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Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert

1. Reportagen aus dem Herzen der Finsternis: Drury Lane

Um das Ausmaß an Armut und sozialen Verwerfungen Londons zu studieren, bot sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Gang durch die Gassen und Hinterhöfe um die Drury Lane an. In viktorianischen Armutsdarstellungen werden die Slums von St. Giles unter Rückgriff auf verschiedene mediale Darstellungsformen im mer wieder und aus unterschiedlichsten – philanthropischen, moraltheologischen oder admi ni strativen – Blickwinkeln beschrieben. Vielfach standen diese Beschreibun-gen im Zusammenhang mit dem berüchtigten Drury Lane Th eatre und bedienten den Topos der unmora lischen Auswir kun gen der seichten Schauspielerei und des Amüsements. So erzählte etwa der Arzt und Schriftsteller Samuels Smiles, der mit Werken wie Self help (1859), Character (1871), Duty (1880) und Life and Labour (1887) zur genuinen Verkörperung des moralischen Rückgrats des viktorianischen Bürgertums geworden war, die Geschichte eines unsteten Charakters in seinem Werk Th rift (1875) anhand des Drury Lane Th eatre.7 Schärfere Töne schlug mit dem konservativen evange likalen Malthusianer Th omas Carlyle eine andere mora-li sche Ikone des viktoriani schen Bürgertums an: Carlyle, gemäß dessen einfl ussrei-cher paternalistisussrei-cher Anthropo-Th eo lo gie die undeserving poor in ihrer animali-schen Trägheit wie Primitive bzw. gar lebten, »als seien sie nicht erschaff en worden«,8 hob auf den Charakter des die Massen bewegenden Spektakels ab, den die Revolu-tionen von 1848/49 mit Auff ührungen in der Drury Lane gemein hätten.9

Andere, wie der Verfasser des ersten offi ziellen systematischen Armenreports (1832–34), Sekretär der Poor Law Commission und Protagonist der frühen Hy gi e-ne bewegung Edwin Chadwick, nahmen die Gegend genauer in den Blick: Um die Realität der Armut gegenüber ihren bürgerlichen Adressaten zu belegen, griff en frühe administrative Darstellungen wie die seine auf detaillierte Beobachtungen solcher Augenzeugen zurück, die als unparteiisch und verlässlich erachtet wurden.

So präsentiert Chadwick in seinen offi ziellen Berichten neben zahlrei chen Tabellen und Statistiken zu Populationsdichte, Wohnraum und Ähnlichem Ergebnisse von Befragungen. 1843 gibt er im Report on the sanitary conditions of the labouring popu-lation of Great Britain die Aussage eines Kreisarztes wieder, der die besondere

7 Es handelte sich um den irischen Schriftsteller Richards Brinsely Sheridan, den »König der Schul-den« und Vorbild der literarischen Figur des Abenteurers Phileas Fogg aus Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt, der seine Anteile am Drury Lane Th eatre mangels Sparsamkeit und wegen seines un-steten Charakters schon bald wieder verloren habe; vgl. Samuel Smiles, Th rift, New York 1875, S. 286; ders., Character, New York o.J. [1871], S. 20.

8 Th omas Carlyle, »Occasional Discourse on the Negro Question«, in: Fraser’s Magazine for Town and Country Vol. XL (Februar 1849), zitiert nach dem Wiederabdruck unter dem Titel »West India Emancipation«, in: Th e Commercial Review of the South and West 8 (Old Series), 2/4 (June 1850), S. 527–538, hier S. 532 f.

9 Vgl. Th o mas Carlyle, Latter Day Pamphlets, New York 1850, S. 12 f. (No. I. Th e present time, Feb-ruary 1, 1850).

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 33 mut und hohe Mortalitätsrate um die Drury Lane detailliert beschrieben und mit Fallgeschichten zu indi viduellen Schicksalen belegt hatte.10 1845 berichtet auch Friedrich Engels in seiner Lage der arbeiten den Klassen in England, man fände

in Straßen wie Long Acre usw. […] eine Menge Kellerwohnungen, aus denen kränk-liche Kindergestalten und halbverhungerte, zerlumpte Frauen ans Tageslicht steigen.

