektoren funktionierten aufgrund ihres angenom-menen Desinteresses sozusa gen wie Aufzeichnungsapparate: »Th e facts as given have been gathered and stated with no bias nor distortion aim, and with no forego-ne conclusions.«48

Die so gewonnenen Informationen hielten die Mitarbeiter Booths in Notizbü-chern fest und trugen sie in Tabellen ein.49 In einem nächsten Schritt wurden den jeweiligen Lebensumständen positive Zahlenwerte zugewiesen, die das Verhältnis von durch schnittlichem Einkommen zu durchschnittlichen Ausgaben für Nah-rungsmittel, Miete, Heizung, Kleidung, sowie Gesundheits- und Versicherungs-aus ga ben bestimmten.50 So konnten abgestufte soziale Schichtungen, sogenannte Armutsklassen eingeteilt und mittels einer Armutsgrenze (»poverty line«) diff

48 Booth, Life and Labour, 1902, S. 4; vgl. S. 25: »Nor […] did we ask the visitors to obtain informa-tion specially for us. We dealt solely with that which comes to them in a natural way in the dischar-ge of their duties.« Interessanterweise ist die akkurate bzw. präzise Beschreibung der beobachteten Verhältnisse nicht per se eine wissenschaftliche Tugend, wie Porter, »Precision and Trust«, S. 174, betont hat: Im Versicherungswesen, das als erster Bereich außerhalb der Naturwissenschaften mit mathematischen Präzisionskalkülen arbeitete, galten diese gar als Gefährdung der eigentlichen Tu-genden der Versicherungsfachleute, der »actuaries«, da sie das öff entliche Vertrauen in ihre charak-terliche Integrität und ihr Urteilsvermögen untergrub. Entsprechend war das über Befragung und Beobachtung gewonnene Wissen hinsichtlich seiner epistemologischen Validität auf Vertrauen und Respekt vor Expertenwissen gegründet, welches in den zeitgenössischen Wissenschaften im-mer wieder betont wurde.

49 So konnte eine Defi nition von »Armut« erstellt werden, die sich am Existenzminimum, der Möglich-keit, elementare Lebensbe dürfnisse zu befriedigen, orientierte. »By ›want‹ is here meant an aggra va-ted form of poverty, and by ›distress‹ an aggravava-ted form of ›want‹. Th ere is to my mind a degree of po verty that does not amount to want and a degree of want that does not amount to distress.«

(Booth, Li fe and Labour, 1902, S. 132) Solche strukturellen anthropologischen Sub sistenz bedingun-gen waren auch direkter Beobachtung zugänglich: Armut ist dann gegeben, wenn die Notwendig keit un mit tel ba rer Bedürfnisbefriedigung keinen Raum für vorausschauendes Handeln lässt, was sich konkret an der Vor ratshaltung beobachten lässt. Damit blieb zwar die traditionelle Bestim mung der Armuts ursache als individuellem Man gel an »providence, industry, and thrift« auch in Booths Be-zugssystem re le vant – nur ist »improvident behavi our« nicht mehr »Ursache« allein, sondern zugleich

»Wirkung«. Ent spre chendes Verhalten wird zu einem »Indi kator« von Armut, der neben an dere, ma-terielle Indikatoren tritt.

50 »In order to show exactly what I mean by poverty, want, and distress, and thus attach some positi-ve value to the defi nition of ›poor‹ and ›positi-very poor‹, I hapositi-ve attempted to inpositi-vestigate and analyze the ex penditure usually current in Classes B, C, D, and E, and have included a few examples from F.

Th e fi gures are from genuine and, I believe, trustworthy accounts, and relate to 30 families, of whom 6 are ›very poor‹, 10 are ›poor‹, and 14 are above the line of poverty. Th is method cannot, however, be em ployed to reach the lowest level, and the imagination must be drawn upon to com-plete the picture of Class B. To facilitate comparison, every family has been reduced to an equiva-lent in ›male adults‹ – allowing three-fourths for a woman and in proportion for children, and the whole 30 have been ar ranged in order according to their standard of life.« Booth, Life and Labour, 1902, S. 132.

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ziert werden. Diese ist konstitutiv für die soziale Welt, markiert Ein- und Aus-schlüsse, indem sie arme von den übrigen Klassen abgrenzt.51 Die Armutsklassen wurden nun mit einem Farbschema ver bun den, das sich am prozentualen Anteil an Armut in ver schiedenen Distrikten oder Wohnblöcken orientierte. Auf dieser Basis erstellte Booth seine Armuts karten, in denen die Möglichkeit von Veränderungen bereits me dial an gelegt ist: Die hier visualisierten sozialen Grenzen sind revidierbar.

