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im Spannungsfeld von Volkskunde und Statistik

III. Tabelle vs. Beschreibung

Als die Dichter ein »malerisches und romantisches Westphalen« beschrieben, wa-ren dessen Gebiete also bereits in die Administration des preußischen Gesamtstaats eingegliedert und numerisch erfasst worden. Mit Blick auf diesen Vorgang ist fest-zustellen, dass der von der postkolonialen Sozialanthropologie analysierte Zusam-menhang von ethnographischer Darstellung, Statistik und moderner Macht37 in der deutschen Geschichte nicht erst nach 1871 erkennbar ist. Der heuristische Zweck mag es rechtfertigen, nicht nur die Urbarmachung und Besiedelung bisher unbewohnter Gebiete, sondern auch die Eroberung und Eingliederung seit langem bevölkerter Territorien mit eigenen Herrschaftsstrukturen als ›innere Kolonisation‹

zu betrachten. So kommt eine Dynamik des 19. Jahrhunderts in den Blick, die sel-ten berücksichtigt wird: Bevor das Kaiserreich afrikanische Gebiete in seinen

›Schutz‹ nahm und deren Völker erkundete, produzierten die deutschen Länder im Zuge der ›inneren Kolonisation‹ ein Wissen vom ›eigenen‹ Volk.

Wenn im Folgenden das Verhältnis der volkskundlichen Literatur zur numeri-schen Staatskunde untersucht wird, steht im Mittelpunkt die Frage der Darstel-lungsform. Der sogenannte ›Statistiker-Streit‹ zwischen den Anhängern der älteren Universitätsstatistik und denen der neueren Zahlenstatistik hatte diese Frage aufge-worfen: August Niemann unterscheidet in seinem Abris der Statistik und der Staten-kunde von 1807 eine »beschreibende« und eine »tabellarische«38 Methode der sta-tistischen Darstellung und nennt die Vielzahl der Gegebenheiten, auf die letztere zu seiner Zeit bereits angewandt wurde.39 Zwar hatte die Tabelle seit langem auch bei der Darbietung von semantischen Inhalten Verwendung gefunden. Da sie für die numerische Statistik zur bevorzugten Darstellungsform wurde, konnte sie im

›Statistiker-Streit‹ jedoch als Scheidemarke fungieren. Unter der Voraussetzung richtiger Messung und regelmäßig wiederholter Zählung räumt Niemann ein, »daß die Uebersicht, welche eine solche Darstellung über das Ganze der Verwaltung ge-währt, für Regenten und ihre Räthe in hohem Grade nüzlich sein könte«.40

36 Vgl. Stephanie Reekers, Westfalens Bevölkerung 1818–1955. Die Bevölkerungsentwicklung der Ge-meinden und Kreise im Zahlenbild, Münster 1956, S. 361.

37 Siehe dazu Talal Asad, »Ethnographic Representation, Statistics and Modern Power«, in: Social Re-search 61 (1994), S. 57–88.

38 August Niemann, Abris der Statistik und der Statenkunde nebst Fragmenten zur Geschichte derselben, Altona 1807, S. 81.

39 Vgl. ebd., S. 86 f.

40 Ebd., S. 89.

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Die Göttingischen gelehrten Anzeigen dagegen kommentieren polemisch, dass

»die politischen Rechner« sich der Statistik »fast ausschließend bemächtigt haben«.41 Während Niemann nur die Lückenhaftigkeit der vorliegenden tabellarischen Dar-stellungen bemängelt, wird hier deren Aussagekraft generell in Frage gestellt.42 Da-bei wird deutlich, dass man die Frage der Darstellungsform als eine unmittelbar politische verstand. Die Polemik der Göttinger zielt vor allem darauf, »was jene Ta-bellenwuth auf die practische Staatswirthschaft für Einfl uß hat«43:

