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im Spannungsfeld von Volkskunde und Statistik

II. Literatur, Volkskunde und Statistik

Seit langem wird diskutiert, ob die vorliegenden Stücke des »Westfalen-Werks« der Dichtung oder der Volkskunde zugehören. Auch der erste zusammenhängende Entwurf zu der schon früh als »Criminalgeschichte« bezeichneten und als solche dann zumeist auch gelesenen Judenbuche beschreibt ausführlich Landschaft und Bewohner Westfalens, bevor er auf den Kriminalfall Friedrich Mergel kommt. Ort des Geschehens, so heißt es in einem späteren Entwurf, ist ein »Dorf […] derglei-chen der poetisch Reisende für Volksthum und Sittenkunde jetzt in fremden Welt-theilen aufsuchen muß«.8 Auch die gedruckte Fassung enthält die Beschreibung ei-ner Bauernhochzeit, deren Umfang und Genauigkeit weniger den Gattungsregeln der Kriminalliteratur entspricht, als sie ein Interesse an Festbräuchen bezeugt.

So konnte die Westfälische Volkskunde des 20. Jahrhunderts sich in ihren Aus-führungen zu Hochzeitsbräuchen etwa auf Drostes Schilderungen beziehen.9 »Ganz Westfalen sollte sich freuen«, erklärte auch ein führender Droste-Forscher in den 1920er Jahren, »daß Annette von Droste uns eine westfälische Volkskunde geschenkt hat, in einer Zeit, wo sonst die Erforschung des Volkstums noch in den Windeln

6 Levin Schücking, Ferdinand Freiligrath, Das malerische und romantische Westphalen, Leipzig 1841.

7 Brief an Schlüter vom 23. März 1841, HKA IX 1, S. 215.

8 HKA V 2, S. 396.

9 Paul Sartori, Westfälische Volkskunde, Heidelberg 1922, ND Frankfurt a. M. 1980, S. 84.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 55 lag!«10 Spätere Literaturwissenschaftler zeigten sich mit dieser Zuordnung einverstan-den. Friedrich Sengle etwa vertritt die Auff assung, dass man die Westphälischen Schil-derungen nicht als Dichtung betrachten sollte: »Sie bestätigen gerade, daß die Droste sich nicht nur als Dichterin fühlt, sondern auch als gewissenhafte, ja im Sinne jener Zeit als wissenschaftliche Berichterstatterin über die volkskundlichen, wirtschaft-lichen und geographischen Verhältnisse ihrer Heimatlandschaft.«11 Auch Roland Schneider liest diesen Text als »Sachtext«, als eine »gleichsam populärwissenschaft-liche«12 – in einer neueren Aufl age heißt es: »aus heutiger Sicht: populärwissenschaft-liche«13 – Dokumentation. Gleichzeitig weist er nachdrücklich auf die »sinnbildli-chen Bezugsebenen« und damit auf den literaris»sinnbildli-chen Anspruch des Textes hin14, um auch an Bei uns zu Lande volkskundlicher Vereinnahmung entgegen die »eigentlich poetischen Intentionen«15 hervorzuheben. Rosemarie Weber, die zuvor Droste-Hüls-hoff s Beitrag zur Volkskunde in einer umfangreichen Studie gesichtet hatte, war zu dem Ergebnis gekommen, ihr Werk enthalte »lebendige, eigenwillig dargebotene Bil-der vom westfälischen Volkstum im frühen 19. JahrhunBil-dert«, ermangele aber Bil-der Systematik – die Verfasserin sei eben »Dichterin, nicht Wissenschaftlerin«.16

Die Frage, ob das »Westfalen-Werk« der Dichtung oder der Volkskunde zuzu-rechnen ist, geht von einem Unterschied aus, der erst im Zuge der Institutionalisie-rung und ProfessionalisieInstitutionalisie-rung der Volkskunde geltend gemacht worden ist. Damit erschwert sie den Zugang zu Texten, die in einer früheren Phase entstanden sind.

Als Gründungsdokument wird in den Darstellungen des Fachs ein »Volkskunde als Wissenschaft« betitelter Vortrag zitiert, den Wilhelm Heinrich Riehl 1858 erschei-nen ließ. Riehls Geltung als Begründer der Volkskunde ist gleichwohl umstritten.17 Das hat auch darin einen Grund, dass in seiner Person Wissenschaft und Literatur vereint waren: Neben Sachbüchern hat er eine Vielzahl von Novellen geschrieben.

