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Karl Sempers Palau-Bericht – zwischen ethnographischer Quelle und Südsee-Idyll

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur

3. Karl Sempers Palau-Bericht – zwischen ethnographischer Quelle und Südsee-Idyll

Das zweite Beispiel, Die Palau-Inseln im Stillen Ocean. Reise erlebnisse (1873) des Naturforschers und Zoolo gen Karl Semper (1832–1893), ist zum Genre der Reise-memoiren zu rechnen. ReiseReise-memoiren machen den umfangreichsten Anteil der deutschen Südseeliteratur im letzten Drittel des 19. Jahrhundert aus. Als Memoi-ren wird jene Gruppe von Texten bezeichnet, die im Titel, Untertitel oder Vorwort die eigene Erinnerung, das Selbsterlebte und die persönliche Beobach tung hervor-hebt. Sempers Reiseerlebnisse sind eine Mischform von Reiseerzählung und popu-lärwissenschaftlichem Reise bericht. Auch in diesem semifi ktionalen Reisetext folgt – so meine Th ese – die Darstellung des Tanzes im Unterschied zur Beschreibung anderer kultureller Praktiken vorgegebenen exotistischen Mustern, hier in Form der Darstellung verklärter Erinnerung.

Zu Sempers Haupttätigkeiten gehörten wissenschaftliche Messungen, das Sammeln von Tieren und Pfl anzen, deren mikroskopische Untersuchung und Klassifi -zierung sowie das Festhalten vielfältiger länder- und völkerkundlicher Beobachtun-gen. Die im Bericht überwiegende ethnographische Erkundung unternahm Semper weder im Auftrag einer anthropologischen Gesellschaft noch einer Handelsfi rma oder Kolonialgesellschaft, sondern aus eigenem Interesse, wie es ihm sein großbür-gerlicher fi nanzieller Hintergrund erlaubte. Sempers Reisebericht versucht eine möglichst genaue Beschreibung der Palau-Kultur, vor allem des sozialen Clansys-tems und einzelner kultureller Praktiken wie Segeln, Fischen oder Tanzen zu geben.

Zu diesem Zweck wird eine Reihe von Authentifi zierungsstra tegien verwendet, die das Geschilderte als realistisch auszeichnen sollen. Gleich im ersten Absatz des Vor-wortes zu seinen Reise erleb nissen bekundet der Autor: »Ich habe über die auff allen-den Sitten und Gewohnheiten, allen-den Charakter und Culturzustand dieses Volks [...]

getreulich alles mit ge teilt, was ich selbst gesehen und erlebt; was ich von andern erfahren, wurde mit Vorsicht benutzt.«37 Neben dieser für das Genre typischen Autopsiebehauptung verwendet Semper weitere Mittel der Beglaubigung. Das ehr-geizigste und zugleich angreifbarste, ist die szenische Darstellung, in der Einheimi-sche angeblich selbst zu Wort kommen. Dies soll zwar den Eindruck suggerieren, dass der Europäer mit ihnen in einem gleichberechtigten Austausch steht, doch die vereinfachte Grammatik, welche den Palauern in den Mund gelegt wird und ihre Sprache imitieren soll, erweckt zugleich den Anschein einer eingeschränkten Sprachkompetenz und degradiert damit die Einheimischen gegenüber der Sprach-gewandtheit und dem narrativen Arrangement des Europäers.

Zur Beglaubigung führt Semper außerdem eine Reihe von historischen Dokumen-ten an. Zitate aus dem eigenen Tagebuch (S 290 f., 340), ein Artikel Sempers für den

37 Karl Semper, Die Palau-Inseln im Stillen Ozean. Reiseerlebnisse, Leipzig 1873, Vorwort. Diese Aus-gabe wird im Folgenden als ›S‹ mit Seitenzahl in Klammern im Text zitiert.