In der unmittelbaren Nähe des Drury Lane Th eaters […] sind einige der schlechtes-ten Straßen der ganzen Stadt […], deren Häuser ebenfalls von den Kellern an bis un-ters Dach von lauter armen Familien bewohnt sind.11

Für seine Bestandsaufnahme zieht Engels auch Berichte des Sekretärs des Gesund-heits aus schusses von Manchester und Mitbegründers der dortigen Statistical Socie-ty James Phillips Kay-Shuttleworth heran, der zeitgleich mit Chadwick als einer der ersten die Lebensbedin gungen der Armen vor Ort studiert hatte. Auch Kay-Shut-tleworth besteht auf direktem Augenschein oder zumindest unparteiischen Beob-ach tungen,12 was auch sein Sohn Ughtred James, Mitglied der Liberal Party, 1874 in seinem Bericht vor dem britischen Unterhaus anmahnte: Er verwies auf die Not-wendigkeit, »mit eige nen Augen zu sehen, welches Ausmaß das Übel hat«:

Amongst other parts, I have been to courts in the neighbourhood of Holborn, pretty nearly all over the parish of St. Giles, through the neighbourhood of Drury Lane […].

I could not describe to the House the full details of what I saw in the course of my visit to those localities. Honourable members in taking short cuts through the town […] may, perhaps, see places in which they would be very sorry to have to reside; but I do not think that they have any real idea of the character of large masses of the dwellings which exist in our immediate neighbourhood, nor is any such idea possessed by 99 out of every 100 of the wealthy inmates of luxurious West-end houses. Sir, I myself

10 Edwin Chadwick, Report on the sanitary conditions of the labouring population of Great Britain. Sup-plementary report on the results of a special inquiry into the practices of interment in towns. Made at the special request of her Majesty’s principal secretary of state for the home department, London 1843, S.  32. Chadwick pochte vor dem Hintergrund der Cholera-Epidemien auf die Notwendigkeit struktureller Umweltveränderungen, insbesondere des (Ab-)Wassersystems. Zu Chadwick vgl.

Christopher Hamlin, Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick: Britain, 1800–1854, Cambridge 1998.

11 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England [1845; engl. 1892], in: MEW, Bd. 2, Berlin 1972, S. 225–506, S. 260 f.

12 James Phillips Kay-Shuttleworth, Th e Moral and Physical Condition of the Working Classes; Em-ployed in the Cotton Manufacture in Manchester [1832], 2nd enlarged ed. containing an intro duc tory letter to the Rev. Th omas Chalmers, ND Plymouth, London 1970, S. 38: »In the absence of direct evidence, we are unwilling that any statements should rest on our personal testimony; but we again refer with confi dence to that of an intelligent and impartial observer.«

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had no better knowledge of the true state of the homes of thousands of the people who live around us until I visited some of them recently. I will just tell the House two or three of the things which I saw during my excursions into these comparatively unknown regions.13 Um den vielfältigen vor Ort gemachten Beobachtungen gerecht zu werden, waren spezifi sche Formen medialer Repräsentation vonnöten. So wurden die Augenzeu gen-be rich te seit ca. 1850 von bildlichen Darstellungen fl ankiert. Gu stave Doré fertigte in den 1860er Jahren etliche Skizzen vor Ort an, die ihm als Basis für Illu strationen der sozialkri ti schen Romane des Journalisten William Blanchard Jerrold dienten. Li-terarische Darstel lun gen wie diese halfen seit den 1840er Jahren, die Lücke zwischen moraltheologischen und strukturreformerischen Positionen zumindest imagi nativ zu schließen. Insbesondere die Romane von Charles Dickens und Elizabeth Gaskell verdeutlichten, dass Individuen trotz moralischer Integrität aufgrund äußerer Um-stände immer wie der in die Armut abrutschten. So forderten die Protagonisten aus Gaskells Roman Mary Barton (1848) die dominanten Wahrnehmungsmuster der Mittelklasse bezüglich der Ursachen von Armut heraus, als nach der Handelskrise der frühen 1840er Jahre zunehmend deut li ch wurde, dass individuelle Anstrengung und Moral nicht vor Armut schützten. Gaskells Leser sollten daher zu »virtuellen Zeugen« der realen Lebensbedingungen der Unterschichten werden.14

Entscheidend für die Verwissenschaftlichung der Armutsdiskurse wurde jedoch eine andere, aus dem urbanen Raum eher unbekannte Gattung: die der Reiseberich-te. Wenn er in der oben zitierten Passage von »unbekannten Regionen« spricht und darauf hinweist, dass es ange sichts der überwältigenden Flut an neuen Eindrücken schwer falle, eine vollständige Be schreibung zu liefern, weckt Kay-Shuttleworth eth-nographische Assoziationen. Auch die Zeitungsartikel und die Essaysammlung Tra-vels in London des Reporters und Herausgebers der Pall Mall Gazette Charles Morley verfuhren ähnlich. Morley ließ in der Reportage »Behind the Scenes at Drury Lane«

das Leben auf und hinter der Bühne mit der »murky London atmosphere« der sozi-alen Realität verschwim men. Dabei achtete er in Dickens’scher Manier, wie John A.