Das hätte seinem wissenschaftlichen Ruf nicht schaden müssen, wäre das Literari-sche auf den belletristiLiterari-schen Teil seines Werkes beschränkt geblieben. Tatsächlich aber ist Riehl auch bei der Abfassung seiner volkskundlichen Texte Maßgaben ge-folgt, die für die schöne Literatur formuliert worden waren. Ausdrücklich hat er das wissenschaftliche Schreiben als eine »Doppelkunst« bezeichnet, deren Produkte

10 Eduard Arens, »Droste-Erinnerungen im Kreise Höxter«, in: Heimatbuch des Kreises Höxter, Bd. 1, Höxter 21925, S. 55–62, hier S. 57 f.

11 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 3: Die Dichter, Stuttgart 1980, S. 634.

12 Ronald Schneider, Annette von Droste-Hülshoff , Stuttgart 1977, S. 75.

13 Ronald Schneider, Annette von Droste-Hülshoff , Stuttgart 21995, S. 99.

14 Ebd., S. 100 f.

15 Schneider, Annette von Droste-Hülshoff , Stuttgart 1977, S. 74.

16 Rosemarie Weber, Westfälisches Volkstum in Leben und Werk der Dichterin Annette von Droste-Hüls-hoff , Münster 1966, S. 123 f.

17 Siehe dazu Wolfgang Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2006, S. 42–

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»nicht blos der Wissenschaft, sondern auch der Literatur« angehören.18 Im Vorwort zur Neuaufl age eines seiner Sachbücher erklärt er, »bei jedem Buche« schwebe ihm das »Ideal eines Kunstwerks« vor.19

Dieses Bekenntnis zur Dichtkunst reagiert auf das Vordringen naturwissen-schaftlicher Forschungs- und Darstellungsmethoden in Bereiche, für die sich die Geisteswissenschaften allein zuständig glaubten. In einem Vortrag über den »Kampf der Wissenschaften in der Neuzeit« wendet Riehl sich gegen die Auff assung, die na-turwissenschaftliche Methode, »sei gar nicht bloß naturwissenschaftlich, sondern die wahre Methode jeglicher Wissenschaft«. In bestimmten Gegenstandsbereichen könne sie keine Anwendung fi nden:

Im weiten Gebiete der Wissenschaft vom Geiste ist eine mathematische Grundlage gar häufi g nicht zu fi nden, die statistische Formel trügt oder versagt, und an die Stel-le des ZähStel-lens, Messens und Wägens muß die schildernde Beobachtung treten.20 Riehl begreift sein volkskundliches Projekt als Fortführung der älteren »Statistik«, jener beschreibenden Staatskunde des 18. Jahrhunderts, die sich quantifi zierender Methoden, wie man sie heute ausschließlich als »statistisch« bezeichnet, nur in ge-ringem Umfang bediente.21 Die Idee, das Staatswesen im Rahmen einer politischen Arithmetik numerisch zu erfassen, stammt aus England: Im Anschluss an John Graunt hatte William Petty es 1691 unternommen, Irland nach dem Vorbild der Naturwissenschaften in Begriff en der Zahl, des Gewichts und des Maßes darzustel-len.22 Zwar wurden seit langem auch in Preußen Gewerbe- und Bevölkerungsstatis-tiken erstellt, zwar erschien 1741 Johann Peter Süßmilchs Göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts.23 Eine durchgreifende Umstellung auf Me-thoden der quantitativen Erfassung, die zunächst im Bereich der Administration einsetzte, zeichnet sich im Diskurs der deutschen Universitätsstatistik jedoch erst Anfang des 19. Jahrhundert ab.24

18 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, »Der Kampf des Schriftstellers und des Gelehrten«, in: ders., Freie Vorträge. Erste Sammlung, Stuttgart 1873, S. 3–29, hier S. 9.

19 Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, Stuttgart 91894, S. X.

20 Wilhelm Heinrich Riehl, »Der Kampf der Wissenschaften in der Neuzeit«, in: ders., Freie Vorträge.

Zweite Sammlung, Stuttgart 1885, S. 130–195, hier S. 177 f.