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur 103 Diaro de Manila (S 41, 47), in dem er die unlauteren Machenschaften des englischen Händlers Andrew Cheynes (1817–1866) off enlegt, dann der Handelsvertrag zwi-schen Cheyne und dem König von Koror, dem südlichen Teil des Palau-Archipels, und nicht zuletzt den Verfassungstext von Palau (S 236–241). Das erklärte Ziel des Berichts ist es, die realen Gründe zu rekonstruieren, welche zur kriegerischen Ausein-andersetzung zwischen Nord- und Südpalau führten, und in Cheyne, der skrupellos Schusswaff en gegen Agrarprodukte eingetauscht habe, den Hauptschuldigen zu be-nennen.

Ein wiederkehrendes Th ema in Sempers Reiseerlebnissen ist die Darstellung der intensiven Kontaktaufnahme zu den Einheimischen mit dem Ziel, kulturelle Dif-ferenzen zu überbrücken. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist die Schilderung des sogenannten Rattentanzes, eines rituellen Tanzes von jungen Männern, der in klaren Mondnächten stattfi nde. Semper selbst wird zu einem solchen Tanz eingela-den:

»Doctor; siehst du, wie schön der Mond scheint? Rasch hin zum Alamau [Tanzplatz], die andern sind schon alle dort.« – Laut schreien die Ausgelassenen in die Nacht hin-ein: »Doctor kommt, Doctor will auch tanzen. Doctor ist so weiß wie der Mond; auf dem Alamau haben wir nun zwei Monde.« [...] Willst Du unsern Rattentanz lernen, Doctor?« Und gleich umringt mich eine Schar von zwanzig, dreißig Buben, sie ziehen mich seitwärts und ordnen sich in zwei langen parallelen Reihen, die Gesichter ein-ander zugekehrt. »Das sind die Ratten von Ngaur. Nun aufgepaßt, Doctor, in die Hände klatschen mußt du und mit uns singen: Tunke, tunke, de la vara. U-je.« [...]

»Doctor tanzt den Rattentanz«, ruft alles gellend über den Platz hin, [...] »Doktor ist eine treffl iche Ratte« [...] – und endlich liegt alles am Boden und mitten unter ihnen Doctor, der sich wälzen möchte vor Lachen! Und weit in das Dorf hinein schallt das Geschrei der ausgelassenen Buben: »Doctor ist eine schöne Ratte geworden, eine schöne große weiße Ratte! Uji!« (S 293 f.)

In diesem Textausschnitt wird die auch ansonsten den Palau-Bericht prägende Mi-schung aus Dialog und Erzählerbericht deutlich. An einer Stelle wechselt die Er-zählerstimme sogar von der ersten in die dritte Person: »unter ihnen Doctor, der sich wälzen möchte vor Lachen!«. Dabei ist die Sprache der Palauer in Wendungen wie »›Doctor kommt, Doctor will auch tanzen‹« durch den fehlenden bestimmten Artikel vor dem Substantiv grammatisch vereinfacht. Obwohl Semper erklärterma-ßen einen gleichberechtigten Austausch mit den Einheimischen herstellen möchte, führt eine solche grammatische Vereinfachung zu einer Abwertung der Palauer. Die Verwendung von eingestreuten palauischen Ausdrücken wie »Alamau« für Tanz-platz oder »Ngaur« als Abkürzung für den Ort Ngarburked soll auf die Sprach-kenntnis des Amateur-Ethnographen hinweisen. Wie bei Gerstäcker wird die Dar-stellung des Tanzes mit einem lyrischen Moment verbunden, hier der Refrain-Text:

»Tunke, tunke, de la vara. U-je«, der interessanterweise nicht übersetzt wird. Der

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Text wird also in seiner Fremdartigkeit belassen und erhält dadurch exotisches Ko-lorit.

So sehr die Szene das situative Zugehörigkeitsgefühl des Europäers zur fremden Kultur zu verdeutli chen sucht, so wenig ist daraus eine gegenseitige Anerkennung ableitbar. Dies gilt für beiden Seiten. Bei den Palauern deuten die Anrede »Doctor«

und Wendungen wie »große weiße Ratte«, die ihnen in den Mund gelegt werden, auf die unaufgelöste Fremdheit und Distanz gegenüber dem Europäer hin. Semper, der Forscher, hebt umgekehrt den ritualisierten Ablauf des Tanzes und die attrakti-ve ›Wildheit‹ der palauischen Männer hervor, die mit dem europäischen Habitus kontrastieren. Noch deutlicher wird die kulturelle Diff erenz, wenn Semper wenige Seiten später im Modus verklärender Erinnerung resümiert: »wahrlich, keine Stun-de reut mich, die ich dort im vollen Glanz Stun-des MonStun-des verspielte, tollend mit Stun-der ausgelassenen Jugend meiner wilden nackten Freunde im Stillen Meer« (S 300).

