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Zur multiplen Verwendung von Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben

2. Poesie des Grenzlands

Will man nun den funktionalen Wert der Amerika-Passagen bestimmen, so fi nden sie ihren Gegenstand in der Darstellung einer chaotischen Transformationsepoche zwischen einer wilden ersten Erschließung, in der unmittelbar egoistische Interes-sen dominieren, und ihrer endgültigen Besiedlung und Kultivierung durch die Entwicklung einer festen Gesellschaftsstruktur und – als deren Voraussetzung – die Ausbildung ethischer Identität ihrer Bewohner. Den Frontier solcher Grenzmarken und Agent der Grenzziehung zwischen Kultur und Natur fi ndet Freytag in der Per-son des Landwirts. Er schreibt damit gewissermaßen das Modell der physiokrati-schen class productif fort, schließt aber auch den Fabrikanten nicht aus.25 Doch die Grenzmark, in der die Protagonisten von Soll und Haben kämpfen, trennt weniger Kultur von Natur, als dass sie ein diff uses Niemandsland zwischen einer korrupten und einer integren Form von Kultur, zwischen ungeordneten und geordneten Ver-hältnissen, defi niert; ein Gebiet, das demjenigen zufällt, der es für die entwickelte Gesellschaft erschließt. Der manifeste Rassismus Freytags liegt darin, dass er die polnische Kultur nicht als eigenwertige Lebensform wahrnimmt, sondern als Kor-ruption eines kulturgeschichtlichen Verlaufs, der in der deutschen bürgerlichen Kultur sein exklusives Ziel hat.

Im ›Bürgerkrieg‹ dieser Grenzmark ist das Zwiegespann Fink und Anton auf ei-nander angewiesen, denn beide bekleiden komplementäre Rollen im ästhetischen Funktionsgefüge. Kurz vor der eingangs zitieren Passage, in der Anton sich zu blei-ben entschieden hatte, hatte Fink den Kaufherrn von seiner bevorstehenden Abrei-se in Kenntnis geAbrei-setzt. Dabei hatte Schröter zu erkennen gegeben, dass er Fink eher als Fabrikant denn als Kaufmann sehe.

25 Vgl. Gustav Freytag, »Die conservative Kraft des Ackerbaus« (1849), in: ders., Vermischte Aufsätze aus den Jahren 1848–1894, 2 Bde., hier Bd. 1, hg. von Ernst Elster, Leipzig 1901/03, S. 445–468.

Allerdings gibt es hier keine ›Urproduktion‹ der Natur, denn bei der Industrie wird die Ausbeutung von Bodenschätzen nicht in Betracht gezogen, sondern sie wird als quasi-sekundärer Sektor der landwirtschaftlichen Produktion angeschlossen. Tatsächlich war Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch primär ein Agrarstaat; dieser Bereich kam erst in die Krise, als die rasch fort-schreitende Industrialisierung der amerikanischen Landwirtschaft zu einem Verfall der Getreide-preise führte. Vgl. Gunter Mai: »Die agrarische Transition. Agrarische Gesellschaften in Europa und die Herausforderungen der industriellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Geschich-te und Gesellschaft 33 (2007), S. 471–514. Dabei sieht schon Freytag durchaus die Notwendigkeit von Modernisierung. Wichtiger als der volkswirtschaftliche Aspekt scheint Freytag jedoch der Kul-tivierungsaspekt einer prosperierenden Landwirtschaft: Landwirtschaftliche Arbeit ist zum einen nicht entfremdet, weil ihr Wirken unmittelbar erfahrbar ist; zum anderen ist der Landwirt ›Fach-mann für Diff erenzen‹, hat »ein gutes Verständnis für das Charakteristische« und steht mit seinen

»monarchische[n] Instincte[n]« sowohl gegen die nivellierenden Tendenzen des Finanzkapitalis-mus als auch gegen »rothe socialistische Th eorien«, Alle Zitate Freytag, »Ackerbau«, S. 450.