21 Siehe dazu Mohammed Rassem, Justin Stagl, »Einleitung«, in: Geschichte der Staatsbeschreibung.

Ausgewählte Quellentexte 1456–1813, hg. und kommentiert von dens., Berlin 1994, S. 1–37.

22 John Graunt, Natural and Political Observations mentioned in a following Index, and made upon the Bills of Mortality, London 1662; William Petty, Th e Political Anatomy of Ireland, London 1691.

23 Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts aus der Geburt, Tod und Fortpfl anzung desselben erwiesen, Berlin 1741.

24 Siehe zu den Besonderheiten der Entwicklung in Preußen Ian Hacking, Th e Taming of Chance, Cambridge 1990, S. 16–46; ders., »Prussian Numbers 1860–1882«, in: Th e Probabilistic Revoluti-on, Bd. 1: Ideas in History, hg. von Lorenz Krüger, Lorraine J. Daston und Michael Heidelberger, Cambridge (MA) 1987, S. 377–394.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 57 Einer der Gründe für die Verspätung dieser Entwicklung in Deutschland ist in der politischen Uneinheitlichkeit des Heiligen Römischen Reichs zu sehen. Unter dieser Bedingung wurde die Entwicklung der Staatskunde allein in größeren Terri-torialstaaten wie Preußen vorangetrieben. Geht man davon aus, dass im Prozess der Staatsbildung nicht nur Macht, sondern auch regierungsrelevantes Wissen im Zen-trum akkumuliert werden, liegt es nahe, die Präferenz der Verwaltung für Zah-len auf deren Übertragbarkeit, Stabilität und Kombinierbarkeit zurückzuführen.

Durch diese Eigenschaften zeichnen sich nach Bruno Latour Inskriptionen aus, die es möglich machen, von einem Zentrum aus die Peripherie sowohl im Raum als auch in der Zeit zu beherrschen.25 Numerische Informationen ließen sich besser akkumulieren und weiterverarbeiten als verbale Beschreibungen von ›Staatsmerk-würdigkeiten‹. Den gesteigerten und veränderten Informationsbedürfnissen der Verwaltung entsprechend wurde die Statistik außeruniversitär institutionalisiert. In Preußen geschah dies im Zuge jener Reformen, die mit den Namen Stein und Har-denberg verbunden sind. Nachdem er im westfälischen Minden als Oberkammer-präsident aller westpreußischen Territorien tätig gewesen war, wurde der Freiherr vom Stein 1804 als königlicher Finanz- und Wirtschaftsminister ins Generaldirek-torium nach Berlin berufen.26 Dort nahm er den Nationalökonomen Leopold Krug in seine Dienste, der mit seinem Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staates27 1804 den ersten Versuch einer durchweg aus amtlichen Quellen geschöpf-ten Darstellung des preußischen Staatszustands vorgelegt hatte. Im Folgejahr ließ Krug, ein Anhänger von Adam Smith, seine zweibändigen Betrachtungen über den Nationalreichthum des preußischen Staates und über den Wohlstand seiner Bewohner28 erscheinen. Sie boten eine Bilanz des gesamten preußischen Staates in tabellarischer Übersicht. Stein fasste den Entschluss, die bisher zerstreut von den einzelnen De-partments erstellten Statistiken von Krug sammeln, berichtigen und zusammen-stellen zu lassen, um den Wohlstand der Provinzen arithmetisch vergleichen zu können. Noch im selben Jahr wurde in Berlin ein »Rechen(schafts)zentrum«29 ein-gerichtet: das Königlich Preußische Statistische Büro.

Diese Entwicklung erreichte auch das »Vaterland« Annette von Droste-Hüls-hoff s. Zwar wurden die Stein-Hardenberg’schen Reformen weit entfernt in einem seit dem Frieden von Tilsit auf die ostelbischen Landesteile beschränkten Preußen

25 Vgl. Bruno Latour, »Die Logistik der immutable mobiles«, in: Jörg Döring, Tristan Th ielmann (Hg.), Mediengeographie. Th eorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009, S. 111–144, S. 124 und S. 137.

26 Siehe zum Folgenden Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Grün-dung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 362–391.

27 Leopold Krug, Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staates, Halle 1804.

28 Leopold Krug, Betrachtungen über den Nationalreichthum des preußischen Staates und über den Wohlstand seiner Bewohner, 2 Bde., Berlin 1805.