Statt der wohl beabsichtigten Darstellung einer Egalität zwischen Europäern und Palauern sticht in der Rede »meine wilden nackten Freunde« eher der Gestus der Vereinnahmung ins Auge. Dieser bedient sich exotistischer Topoi von den ›Kindern der Natur‹ bzw. den ›edlen Wilden‹, die ihre Zeit mit Tanzen und Spielen verbräch-ten. Außerdem schwingt in der Zusammenstellung von Mondnacht, Nacktheit und physischer Nähe eine unterdrückte Sexualität mit. Kaum braucht gesagt wer-den, dass die Bedeutung, welche dem Rattentanz innerhalb der kulturellen Prakti-ken zukommt, völlig im Dunkeln bleibt.

Solche in den Text eingestreuten exotistischen Formulierungen sind es auch, die Sempers Reiseerlebnisse in der neueren Forschung das Urteil eines »populären Ro-mantizismus« oder »späten Rousseauismus«38 eingetragen haben. Bemerkenswert ist jedoch, dass dies in der zeitgenössischen Ethnographie nicht sofort zu einer Ableh-nung von Sempers Palau-Bericht geführt hat. So gibt es seitens der Fachwissenschaft etliche anerkennende Stimmen.39 Der Ethnologe Adolf Bastian übernimmt in sei-ner Monographie Inselgruppen in Oceanien40 einen längeren Abschnitt aus Sempers Text, um ein Beispiel für die westmikronesische Gesellschaftsstruktur zu geben.

Einzelnen ethnographischen Ergebnissen wird demnach fachwissenschaftliche Glaubwürdigkeit zuerkannt. Nachteilig für die wissenschaftliche Reputation wirkte sich indessen aus, dass viele von Sempers Beobachtungen schon kurz nach der Ver-öff entlichung des Reiseberichts durch Johann Stanislaus Kubary (1846–1896) kor-rigiert wurden. Kubary war von 1871 bis 1873 als Ethnograph für das Museum Godeff roy auf Palau unterwegs, wo er durch den beständigen Kontakt mit

38 Eberhard Hempel, »Der Beitrag Carl Gottfried Sempers zu Ethnographie und Ethnologie im 19.

Jahrhundert«, in: Berichte und Abhandlungen des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 49 (1996), S. 181–292, hier S. 231 und S. 233.

39 Hempel, »Der Beitrag Carl Gottfried Sempers«, S. 238, führt neben dem Geographen Carl Eduard Meinicke u. a. Adolf Bastian und Friedrich Ratzel als Befürworter Sempers an.

40 Adolf Bastian, Inselgruppen in Oceanien. Reiseerlebnisse und Studien, Berlin 1883. Vgl. dazu Hem-pel, »Der Beitrag Carl Gottfried Sempers«, S. 230.

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur 105 mischen in Südpalau zu diff erenzierteren Ergebnissen als sein Vorgänger gelangte.41 Die Nachrufe, die 1893 in den beiden damals einschlägigen populärwissenschaftli-chen Zeitschriften abgedruckt wurden, sind von einer gewissen Skepsis gegenüber der Zwitterhaftigkeit von Sachlichkeit und Fiktionalität geprägt, wenn es heißt: »in neuester Zeit werden Monographien über einzelne Länder hie und da in einer Form produziert, die sich derjenigen der Novellen und Romane stark annähert«.42 Eine deutlich abwertende Kritik zeichnete sich aber erst nach der Jahrhundertwende ab.

