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Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie

3. Hybride Räume: das Beispiel Hankels Ablage

Ein Sonderstatus kommt der in Irrungen, Wirrungen beschriebenen Landpartie nach Hankels Ablage am Zeuthener See zu. Lenes und Bothos zweitägiger Aufent-halt in der Sommerfrische entspringt dem Wunsch, »möglichst fern von dem groß-städtischen Getreibe« die Tage »in aller Stille«42 mit dem Partner zu verbringen.

Und tatsächlich erleben sie Hankels Ablage zunächst als Enklave, als einen von den gesellschaftlichen Normen und Forderungen entlasteten Raum, der es ihnen er-laubt, sich als Paar zu entwerfen. In Fontanes Werk ist der Aufenthalt am Zeuthe-ner See eine der wenigen Episoden, in der Natur nicht bloß als Kulisse dient und projektiv überformt wird, sondern tatsächlich als individueller Entfaltungsraum wahrgenommen wird.43 Der Ausnahmestatus des Ortes wird überdies dadurch be-tont, dass er eine Geschichte und einen Namen erhält, also individualisiert wird.

Treff en wir hier also auf die Identität eines identitätsstiftenden Ortes?

Bei näherem Hinsehen erweist sich das als trügerisch. Hankels Ablage ist eine ge-störte Idylle (Preisendanz spricht von einer »Reduktionsform des Idyllischen«44), ein hochgradig ambivalenter Raum, in sich noch brüchiger als die anderen Ausfl ugsorte und Sommerfrischen Fontanes. Gerade das Spiel mit dem Namen, der im Text nicht bloß mehrfach erwähnt, sondern erläutert wird, weist darauf hin. Im Gespräch, das Botho mit dem Wirt führt, taucht der Name als Problem auf: »nur eins läßt sich ge-gen Hankels Ablage sage-gen: der Name«, meint Botho und der Wirt bestätigt: Der

»Name läßt viel zu wünschen übrig und ist eigentlich ein Malheur«.45 Was damit ge-meint ist, kann aus Andeutungen erschlossen werden: »Etablissement«46 steht bedeu-tungsschwanger auf dem schief stehenden Wegweiser, der zum Wirtshaus führt; und hinzu kommt, dass ›Ablage‹ phonetisch und semantisch an ›Absteige‹ erinnert – und in diesem Sinn wird das Gasthaus von Bothos Offi zierskollegen ja auch genutzt. Die Erläuterungen des Wirts spielen mit der sexuellen Bedeutung, erinnern aber zugleich

42 HFA 1.2, S. 374.

43 Allerdings sind die Gewichte zwischen Lene und Botho dabei ungleich verteilt. Von Beginn an wird deutlich, dass Botho, der sich viel auf seinen besonderen Sinn für das Natürliche zugute hält, tatsäch-lich unempfängtatsäch-lich ist für die Natur. Bezeichnend dafür ist die kleine Episode des Blumenpfl ückens.

Zuerst kann Botho keine Blumen in der Wiese entdecken und später unternimmt er es, die von Lene gepfl ückten botanisch zu bestimmen, woraus sie folgert: »Du hast kein Auge für diese Dinge, weil du keine Liebe dafür hast«, HFA 1.2, S. 378.

44 Preisendanz sieht die »Zitate des idyllischen bzw. bukolischen Repertoires« in Irrungen, Wirrungen da-durch konterkariert, dass »die Schatten der episodisch verlassenen umgreifenden Wirklichkeit der Po-litik, der sozialen Diff erenzen und Abhängigkeiten, der zivilisatorischen Artifi zialitäten auf das Bild eines anderen Daseins fallen, das die Protagonisten in ihren temporären Aufenthalt projizieren«, Wolf-gang Preisendanz, »Reduktionsformen des Idyllischen im Roman des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Fon-tane)«, in: Hans Ulrich Seeber, Paul Gerhard Klussmann (Hg.), Idylle und Modernisierung in der euro-päischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bonn 1986, S. 81–92, hier S. 85.

45 HFA 1.2, S. 381.

46 HFA 1.2, S. 375.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 87 an die Geschichte des Ortes: Hankels Ablage war in früherer Zeit ein Verkehrskno-tenpunkt der umliegenden Dörfer; »sie hatten Ausfuhr und Einfuhr«,47 sagt der Wirt, was man als sexuelle Anspielung lesen kann, was aber zugleich auf die einstige ökonomische Bedeutung der Bucht hinweist, die als »Hafen, Stapelplatz, ›Ablage‹ für alles, was kam und ging«48 diente. Die touristische Sommerfrische, die den Berlinern als unberührtes Naturidyll gilt, war demnach einst Zentrum regionalen Handels.

Doch auch in der Gegenwart ist Hankels Ablage ein Ort mit zwei Gesichtern.