29 Siehe dazu Latour, »Die Logistik der immutable mobiles«, S. 137 f. Mit »Rechen(schafts)zentrum«

wird hier »center of calculation« übersetzt.

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vorangetrieben. Nach 1815 jedoch sollten ihre Errungenschaften auch an der west-lichen Peripherie des Königreichs eingeführt werden: Das Staatsministerium wurde nach dem Ressortprinzip in Fachministerien unterteilt, die auf ihrem Sachgebiet für den Gesamtstaat zuständig waren. Um dessen administrative Durchdringung zu ermöglichen, wurde die Verwaltung neu gegliedert in Gemeinden, Kreise, Re-gierungsbezirke und Provinzen.30 Mit diesen Verwaltungseinheiten entstand auch ein homogener Referenzraum für die statistische Datenerhebung.

Vor den preußischen hatten die rheinbündischen Reformen Westfalen erfasst – das Royaume de Westphalie sollte ein napoleonischer Modellstaat sein, und gerade dort, wo neue Staatsgebilde geschaff en oder aber bestehende ausgeweitet wurden, kamen die Reformen zur Anwendung. Sie hatten nicht nur den Aufbau staatlicher Herrschaftsstrukturen vorbereitet, die Kirche und Adel politisch neutralisierten.

Sie hatten auch der Verdatung das Feld bereitet. In Frankreich gab es seit 1801 ein Bureau de Statistique, das sich ab 1804 zunehmend quantifi zierender Methoden be-diente.31 Mit dem napoleonischen Kaiserreich erweiterte sich sein Operationsge-biet über den Rhein hinaus. Schon 1807 erschien eine statistische Darstellung des neuen Königreichs von Georg Hassel, 1808 ein Handbuch von Johann Samuel Ersch.32 1809 wurde in Westfalen ein eigenes Bureau eingerichtet.33 Im selben Jahr legte Charles Joseph Bail eine Darstellung vor, der mehrere großformatige Tableaus beigebunden sind.34 Mit Blick auf die Kriegskontributionen war man nicht zuletzt an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Satellitenstaats interessiert. Héron de Viellefosse bereiste Westfalen in offi zieller Mission, um über den Stand des Berg- und Hüttenwesens Bericht zu erstatten.35 Nach dem Wiener Kongress über-nahm das preußische Bureau wieder das statistische Geschäft und zählte zum ersten

30 Siehe dazu Hans-Joachim Behr, »Die preußische Verwaltung in der Provinz Westfalen im Span-nungsfeld von Zentralismus und Regionalismus«, in: Karl Teppe, Michael Epkenhans (Hg.), West-falen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 24–46.

31 Vgl. Marie-Noëlle Bourguet, »Décrire, Compter, Calculer: Th e Debate over Statistics during the Napoleonic Period«, in: Th e Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History, hg. von Lorenz Krüger, Lorraine J. Daston und Michael Heidelberger, Cambridge (MA) 1987, S. 305–316.

32 Georg Hassel, Das Königreich Westphalen vor seiner Organisazion statistisch dargestellt, Braunschweig 1807; Johann Samuel Ersch, Handbuch über das Königreich Westfalen, Halle 1818.

33 August Meitzen, Geschichte, Th eorie und Technik der Statistik, Berlin 1886, S. 27.

34 Charles Joseph Bail, Statistique générale des provinces composant le royaume de Westphalie dans l’ordre où elles subsistaient au Ier octbre 1807 avec l’indication de la nvelle division départementale, […] rédigé sur les notes et renseignements inédits fournis par les autorités administratives, Göttingen 1809. Außer-dem erschienen Georg Hassel, Geographisch-statistischer Abriß des Königreiches Westfalen, Weimar 1809; ders., Statistisches Repertorium über das Königreich Westphalen, Braunschweig 1813.

35 A.M. Héron de Viellefosse, De la richesse minérale. Considérations sur les mines, usines et salines des diff érents états, et particulièrement du Royaume de Westphalie, pris pour terme de comparaison, Paris 1810.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 59 Mal auch die westfälische Bevölkerung. Ab 1816 wurde regelmäßig gezählt: bis 1822 jährlich, danach bis 1867 alle drei Jahre.36