Spender und John P. Collins in ihrem Nachruf 1916 schreiben, immer auf eine be-sondere Nähe zu den Objek ten seiner Studien, die er so »intensiv und leidenschaft-lich« studierte, dass seine Reiseberichte keinerlei Illustrationen nötig hätten – seine

13 Ughtred James Kay-Shuttleworth, Dwellings of Working-People in London. Two Speeches delivered in the House of Commons May 8, 1874 by U.J. Kay-Shuttleworth, M.P. and Sir Sydney Waterlow, Bart., M.P., with Notes and Appendices, London 1874, S. 5, Hervorh. B.K.: »[…] I have made it my busi-ness during the past few weeks to visit various parts of London and to see for myself to what extent the evil existed.« Kay-Shuttleworth spricht von der Notwendigkeit, die sanitäre und Wohnsituati-on der Armen zu verbessern und bedankt sich bei Helen Bosanquets Mann Bernard für dessen Unterstüt zung bei der Untersuchung der Wohnverhältnisse in der Gegend der Drury Lane (S. 4).

14 Dies hat Anne Secord, »Elizabeth Gaskell and the Artisan Naturalists of Manchester«, in: Th e Gas-kell Society Journal 19 (2005), S. 34–51, hier S. 34 f., herausgearbeitet; vgl. Elizabeth GasGas-kell, Mary Barton, Oxford 1987, S. 96.

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»genauen Beobach tun gen« reichten aus, um ein »getreues Bild« der von anderen sel-ten aufgesuchsel-ten Umwel sel-ten zu zeichnen.15

Besonders interessierte sich Morley für das als Kolonialisierung der Unterschich-ten wahrgenommene christliche Engagement im East End, wie es unter anderem das University Movement und die Heilsarmee William Booths zeigten. Auch Booth, der 1849 (gleichzeitig mit Karl Marx) das soziale »Residuum« im East End kennen-lernte und 1878 die Heilsarmee gründete, um die soziale Frage zu lösen und so ein

»Neues Jerusalem« zu bauen, dass die Wiederkehr Christi befl ügeln sollte, berich-tete wiederholt aus den Slums der Drury Lane.16 Sein Sozialprogramm stellte er 1890 in In Darkest England and the Way Out vor. Der Titel ist mit Bedacht ge wählt:

Booth eröff net sein Werk mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Henry Morton Stanleys kurz zuvor veröff ent lich ten Bericht über die Emin Pasha Relief Expedition entlang des Kongo In Darkest Africa:17

Th is summer the attention of the civilised world has been arrested by the story which Mr. Stanley has told of »Darkest Africa« and his journeyings across the heart of the Lost Con ti nent. In all that spirited narrative of heroic endeavour, nothing has so much im pres sed the imagination, as his description of the immense forest, which of-fered an almost impenetrable barrier to his advance.18

Stanleys Reisebericht fasziniere aber nicht nur in seiner exotischen Darstellung der schrecklichen Lebensbedingungen im afrikanischen Urwald, er zeichne gleichzeitig auch ein »nur allzu lebendiges Bild vieler Teile unseres eigenes Landes«: »As there is a darkest Africa is there not also a darkest England? Civilisation, which can breed

15 Charles Morley, Travels in London, London 1916, S. 230–264, hier S. 246; Sir Edward Cook, J. A.

Spender, J.P. Collins, »Charles Morley: A Memoir«, in: ebd., S. 3–48, hier S. 23 und S. 47. In der Pall Mall Gazette schrieben u. a. George Bernard Shaw, Anthony Trollope, Frie drich Engels, Oscar Wilde, Robert Louis Stevenson, Sir Spencer Walpole und Arthur Patchett Martin.