Man wollte […] genau den Zustand […] oder die Kräfte des Landes kennen. Aber was nannte man Zustand und Kräfte des Landes? Das Materielle, das sich zählen und verzeichnen ließ […] Aber hier war der Punct, wo die Statistiker und die practischen Politiker zusammentrafen. Die erstern lehrten die letztern Tabellen machen; und da-mit war der Stein der Weisen gefunden! Nun konnte man Alles in Zahlen angeben;

nun war Alles so klar und so deutlich!44

Mit ihrer Methode steht auch der Gegenstand der Statistik in Frage.45 Denn durch seine Darstellung wird er allererst konstituiert. James C. Scott hat in Seeing Like a State die performative Funktion jener Kategorien hervorgehoben, die dem moder-nen Staat eine eff ektive Beobachtung und Umgestaltung der Wirklichkeit ermögli-chen. Der administrative Blick reduziert Komplexität durch hochgradige Typisie-rung und Abstraktion.46 In besonderem Maße erfordert die Erhebung und Verarbeitung numerischer Daten eine Standardisierung des Wirklichkeitsbezugs.

Die Umstellung auf quantifi zierende Methoden beinhaltet eine Selektion: die aus-schließliche Berücksichtigung numerisch erfassbarer Gegebenheiten unter Vernach-lässigung aller an deren. Die Zahlenstatistik erzeugt also nicht nur ein neuartiges Re-gierungswissen, sondern – wie ihre Gegner beobachten – auch ein Nichtwissen. So wird ironisch bemängelt, dass jene Gegebenheiten, die mittels der »Tabellen-Metho-de« nicht erfasst werden können, in der Folge auch von der Regierung vernachlässigt werden:

41 Göttingische gelehrte Anzeigen 1806, S. 835.

42 »Die ewigen Wiederholungen von Flächeninhalt und Volksmenge, von Einkünften und Truppen-zahl, geben gerade einen solchen Begriff von einem Staate, als die Angaben der Statur, des Maaßes der Arme und Beine von einem Menschen geben können. Und doch glauben unsre Tabellenma-cher große Statistiker zu heißen, wenn sie jene Rubriken mit Zahlen ausfüllen können! So ist aller Geist, alles Leben aus dieser edeln Wissenschaft verbannt!« Göttingische gelehrte Anzeigen 1807, S. 1302.

43 Ebd., S. 1303.

44 Ebd., S. 1300 f.

45 Vgl. Vincent John, Geschichte der Statistik. Ein quellenmäßiges Handbuch für den akademischen Ge-brauch wie für den Selbstunterricht, Erster Teil: Von dem Ursprung der Statistik bis auf Quetelet (1835), Stuttgart 1884, S. 131.

46 Vgl. James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1988, S. 77.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 61 Für Nationalgeist, Freyheitsliebe, das Genie und den Charakter großer oder kleiner Männer an der Spitze, gibt es keine Columnen. Dergleichen Dinge werden also auch nicht in Anschlag gebracht; wenn gleich der Augenschein und die Erfahrung aller Jahrhunderte lehrt, daß es viel weniger der Körper als der Geist ist, der die Kraft der Staaten bestimmt.47

Dieser Streit um Methode und Gegenstand der Statistik durchzieht das gesamte Jahrhundert. Indem er die Volkskunde als Heilmittel gegen »die statistische Krank-heit«48 empfi ehlt, setzt Riehl ihn fort. Inzwischen hatte man sich endgültig von ei-ner deskriptiven Darstellungsweise verabschiedet. Mitte des Jahrhunderts hatte Ernst Engel, der wenige Jahre später zum Leiter des Preußischen Bureaus ernannt werden sollte, in einem Aufsatz »Ueber die Bedeutung der Bevölkerungs-Statistik«

erklärt, Aufgabe einer »modernen Statistik auf naturwissenschaftlicher Basis« sei

»die Aufsuchung und Auffi ndung von Naturgesetzen im Leben der Staaten und Völker«.49 Eben darin sah Carl Gustav Knies die Selbständigkeit seiner Wissenschaft begründet: Als »Fundament für alle Operationen« lasse die von der politischen Arithmetik ausgehende Statistik »nur das von der Zahl begleitete exacte Factum« zu:

»Es soll nichts mit der Wortphrase geschildert und beschrieben, sondern Alles mit der Zahlenangabe gemessen und berechnet, ein exactes Facit gewonnen werden; alle Operationen zeigen den Charakter der mathematischen Exactheit.«50 Pointiert be-merkt Bruno Hildebrand, dass »erst die Zahl die menschlichen Beobachtungen in Tatsachen verwandelt«.51

In diesem Umfeld beansprucht die Volkskunde das Erbe der überlebten Staats-kunde für sich.52 Allerdings greift sie nur die verbale Darstellungsform auf, nicht die Bestimmung des Gegenstands. Nicht der »Staat«, sondern das »Volk« soll er-kundet und beschrieben werden. Als die Göttinger beklagten, dass man den ›mate-riellen‹, quantifi zierbaren Gegebenheiten gegenüber die ›geistigen‹ vernachlässige, war damit keineswegs schon ein ›Volksgeist‹ gemeint.53 Eine »allgemeine

47 Göttingische gelehrte Anzeigen 1806, S. 834.

48 Wilhelm Heinrich Riehl, »Die statistische Krankheit«, in: ders., Freie Vorträge, Zweite Sammlung, Stuttgart 1885, S. 247–292.

49 Ernst Engel, »Ueber die Bedeutung der Bevölkerungs-Statistik mit besonderer Beziehung auf die dießjährige Volkszählung und Productions- und Consumtions-Statistik im Königreiche Sachsen«, in: Zeitschrift des Statistischen Büreaus des Königlich Sächsischen Ministeriums des Innern 1 (1855), S. 141–160, hier S. 143.

50 Carl Gustav Adolph Knies, Die Statistik als selbständige Wissenschaft, Kassel 1850, S. 173.

51 Bruno Hildebrand, »Die wissenschaftliche Aufgabe der Statistik«, in: Jahrbücher für Nationalöko-nomie und Statistik 6 (1866), S. 1–11, hier S. 4.

52 »Der Eifer, mit dem man seit mehr als hundert Jahren gearbeitet hat, die Statistik zu einer selbstän-digen Wissenschaft zu erheben, zielte bewußt oder unbewußt auf die Gründung dieser Lehre vom Volk.« Riehl, Land und Leute, S. 35.

53 So aber Karin Johannisson, »Society in Numbers: Th e Debate over Quantifi cation in 18th-Centu-ry Political Economy«, in: Tore Frängsmyr, J.L. Heilbron, Robin E. Rider (Hg.), Th e Quantifying

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schichte« hatte nach Schlözer davon auszugehen, dass die »politische Verbindung […] die Mutter der Menschheit«54 ist. Das »Volk« hatte sie darum weniger im

»geographischen« oder »genetischen«, als vielmehr »im politischen Verstande« zu betrachten: als Einheit derer, »die in einen Stat verbunden sind, oder unter einer Oberhoheit stehen: sie mögen auch von noch so verschiedner Abkunft seyn, und dabei gar in so verschiedenen Welttheilen wohnen«.55 Herders ethnischer Begriff des ›Volks‹ als einer Gemeinschaft mit einheitlicher Abstammung, Lebensweise, Denkart und Sprache, zu deren konstitutiven Elementen der Staat nicht gehört56, wurde in der Staatenbeschreibung der Aufklärung nicht wirksam. Im Anschluss an Hegel und die historische Rechtsschule hat diesen Begriff erst die Volkskunde auf-genommen. Deren Gegner aber war nicht allein ein mechanistischer Etatismus, wie ihn Schlegel und Savigny etwa kritisierten.57 Riehl reagiert vielmehr auf quan-titative Erfassungsverfahren, wie sie durch die neuere Volkswirtschaftslehre gefor-dert und durch die statistischen Bureaus durchgeführt wurden. Nachdem das ver-traglich konstituierte Staatsvolk durch eine zählbare ›Bevölkerung‹ zunehmend verdrängt worden war, wurde gegen letztere ein vorstaatliches ›Volk‹ aufgeboten.