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»Sie halten mich für geeignet Fabrikant zu werden?« frug Fink mit einer Verbeugung, welche für die gute Meinung danken sollte. / »Im weitesten Sinne des Wortes«, erwie-derte der Kaufmann. »Jede Th ätigkeit, welche neue Werthe schaff t, ist zuletzt Th ätig-keit des Fabrikanten; die gilt überall in der Welt für die aristokratische. Wir Kaufl eu-te sind dazu da, diese Werthe populär zu machen.«26

Das mag zunächst die Diff erenzierung von ökonomischer Produktions- und Dis-tributionssphäre meinen, kann aber in zweiter Lesart auch als Aussage über ethi-sches Verhalten gelesen werden: Erst in der Popularisierung durch den Kaufmann erreichen die heroischen Tugenden gesellschaftliche Valenz und kulturelle Kon-stanz. In einer hymnischen Passage, die nicht, wie bei Freytag häufi g, durch das Zi-tat einer Rollenperspektive ironisch gebrochen wird, entwickelt der Erzähler später eine kleine Mythologie des Fortschritts von der wertstiftenden Tätigkeit des Land-wirts durch den kontinuierlichen Kampf mit der Natur über deren Mechanisie-rung und der dadurch möglichen Akkumulation, die allerdings keine Entwicklung urbaner Strukturen, sondern eine kontinuierliche Erweiterung des Wirkungsradius und damit immer komplexere Verbindungen sowohl im materiellen als auch im in-formationellen Austausch in Gang setzt.27 Schließlich ist Alles mit Allem vernetzt.

»[E]s gibt keine große Entfernung mehr auf Erden«,28 waren Finks letzte Worte an Anton gewesen, bevor er in die Neue Welt aufgebrochen war.

Agentur dieser Vernetzung ist die Handlung – auch dies kann doppelt verstanden werden – mit ihren – und noch einmal ist in doppeltem Sinn zu lesen: ›Colonialwa-ren‹. Solche Fernhandelsgüter aber bergen in sich die Gefahr, mit der Loslösung aus den konkreten Verhältnissen ihrer Gewinnung an kultureller Substanz einzubüßen und zum bloßen materialen Träger eines Wertes zu werden, der sich schließlich auf formal rein abstrakte und damit real auf konkret egoistische fi nanzielle Interessen reduziert. Für eine derartig dekulturierte Wirtschaft steht der Finanzkapitalismus Amerikas; dass sich auch die Handelskultur der alten Welt seinen Gesetzen nicht ganz entziehen kann, wird zum einen durch die Bemerkung angedeutet, dass es sich bei der Handlung Schröter als ›Warengeschäft‹ um eine bereits etwas anachronisti-sche Form handele,29 und zum anderen durch die wiederholt angeführte Bedeutung des Währungsrechnens und -umrechnens signalisiert. Schließlich inszeniert die Ver-mittlung abstrakten Kalküls und konkreter Erfahrung auch den zentralen symbol-stiftenden Prozess, der die ›Handlung‹ des Romans treibt: Antons Vater ist Calcula-tor, Rechnungsbeamter in königlichen Diensten, sein Arbeitsgebiet ist also die abstrakte semantische Organisation der Gesellschaft in Rechnungen und Verträgen.