16 Vgl. William Booth, In Darkest England and the Way Out, London 1890, S. 167 und S. 171. Booth führt dabei detaillierte Angaben zu den Lebenshaltungskosten an, die ihm als faktische Basis seines Sozialprogramms dienten, vgl. etwa ebd., S. 71: »›A Tramp‹ says: I’ve been in most Casual Wards in London; was in the one in Macklin Street, Drury Lane, last week. Th ey keep you two nights and a day, and more than that if they recognise you. You have to break 10 cwt. of stone, or pick four pounds of oakum. Both are hard. About thirty a night go to Macklin Street. Th e food is 1 pint gruel and 6 oz. bread for breakfast; 8 oz. bread and 1 1/2 oz. cheese for dinner; tea same as break-fast. No supper. It is not enough to do the work on. Th en you are obliged to bathe, of course;

sometimes three will bathe in one water, and if you complain they turn nasty, and ask if you are come to a palace. Mitcham Workhouse I’ve been in; grub is good; 1 1/2 pint gruel and 8 oz. bread for breakfast, and same for supper.« Zu Booths postmillenaristischer Th eologie vgl. Ann M. Woodall, What price the poor? William Booth, Karl Marx and the London residuum, Aldershot 2005, S. 136–

169.

17 Henry Morton Stanley, In Darkest Africa; or, the Quest, Rescue, and Retreat of Emin Governor of Equatoria, New York 1890; Booth, In Darkest England, S. 9–12.

18 Ebd., S. 9.

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its own barbarians, does it not also breed its own pygmies?«19 Eine überstrapazierte Analogie wirke leicht ermüdend, doch die Parallelen zwischen Afrika und England seien frap pie rend: Gleich den Elfenbeinhändlern, die sich auf Kosten der Urwald-bewohner berei cher ten, nutzten die Wirte die Schwäche der Armen aus, gleich den von Stanley be schrie benen »zwei Arten von Wilden« kenne man den »bösartigen und faulen Flegel und den rackernden Sklaven«, könne man im Herzen Afrikas vor lauter Bäumen keine andere Welt wahrnehmen, könne man dies hier vor lauter

»Laster und Armut und Ver brechen« nicht, an beiden Orten grassierten Seuchen und stürben tausende Kinder – ob durch die Gifte der Afrikanischen Sümpfe oder die der Londoner Kanalisation –, die Unterdrückung durch eine höhere Rasse wer-de in England durch wer-den Zwang wer-der schlechten Angewohnheiten ersetzt, und schließlich sei es an beiden Orten ein Leichtes, den Glauben zu verlieren.20 Ange-sichts dieser Parallelen beklagt Booth,

how strange it is that so much interest should be excited by a narrative of human squalor and human heroism in a distant continent, while greater squalor and heroism not less magnifi cent may be observed at our very doors. […] Th e man who walks with open eyes and with bleeding heart through the shambles of our civilization needs no such fantastic ima ges of the poet to teach him horror. Often and often, when I have seen the young and the poor and the helpless go down before my eyes into the morass, trampled underfoot by beasts of prey in human shape that haunt these regions, it seemed as if God were no lon ger in His world […]. Hard it is, no doubt, to read in Stanley’s pages […]; but the sto ny streets of London, if they could but speak, would tell of tragedies as awful, of ruin as com plete, of ravishments as horrible, as if we were in Central Africa; only the ghastly de vastation is covered, corpselike, with the artifi ci-alities and hypocrisies of modern civilisation.21

Für seine Paralleldarstellung des Darkest England jedoch macht sich Booth die narra-ti ven Techniken von Darkest Africa nicht zunutze, denn keine Form literarischer Imagi na tion könne dieselbe Kraft entfalten, die die Realität dem Beobachter bot.

Booths Werk läuft auf ein detailliertes Lösungsschema (»Part II: Deliverance«) zu, das auf Gewähr leistung mi ni maler Lebens stan dards (»cab-horse standards«) setzt und die Armen über drei auf steigende Typen vorteilhafter Umweltbedingungen kolonialisiert (»city colony«, »farm co lo ny«, »over-sea colony«). Eingeleitet wird es durch eine Be-standsaufnahme der gegen wär ti gen Situation (»Part I: Th e Darkness«), die die soziale Problematik mit tels statistischer Ta bel len, Klassifi kationsschemata von Typen von Ar-men (ehrlich, las ter haft, kriminell), Augenzeugenberichten und Selbstdarstellungen wiedergibt. Der aff ektiven Kraft narra ti ver Darstellungen bedient er sich dabei