Auch Riehl hatte den Zusammenhang von Methode und Gegenstand einschließ-lich seiner politischen Bedeutung fest im Blick. Mit der verbalen Darstellungsweise sollte die Volkskunde auch die politische Funktion der Universitätsstatistik über-nehmen: »Es gilt, die gesammelten Einzelkenntnisse aus der Naturgeschichte des Volkes nutzbar zu machen in der Lehre für die Idee des Staates, nutzbar in der Praxis für die Weiterbildung unseres Verfassungs- und Verwaltungswesens«.58 Die Volks-kunde sollte also jene Position einnehmen, die noch die numerische Statistik besetzt hielt. Deren Aufstieg brachte auch Riehl in Zusammenhang mit einer ökonomi-schen Rationalität der Regierung: Hinter den »ungeheuren Zahlenreihen« verberge sich »die politische und sittliche Ketzerei, welche die Mehrung des materiellen Na-tionalwohlstands als einziges Ziel des Volks- und Staatslebens setzt«.59 Es galt, die Entscheidungsträger über jene Gegebenheiten in Kenntnis zu setzen, die durch die Zahlenstatistik methodisch in den Bereich des Nichtwissens abgedrängt wurden:

spirit in the 18th Century, Berkeley, Los Angeles 1990, S. 343–362, hier S. 347. Siehe dagegen An-dreas Hoeschen, »Die aufklärerische Universitätsstatistik und ihre romantischen Gegner. Zum Konzeptwandel von Modernisierung um 1800«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 56–74, insbes. S. 66–68.

54 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/73). Mit Beilagen, hg., einge-leitet und kommentiert von Horst Walter Blanke, Hagen 1990, S. 15.

55 Ebd., S. 101–106.

56 Vgl. Rudolf Große, »Zur Verwendung des Wortes ›Volk‹ bei Herder«, in: Herder-Kolloquium 1978:

Referate und Diskussionsbeiträge, hg. von Walter Dietze in Zusammenarbeit mit Hans-Dietrich Dahnke, Weimar 1980, S. 304–314, hier S. 308.

57 Siehe dazu Hoeschen, »Die aufklärerische Universitätsstatistik und ihre romantischen Gegner«, S. 70–74.

58 Riehl, Land und Leute, S. 18.

59 Ebd., S. 19.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 63 nicht über die Quantitäten einer ›Bevölkerung‹, sondern über die ›Seele‹, den ›Cha-rakter‹ und ›Geist‹ des ›Volkes‹. Erst eine Politik, die auf solchen Kenntnissen beru-he, könne »sociale Politik«60 heißen. »Im 19. Jahrhundert«, davon zeigt Riehl sich überzeugt, »werden die Staatsmänner ihre Texte in den naturgeschichtlichen Analy-sen des Volkes suchen müsAnaly-sen.«61

Wenn Riehl eine »selbstzufriedene Zahlengenügsamkeit« als »bedenkliches Sym-ptom der statistischen Krankheit«62 anführt, tritt er wohlgemerkt nicht für eine Ab-schaff ung der Zahlenstatistik ein63: Man möge zählen, was in Staat und Gesell-schaft nur irgend zählbar ist, aber man solle sich nicht bei der Zahl beruhigen.

Riehl beklagt, »daß wir aus lauter Angst, den festen statistischen Boden unter den Füßen zu verlieren, nur allzu sehr darauf verzichten, recht tief in die Seele des Vol-kes zu schauen.«64 Die »Psychologie des Volksgeistes« aber sei der »Anfang aller so-zialen Weisheit«.65 Darum müsse sich »zu der wirtschaftlichen Zahlenstatistik eine geistige Statistik der Sitten gesellen«.66 Dieser Gegenstand aber entzieht sich seiner Auff assung nach einer zahlenmäßigen Erfassung vollständig: »Die unwägbare, un-meßbare, trotzdem aber doch als eine gewaltige politische Macht vorhandene Sitte des Volkes bildet den eigensten Stoff der Untersuchung«.67 Mit dieser Gegen-standsbestimmung ist auch eine positive Bestimmung der Darstellungsweise ver-bunden: Was sich nicht zählen und berechnen lässt, das gilt es zu beschreiben, gleichsam mit Worten zu malen.