Der Ethnologe Augustin Krämer, der zwischen 1906 und 1910 insgesamt neun Monate auf Palau forschte, distanzierte sich sowohl von Semper als auch von Kuba-ry, weil beide das going native zu weit getrieben hätten. Krämers Kritik markiert zu-gleich die veränderten wissenschaftlichen Kriterien für die Feldforschung um 1900.

Die geforderte Distanz zu den Einheimischen ging bei Krämer soweit, dass er das zeitaufwändige Erlernen lokaler Sprachen mit der Begründung ablehnte, gut ausge-wählte Informanten wären ausreichend für die Ermittlung der Informationen.43

In diesem veränderten Umfeld einer sich professionalisierenden Disziplin wurde Sempers Reiseerlebnissen eine neue Position zugewiesen. So wurde der Text in ge-kürzter Form unter dem Titel Abenteuer eines Naturforschers in der Südsee um 1900 für den Leserkreis der »reiferen Jugend« in zahlreichen Aufl agen vermarktet.44 Eine weitere Ausgabe mit dem werbewirksamen Untertitel Ein Südseeidyll folgte im Ull-stein-Verlag.45 Zugespitzt ließe sich sagen, dass der Reisebericht nach 1900 das an ethnographischer Glaubwürdigkeit verlor, was er an abenteuerlicher Vermarktbar-keit gewann. Der veränderte Rezeptionskontext zeigt zum einen, dass der Text eine nicht-realistische Dimension beinhaltet, die bereits in dem zitierten Topos der »Ro-binsonade« (S 206) angelegt ist. Zum anderen wirft schon die kurze Rezeptionsge-schichte ein Licht auf die variablen Kriterien für das, was zu einer bestimmten Zeit als realistisch wahrgenommen wurde. Während Fachwissenschaftler zunächst of-fenbar keinen Anstoß an dem ›Romanhaften‹, Abenteuerlichen und – wie man

41 Vgl. Hempel, »Der Beitrag Carl Gottfried Sempers«, S. 216 und S. 237 f. Kubary veröff entlichte seine Ergeb nisse ab 1873 im Journal des Museum Godeff roy.

42 Vgl. Petermanns Geographische Mitteilungen 19 (1873), S. 197. Im Globus 64 (1893), S. 19, spricht man von »eine[r] eigentümlich subjektiv gefärbte[n], mit zahlreichen persönlichen Abenteuern vermengte[n] Reiseschil derung [...], in welcher die Eingeborenen, mit denen Semper innig ver-kehrte, selbstredend eingeführt werden.«

43 »Ich bemerke [...] ausdrücklich, daß ich die Methode vieler Gelehrter, selbst die Sprache zu erler-nen und sein eigener Dolmetsch zu sein, für Forschungsreisende als ebenso zeitraubend als unver-lässlich betrachte. Wer nicht bald bemerkt, ob ein Dolmetsch zuverlässig ist oder nicht, ist eben für Forschungen in der Ethnologie ungeeignet.« Augustin Krämer, Ergebnisse der Südsee-Expedition 1908–1910, Bd. 3.1, Palau, Hamburg 1917, S. 116.

44 Der vollständige Titel lautet: Abenteuer eines Naturforschers in der Südsee. Nach Professor Karl Sem-per frei für die reifere Jugend erzählt von B. Schulz, Reutlingen o.J. [um 1900]. Diese Ausgabe erfuhr bis zum Beginn des 2. Weltkriegs mindestens sieben Aufl agen (um 1923, 1927, um 1930, 1934, 1936, 1937 und 1939).

45 Karl Semper, Auf den Palau-Inseln. Ein Südsee-Idyll, Berlin o.J. [um 1925].

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gänzen könnte – am Exotistischen nahmen, wurde zwanzig Jahre später eben daran die mangelnde Glaubwürdigkeit festgemacht. Nach einer generellen Kritik an den wissenschaftlich verwertbaren Resultaten durch Kubary hielten auch die zahlrei-chen Authentifi zierungssignale des Berichts nicht mehr stand, bis der Text schließ-lich ganz ins unterhaltsame Abenteuergenre abgedrängt wurde.

4. Ethnographische Dichte im populären Gewand –