19 Ebd., S. 11.

20 Vgl. ebd., S. 11–14.

21 Ebd., S. 13.

Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert 37 falls in Form von kurzen Fall ge schichten, die auf Basis von Berichten von Offi zieren der Heilsarmee, Poli zeiberichten, solchen der Charity Organisation Society, und Aus-sagen der Betroff enen in Befragungen ent stan den sind. Doch diese Fallgeschichten müssten weit hinter denen zurückbleiben, die die Betroff enen selbst schreiben könn-ten.22 Für ent schei dend erachtet Booth vielmehr die akkurate Beschreibung der Zu-stände auf Basis »genauer, geduldiger und intelligen ter Beobachtung« – die man frei-lich bisher eher Regenwürmern als Armen habe ange dei hen lassen.23

Die von Booth verwendeten Formen der Beobachtung und medialen Repräsen-ta tion der Armut entsprechen, ob es sich um Repräsen-tabellarische Darstellungen oder Augenzeu gen berichte handelt, den gängigen Techniken der Ethnographie des Sozi-alen im neun zehn ten Jahrhundert. Auch seine letztlich nicht umgesetzte Idee, er-zählend vom Kon ti nent der Armut zu berichten, hatte sich seit den 1830er Jahren zusehends als Topos eta bliert. Solche ethnographischen Darstellungen des inneren sozialen Afrikas, in denen sich Augenzeugenschaft und erzählerische Span nung amalgamieren, verbanden sich mit der neuartigen epistemischen Figur des Repor-ters. Literarisches Talent und Beobach tungs gabe paarten sich in den Reportagen, die Charles Dickens für den Evening Chronic le verfasste. Am 19. Februar 1835 schrieb auch er über die Slums von St. Giles, in denen er eine primitive Kultur in all ihren Facetten beo bachtete:

We will endeavour to sketch the bar of a large gin-shop, and its ordinary customers, for the edifi cation of such of our readers as may not have had opportunities of obser-ving such scenes; and on the chance of fi nding one well suited to our purpose, we will

22 Vgl. Booth, Darkest England, S. 32: »I have already given a few life stories taken down from the lips of those who were found homeless on the Embankment which suggest somewhat of the hardships and the misery of the fruitless search for work. But what a volume of dull, squalid horror – a hor-ror of great darkness gradually obscuring all the light of day from the life of the suff erer might be written from the simple prosaic experiences of the ragged fellows whom you meet every day in the street.« Unter den Fallgeschichten fi nden sich beispielsweise »12 stories from real life« (S. 27), teil-weise gar mit Titel (»La zarus on the Embankment«, S. 25; »Th e nomads of civilization«, S. 29), weiterhin arbeitet Booth mit Brie fen (S. 41 f.), kurz gefassten Lebensgeschichten, die in den »res-cue homes« der Heilsarmee gesam melt wurden (S. 51 f.), Einträgen ins »res»res-cue register« (»cause of fall«, »condition when applying«, S. 53) und Statistiken aus dem Polizeiregister (Kapitel VII).

23 Vgl. Booth, Darkest England, S. 20 f.: »Th e Report of the Royal Commission on the Housing of the Poor, and the Report of the Committee of the House of Lords on Sweating, represent an at-tempt at least to ascertain the facts which bear upon the Condition of the People question. But, after all, more minute, patient, intelligent observation has been devoted to the study of Earthworms, than to the evolution, or rather the degradation, of the Sunken Section of our people. Here and there in the immense fi eld individual workers make notes, and occasionally emit a wail of despair, but where is there any attempt even so much as to take the fi rst preliminary step of counting those who have gone under? One book there is, and so far as I know at present, only one, which even attempts to enumerate the destitute. In his ›Life and Labour in the East of London‹, Mr. Charles Booth attempts to form some kind of an idea as to the numbers of those with whom we have to

23 Vgl. Booth, Darkest England, S. 20 f.: »Th e Report of the Royal Commission on the Housing of the Poor, and the Report of the Committee of the House of Lords on Sweating, represent an at-tempt at least to ascertain the facts which bear upon the Condition of the People question. But, after all, more minute, patient, intelligent observation has been devoted to the study of Earthworms, than to the evolution, or rather the degradation, of the Sunken Section of our people. Here and there in the immense fi eld individual workers make notes, and occasionally emit a wail of despair, but where is there any attempt even so much as to take the fi rst preliminary step of counting those who have gone under? One book there is, and so far as I know at present, only one, which even attempts to enumerate the destitute. In his ›Life and Labour in the East of London‹, Mr. Charles Booth attempts to form some kind of an idea as to the numbers of those with whom we have to