Dann jedoch wird diese Tätigkeit durch ein Ereignis, durch das Auffi nden eines

26 SuH 1, S. 357.

27 Vgl. SuH 1, S. 461–465.

28 SuH 1, S. 366.

29 Vgl. SuH 1, S. 58 f.

Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben 163 Vertrags von erheblichem Wert für das Handelshaus Schröter, konkretisiert und führt zu einer Art Initiation in die Poetik der Warenwelt: Der abstrakte ›Wert‹ des Vertrages materialisiert sich für den Calculator im Geschenk einer allweihnachtli-chen Warenlieferung; diese veranlasst den Vater, sich mit der Produktion und Kom-munikation der gehandelten Waren zu befassen, was ihn wiederum in die Lage ver-setzt, seinem neugierigen, von Dingen und Düften faszinierten Sohn Geschichten zu erzählen, die dessen Phantasie beschäftigen und eine persönliche Bindung zur Warenwelt prägen.30 Nachdem Antons Berufswunsch gefestigt ist und die Ausbil-dung zum Kaufmann vereinbart wurde, lernt er zunächst jedoch nicht Warenkun-de, sondern Währungsrechnen – er nutzt die Übung egoistisch, um imaginären Reichtum zu akkumulieren – und Englisch, die Sprache des Finanzkapitalismus, aber auch jene Sprache, die dem Habitus des Handelsherrn entspricht.31

Davon wird Anton profi tieren, denn glücklicherweise ist die Schröter’sche Hand-lung »ganz gemacht, bei seinen Th eilhabern feste Gesinnung und ein sicheres Selbst-gefühl zu schaff en.«32 Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich die Handelsgegenstände in Kellern und Speichern bis unter das Dach ›konkretisieren‹, ja das ganze Haus zu überwuchern drohen.33 Für den Lehrling wird die Warenkun-de – bezeichnenWarenkun-derweise erfolgt sie vor allem in einem »große[n] dämmrige[n]

Gewölbe]«34 – zum magischen Ritus seiner Initiation:

Herr Jordan gab sich redlich Mühe, den Lehrling in die Geheimnisse der Waarenkun-de einzuweihen, und die StunWaarenkun-de, in welcher Anton zuerst in das Magazin Waarenkun-des Hauses trat und hundert verschiedene Stoff e und merkwürdige Bildungen persönlich mit al-len Kunstausdrücken kennen lernte, wurde für seinen empfänglichen Sinn die Quel-le einer eigenthümlichen Poesie, die wenigstens eben so viel werth war, als manche andere poetische Empfi ndung, welche auf dem märchenhaften Reiz beruht, den das Seltsame und Fremde in der Seele des Menschen hervorbringt.35

Auch diese Stelle ist doppelt decodierbar: buchstäblich Initiation des Eleven, über-tragen als poetologisches Programm, das sachbezogene Beschreibung an die Stelle einer Erlebnis- und Abenteuerliteratur setzt, die in der Tradition des Exotischen

30 Vgl. SuH, S. 9: Das leichte »persönliche Band«, das den Kalkulator mit dem Handelsherrn verbin-det, wird für Anton zum »Leitseil, wodurch sein ganzes Leben Richtung erhielt«.

31 Vgl. SuH 1, S. 41.

32 SuH 1, S. 58. Der zentrale, gleichermaßen psychologische wie ethische Begriff dieser Passage, das

›Selbstgefühl‹, kennzeichnet nicht nur die Person des Kaufmanns (vgl. auch SuH 1 S. 7, S. 14, S.

20, S. 97, S. 153 u. ö.), sondern ist bereits ein Charakteristikum des Landwirts. Vgl. Freytag,

»Ackerbau«, S. 449, S. 451 und S. 453.

33 Vgl. SuH 1, S. 63 f.

34 SuH 1, S. 68.

35 Ebd.

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und Kuriosen steht.36 Hatten die Erzählungen des Vaters die kindliche Imagination befeuert, so erwecken die realistischen Erklärungen Jordans eine neue Stufe der Imagination, die mit der Wirklichkeit operiert, statt gegen sie zu opponieren. Aber Freytag würde gegen die Prinzipien dieses Programms der Konkretisierung durch Bebilderung verstoßen, bliebe es bei der sachlichen Charakteristik. Sie wird zu-gleich literarisch inszeniert und exemplifi ziert:

[...] Fast alle Länder der Erde, alle Racen des Menschengeschlechts hatten gearbeitet und eingesammelt, um Nützliches und Werthvolles vor den Augen unseres Helden zusammenzuthürmen. Der schwimmende Palast der ostindischen Compagnie, die fl iegende amerikanische Brigg, die alterthümliche Arche der Niederländer hatte die Erde umkreist, starkrippige Walfi schfänger hatten ihre Nasen an den Eisbergen des Süd- und Nordpols gerieben, schwarze Dampfschiff e, bunte chinesische Dschonken, leichte malaische Kähne mit einem Bambus als Mast, alle hatten ihre Flügel gerührt und mit Sturm und Wellen gekämpft, um diese Gewölbe zu füllen. Diese Bastmatten hatte eine Hindufrau gefl ochten, jene Kiste war von einem fl eißigen Chinesen mit roth und schwarzen Hieroglyphen bemalt worden, ...37

Es fehlen Raum und Zeit, hier diesen (übrigens nicht immer zuverlässigen) Schiff s-katalog durchzugehen.38 Er führt schließlich zu einer hoff mannesken Phantasma-gorie, die zwar als erhaben gekennzeichnet, aber zugleich sofort wieder eingehegt wird durch die Sekuritätsposition des Helden – wie des Erzählers:

Anton stand noch stundelang, nachdem die Erklärungen seines Lehrmeisters aufge-hört hatten, neugierig und verwundert in der alten Halle, die Gurte der alten Wöl-bung und die Pfeiler der Wand verwandelten sich ihm in großblättrige Palmen, das Summen und Geräusch auf der Straße erschien wie das entfernte Rauschen der See, die er nur aus seinen Träumen kannte, und er hörte die Wogen des Meeres in gleich-mäßigem Tact an die Küste schlagen, auf der er so sicher stand.39

Nach dieser personalen Initiation lernt der Eleve sie medial zu transformieren und zu expandieren; Folge der Initiation ist Lektüre. Der Text fährt fort:

36 Vgl. auch Antons Einwände gegen die Bemerkung Bernhard Ehrenthals über die Prosa der einhei-mischen Verhältnisse. Vgl. SuH 1, S. 273.

37 SuH 1, S. 68 f.

38 So ist der schwimmende Palast tatsächlich ein Palast namens Jag Nivas, der im Lake Pinola im in-dischen Bundesstaat Udaipur liegt und nicht, wie suggeriert, ein Schiff . Interessanterweise ist der See nicht natürlich, sondern wurde 1362 von einem Getreidehändler, dem Zigeuner Pichhu Ban-jara (BanBan-jara = Zigeuner) angelegt. Ob die Walfi schfänger ihre Nasen ausgerechnet an den Eisber-gen gerieben haben, erscheint auch eher unwahrscheinlich.

39 SuH 1, S. 69.

Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben 165 Diese Freude an der fremden Welt, in welche er so gefahrlos eingekehrt war, verließ ihn seit dem Tage nicht mehr: Wenn er sich Mühe gab, die Eigenthümlichkeiten der vielen Waaren zu verstehen, so versuchte er, durch Lectüre deutliche Bilder von der Landschaft zu bekommen, aus welcher sie herkamen, und von den Menschen, die sie gesammelt haben.40

Zwar ist es eine »fremde Welt«, in die er so einkehrt, aber er betritt sie nicht, um die bekannte zu fl iehen, sondern um sie zu erweitern: Fremd ist zunächst die unkannte Ware, mit der er sich über geographisches und ethnographisches Wissen be-kannt macht.41 Reiseberichte fungieren dabei quasi als Form medialer Autopsie in Zeiten, in denen die Komplexität des Warenverkehrs den persönlichen Mitvollzug ihrer Wege unmöglich gemacht hat. Damit erlösen sie idealiter den Rezipienten vom Egoismus abstrakter Wertbezogenheit und verheimaten ihn in einer von Frey-tag ethisch intendierten Weltgesellschaft.