Die nicht-vertikale Repräsentationsform impli zierte die Möglichkeit kontinuierli-cher Bewegung zwischen verschiedenen Graden des Wohl stands und damit soziale Permea bilität. So hob Booth hervor, dass die Farbgebung permanenter Verände-rung unter worfen sei, und daher in regelmäßigen Abständen aktua li siert werden müsse. Zu diesem Zweck liefen seine Mitarbeiter und er selbst die jewei li gen Bezir-ke ab, interviewten Einwohner, Pfarrer und Polizisten, und hielten wiederum alles in Reisetagebüchern fest: Nach Datum und Distrikt geordnet, fi nden sich hier In-formationen, die beim Durchwandern der Stadt akribisch notiert wurden, mit An-gaben über den jeweiligen Zustand der Anwohner, Häuser und Straßen, des sozia-len und Geschäftslebens, versehen mit Hinweisen auf die etwaige Notwendigkeit, die Statistiken und das Farbschema der Karten zu überarbeiten. In einem seiner Einträge zur Gegend um die Drury Lane heißt es (Abb. 8):

[b354-141] Tuesday. Sep. 20 1898. Walk with Police Constable G. Moir round dis-trict bounded on the North by Long Acre, on the East by Drury Lane, on the south by the Strand + on the west by Bedford St, Henrietta St, Russell St, + Bow St, being part of the parishes of St John the Evangelist of St. Paul. – – Starting at the corner of Bow St + Long Acre, East along Long Acre, the South side is all factories (in map purple) south down Drury Lane.. great clearances on west side, all down from Russell St to White Hart St + from Drury Lane to Catherine St. including Vinegar Yard + Russell Court, lb [light blue] in map »but used to be very rough«: on the one side is Broad Court. new, 4st.[ory] fl ats, redbrick, fairly respectable, some servts Report pk barred – in map pink. South down Cross Ct.[ourt] 4 st.[ory] working class purple.

not coloured [b354-143] in map. East along Dukes Court. much down + the rest to come down shortly. two houses on north + 4 on south still inhabited. poor + quiet, windows dirty. purple to lb[light blue] in map purple. […] South down Angel Court.

costers, S st, »Strand« Buildings on E[ast] side. lb [light blue] rather than purple of map, rougher lower down + db [dark blue] (in map purple). costers – – [b354-145]

fl ower girls, a few thieves »but not so bad as Wilde House« (in little Wild St), doors open, tread Hatlers. pale, sore eyed, ill booted + dressed but clean children. […]

51 Ebd., S. 33: »A. Th e lowest class of occasional labourers, loafers, and semi criminals. B. Casual ear-nings – ›very poor‹. C. Intermittent earear-nings. D. Small regular earear-nings [C and D form] together the ›poor‹. E. Regular standard earnings – above the line of poverty. F. Higher class labour. G. Lo-wer middle class. H. Upper middle class.«

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 51

Damit stand Booths sozialwissenschaftliche Repräsentation von Armut im Zeichen der seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmenden Visualisierungstendenzen in den Sozial wissen schaften, der Orientierung an geologischen, topographischen, schematischen und thematischen Karten, wie sie insbesondere der Quetelet’schen Kartierung von Be völke rungs- und Kriminal statisti ken zugrunde lag. So, wie in politischen Karten seit der französischen Revolution zunehmend der Blick auf in-nere, ethnische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen gelenkt wurde, wurden nun soziale Gefahrenherde mitten in London direkt sichtbar. Hier verdichtete sich das konkrete An liegen der Erhebungen, Mittel zum eff ektiveren Umgang mit Ar mut

Damit stand Booths sozialwissenschaftliche Repräsentation von Armut im Zeichen der seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmenden Visualisierungstendenzen in den Sozial wissen schaften, der Orientierung an geologischen, topographischen, schematischen und thematischen Karten, wie sie insbesondere der Quetelet’schen Kartierung von Be völke rungs- und Kriminal statisti ken zugrunde lag. So, wie in politischen Karten seit der französischen Revolution zunehmend der Blick auf in-nere, ethnische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen gelenkt wurde, wurden nun soziale Gefahrenherde mitten in London direkt sichtbar. Hier verdichtete sich das konkrete An liegen der Erhebungen, Mittel zum eff ektiveren Umgang mit Ar mut