»Sobald das Eis bricht«, versichert der Wirt, »so kommt auch schon Besuch, und der Berliner ist da«.49 Der Berliner kommt nicht einzeln, sondern fällt in Horden ein, wie der Wirt, der sein eigenes Bild der Landpartie als eines touristisch-kom-merziellen Phänomens entwirft, anschaulich zu schildern weiß:

Denn wie verläuft eine solche Partie? Bis Dunkelwerden sind sie draußen in Wald und Wiese, dann aber kommt das Abendbrot, und dann tanzen sie bis um elf. Nun werden Sie sagen, »das ist nichts Großes«, und wär’ auch nichts Großes, wenn der andre Tag ein Ruhetag wär’. Aber der zweite Tag ist wie der erste und der dritte ist wie der zweite. Je-den Abend um elf dampft ein Dampfer mit 240 Personen ab, und jeJe-den Morgen um neun ist ein Dampfer mit ebensoviel Personen wieder da. […] Und so vergeht die Nacht mit Lüften, Putzen und Scheuern, und wenn die letzte Klinke wieder blank ist, ist auch das nächste Schiff schon wieder heran. Natürlich hat alles auch sein Gutes und wenn man um Mitternacht Kasse zählt, so weiß man, wofür man sich gequält hat.50 Hankels Ablage, von dessen »Schönheit und Einsamkeit« Botho »wahre Wun der-dinge«51 gehört hatte, ist also Ort einer fl orierenden Tourismusindustrie und damit Beispiel für einen sozioökonomisch bedingten räumlichen Strukturwandel, für die Umstellung von ländlicher Wirtschaft auf Tourismus. So lösen die Erläuterungen zu Namen und Geschichte die Identität des Ortes gerade auf und machen ihn als Rückzugsort aus der Gesellschaft zweifelhaft.

Auch die Raumdarstellung zielt auf Erzeugung von Ambivalenzen. Das ehemalige Fischerhaus wahrt äußerlich – mit seinen rustikalen Holztischen, dem »Schilfdach«52 und den »Lehmwänden«53 – den Anstrich des Einfachen, tatsächlich aber hat man sich durch Aus- und Umbauten des Hauses bestens auf die Bedürfnisse der Touristen eingestellt. Eine Steigerung erfährt die semantische Mehrdeutigkeit in der Giebelstu-be, in der Lene und Botho übernachten. Raum und Interieur stellen eine Mischung aus Altem und Neuem vor. Die an den Wänden hängenden Bilder lösen die

47 HFA 1.2, S. 381.

48 HFA 1.2, S. 381 f.

49 HFA 1.2, S. 383 f.

50 Ebd.

51 HFA 1.2, S. 375.

52 HFA 1.2, S. 379.

53 HFA 1.2, S. 385.

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tigkeit des Raumes vollends auf. Denn sie verweisen auf andere Räume, so dass un-terschiedliche Raumsemantiken sich überlagern und den Raum mehrfach mit Be-deutung überschreiben.

Die Bedeutung der Bilder wird dadurch hervorgehoben, dass Lene sie betrachtet und kommentiert. Im einen Fall handelt es sich um eine erotische Lithographie von Paul Gavarni, Si jeunesse savait. Die Graphik betont das Zweideutige der Situ-ation, stützt die Konnotation ›Absteige‹ und rührt in Lene entsprechend unange-nehme Gefühle auf: Sie fühlt sich, so heißt es, »von dem Lüsternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt«.54 Eine besondere Pointe liegt darin, dass sie die Graphik bereits kennt: der gleiche Druck hängt nämlich auch in den Räumen der Gärtnersfrau Dörr, bei der sie gemeinsam mit ihrer Zieh-mutter wohnt. Damit kommt es zu einer Sphärenvermischung: In der Sommerfri-sche, dem vermeintlich gesellschaftsfernen Rückzugsort, sieht Lene sich unvermu-tet an ihr eigenes Milieu erinnert – aber nicht in der idealisierenden Variante Bothos, sondern in der derb-ordinären der Gärtnersfrau, die das Gespräch gerne auf »wuppende« Bettfedern55 und ähnliche Peinlichkeiten lenkt.

Während die erotische Graphik zur Zweideutigkeit des ›Etablissements‹ passt, stehen die beiden anderen Bilder im Kontrast dazu. Die Gemälde von Emanuel Leutze (1816–1868) und dem – von Fontane geschätzten56 – englischen Histori-enmaler Benjamin West (1738–1820) wirken deplaziert. Sie gehören off ensichtlich weder ins Umfeld der ehemaligen Fischerkate noch in Lenes Milieu. Leutzes Ge-mälde stellt den historischen Moment dar, in dem Washington an der Spitze der republikanischen Truppe 1776 den Delaware überschreitet; West gestaltet den Tod Admiral Nelsons in der Seeschlacht. Beim vergeblichen Versuch, die englischen Bildunterschriften zu lesen – Washington crossing the Delaware, Th e last hour of Tra-falgar –, kommt Lene die eigene mangelnde Bildung zu Bewusstsein und die Kluft, die sie von Botho trennt. Die Bilder sind also Bothos Sphäre zugeordnet und mar-kieren deren kulturelle Abgrenzungs- und Ausschlussmechanismen. Sie unterstrei-chen, was für den ›idyllischen‹ Aufenthalt insgesamt gilt: Botho und Lene sind »ei-nander so nah und gleichzeitig so fern wie nirgends sonst im Roman«.57

Botho selbst sammelt Bilder des Malers Andreas Achenbach (1815–1910); er ist stolzer Besitzer des Gemäldes Seesturm (1890), über das sich Fontane in einer seiner Kunstkritiken despektierlich äußerte; der Maler sei nun »glücklich bei der

54 HFA 1.2, S. 386.

55 HFA 1.2, S. 364.

56 Benjamin West, schreibt Fontane in den Briefen aus Manchester, »scheint mir bisher nicht in einem Maße gewürdigt worden zu sein, das seiner Bedeutung entspricht«, HFA 3.3/1, S. 474. Er sieht in ihm den Wegbereiter einer realistischen Historienmalerei.

57 Walter Hettche, »›Irrungen, Wirrungen‹. Sprachbewußtsein und Menschlichkeit: Die Sehnsucht nach den ›einfachen Formen‹«, in: Christian Grawe (Hg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991, S. 136–156, hier S. 140.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 89 serfarbe des Meeres angekommen«,58 kritisiert er das Eff ekthaschende des Bildes.

Der Roman selbst rückt Bothos Kunstliebe in ein schiefes Licht. Erfährt man doch, dass Bothos Achenbach-Begeisterung einen zufälligen Ursprung hat: Ausschlag nämlich gibt der Besitz eines ersten Bildes, das ihm als Losgewinn zugefallen ist.

Hinzu kommt, dass die geschichtlich-heroischen Th emen der Bilder in ironischem Kontrast zu Bothos gänzlich unheroischer untätig-drohnenhafter Offi ziersexistenz stehen. Die Bilder, denen man sowohl eine individual- als auch eine sozialpsycho-logische Dimension zuschreiben kann, sind Zeichen für Bothos Sehnsucht nach einem erfüllten und bewegten Dasein und zeugen mentalitätsgeschichtlich von dem kompensatorischen Bedürfnis nach einer wilden, ungebändigten Natur (See-sturm!) oder großen geschichtlichen Taten. Die Bilder in Hankels Ablage, die auf den Geschmack eines gehobenen bürgerlichen Publikums ausgerichtet sind,59 las-sen den vermeintlichen Naturraum zum Kulturraum werden. Sie überlagern ihn mit Kunstwerken, in denen sich die Bedürfnisse und Phantasien des Bürgertums artikulieren.60 Hankels Ablage, der Verkehrsknotenpunkt früherer Zeiten, ist ge-genwärtiger Knotenpunkt in dem Sinn, dass sich hier Spannungen und Wider-sprüche der zeitgenössischen bürgerlichen Kultur verdichten.

Wir haben nun gesehen, wie Fontanes Romane, indem sie auf Bilder referieren (auf reale wie fi ktive), die semantische Eindeutigkeit des literarisch konstruierten Raumes aufl ösen. Der vermeintliche Naturraum zeigt sich von kulturellen und ge-sellschaftlichen Vorstellungen besetzt: »Die Gesellschaft ist überall; die Idylle wird widerlegt.«61 Fontanes Romane entwerfen Realität als hermetisch geschlossenes Spiegelkabinett bürgerlicher Ideologie. Sie führen hinein in bürgerliche Bildwel-ten, aber nicht aus ihnen heraus.

58 Zitiert nach Keisch/Schuster/Wullen (Hg.), Fontane und die Bildende Kunst, S. 174.

59 Insbesondere Leutzes Washington crossing the Delaware hatte als Stich Paul Giradets weite Verbreitung gefunden.

60 Auch der umgekehrte Fall, dass nämlich der Kulturraum mit Bildern der Natur besetzt wird, fi ndet sich in Fontanes Romanen. In der Villa des Börsenspekulanten van der Straaten in L’Adultera hängt ein Porträt seiner Frau, das sie in »ganzer Figur« zeigt, »ein wogendes Kornfeld im Hintergrunde und sie selber eben beschäftigt, ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu stecken«, HFA 1.2, S. 17. In dieser Darstellung, die an ein beliebtes Bildmotiv Monets erinnert, drückt sich eine zeittypische Ambivalenz der Frauenrolle aus: die Frau wird domestiziert (Melanie van der Straaten lebt eingeschlossen in einer artifi ziellen Welt, in einem »goldenen Käfi g«) – und sie wird zugleich als das Andere der Kultur ent-worfen. Ihrer naturfernen Existenz wird das Wunschbild einer naturnahen Existenz aufgeprägt.

61 Müller-Seidel, Th eodor Fontane, S. 266.

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