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Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie

2. Landpartien: Ausfl üge in die bürgerliche Vorstellungswelt

»Wozu macht man Partien? Wozu?«, fragt Ezechiel van der Straaten in L’Adultera, um sich selbst die Antwort zu geben: »Nicht um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben«17. Prägnant charakterisiert er damit den Reiz des Kulturmusters

›Landpartie‹, das dem Stadtbewohner die Möglichkeit bietet, sich kurzzeitig vom Einerlei des Alltags frei zu machen, sich in eine andere Sphäre zu begeben und Un-gewohntes zu erleben. Landpartien bilden Vorstöße in einen naturaffi nen Kultur-raum, in dem es neben den Schönheiten der Natur auch historische Sehenswürdig-keiten sowie die Lebensgewohnheiten der ländlichen Bevölkerung zu erkunden gibt. Von grundlegender Bedeutung für die Landpartie ist die Diff erenz von städ-tischem und ländlichem Raum, die als unterschiedliche Lebensformen und

Werte-Bezugnahmen mit fi ktionalen Werte-Bezugnahmen, und macht es so möglich, die fi ktionale Geschichte als eine Erweiterung unseres vorhandenen Wissens zu behandeln.« John R. Searle, »Der logische Status fi ktionaler Rede«, in: Maria E. Reicher (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundla-gen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, S. 21–36, hier S. 34 f.

17 HFA 1.2, S. 59.

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welten zeitgleich nebeneinander koexistieren. Unter dem Eindruck von Moderni-sierungserfahrungen, von Urbanisierung und Industrialisierung, wird der ländliche Raum im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend mit der Sehnsucht nach dem ver-lorenen Einfachen, Natürlichen und Ursprünglichen aufgeladen.18 Landpartien führen den modernen Großstädter also in eine mit kulturellen und sozialen Projek-tionen überzogene Gegensphäre, in einen »Kompensationsraum«,19 der Entlastung von modernen Entfremdungs- und Verlusterfahrungen verspricht und in dem die Rollenzwänge des bürgerlichen Daseins aufgehoben scheinen. Mit der breiten Dar-stellung von Landpartien refl ektieren Fontanes Romane ein kollektives Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft nach einem Ort, der von gesellschaftlichen Zwängen befreit.

In L’Adultera ruft van der Straaten zu einer ethnographisch-kulinarischen Land-partie auf, er gibt die Parole aus, nicht nur die »Sitten und Gewohnheiten anderer Menschen«, sondern auch die »Lokalspenden ihrer Dorf- und Gauschaften«20 zu erkunden. Nichts, so erklärt er, sei ihm mehr verhasst als »Landpartien mit mitge-schlepptem Weinkeller«, denn: »Erstens kränkt man die Leute, bei denen man doch gewissermaßen immer noch zu Gaste geht, und zweitens bleibt man in dem Kreise des Althergebrachten, aus dem man ja gerade heraus will.«21 Der Genuss, den van der Straaten seinen Begleitern ans Herz legt, ist nun aber so außergewöhn-lich nicht, er empfi ehlt »das landesübaußergewöhn-liche Produkt dieser Gegenden, […] eine kühle Blonde«.22 Das verweist auf den limitierten Charakter der durch die Land-partie ermöglichten Alteritätserfahrung: Die LandLand-partie schaff t eine Unterbre-chung des bürgerlichen Alltags, die jedoch ihrerseits ins bürgerliche Dasein inte-griert ist. Schon zeitlich eignet ihr der Charakter einer kleinen Flucht: Man kehrt der urbanen Lebenswelt für kurze Zeit den Rücken, um dann das gewohnte Dasein bruchlos wieder aufzunehmen.

Fontanes Romane arbeiten diese Paradoxie der Landpartie deutlich heraus. Zu-nächst einmal führen die Texte vor Augen, dass die beschriebenen Ausfl üge keine singulären Unternehmungen darstellen, sondern die ausgetretenen Wege des Aus-fl ugstourismus beschreiten, der sich im Schatten Berlins entfaltet hat. Die ange-steuerten Ausfl ugsorte sind nichts weniger als Orte ursprünglicher Natur, sondern tragen als Erholungs- und Unterhaltungsstätten den Bedürfnissen der Städter Rechnung: In Stralow erwartet die Ausfl ügler eine Art Jahrmarkt mit Schieß- und Würfelbuden, an denen »Strippenballons und Gummibälle«23 zu kaufen sind. Bei

18 Ähnlich auch Müller-Seidel: »Was die Großstädte der modernen Industriegesellschaft dem Menschen an Natur vorenthalten, haben Ausfl üge, Landpartien und Sommerfrischen zu ersetzen«, Walter Mül-ler-Seidel, Th eodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 264 f.

19 Götz Großklaus, Natur – Raum. Von der Utopie zur Simulation, München 1993, S. 9.

20 HFA 1.2, S. 59.

21 Ebd.

22 Ebd.

23 HFA 1.2, S. 54.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 83 der Partie zum Halensee ist zunächst der Blick auf den See verdeckt, dafür lässt sich die Geräuschkulisse der nahen Kegelbahn nicht überhören. Pointiert zeigen Fonta-nes Texte die Paradoxien des Nahtourismus auf, der unmöglich macht, worauf er vorgeblich zielt: das Erleben von Natur, von einfachem Dasein und ein Heraustre-ten aus dem gewohnHeraustre-ten bürgerlichen Lebenskreis.

Zwiespältig ist auch das Verhalten der Figuren, die zwar mit dem Reiz des Aben-teuerlichen spielen, dabei aber merken lassen, dass sie sich in festen Gleisen bewe-gen. Das wird schon im Vorfeld deutlich, wenn sich die Beteiligten über unver-zichtbare Bestandteile und Requisiten der Landpartie verständigen: Die Kremser (die für Berlin typischen Kutschen) seien »immer das Eigentliche«,24 eine »Wasser-fahrt ohne Gesang […] ein Unding«25 und »Landpartien«, formuliert Treibel apo-diktisch, »sind immer fröhlich«.26 Fontanes Texte führen Landpartien nicht als au-thentische Praxis vor, sondern als Inszenierungen, die vorgegebenen Rollen und einem feststehenden Handlungsschema folgen, das geschlechtsspezifi sch unter-schiedliche Verhaltensweisen vorsieht. In L’Adultera reisen die Frauen im Wagen, während sich die Männer »›echtheits‹-halber«27 für eine kombinierte Anreise ent-scheiden: Die erste Wegstrecke legen sie in der Droschke zweiter Klasse zurück und zwar in der zweiten Klasse; den Rest gehen sie stilecht zu Fuß. Auch in Frau Jenny Treibel wird der Charakter des Geplanten und Inszenierten betont. Der alte Treibel, darum bemüht, »à tout prix für das ›Landpartieliche‹ zu sorgen«,28 entwirft das

»Programm« für den Aufenthalt am Halensee. Er bestimmt das »Aktionsfeld«, was bedeutet, dass er die »Lokalfrage« klärt und – noch fundamentaler – die »Bierfrage«.29

Die Romane zeigen die Landpartie als ein ins bürgerliche Dasein integriertes Handlungsmuster, das einem planmäßigen Ablauf folgt und stark ritualisiert ist. Ge-sellschaftliche Normen werden hier nicht ernsthaft angetastet, sondern im Höchst-fall spielerisch und kurzzeitig außer Kraft gesetzt.30 Peter Demetz, der Fontanes Landpartien als gesellschaftlich-konventionelle Ereignisse dem festlichen Bankett an die Seite stellte, machte auf die stark schematisierte erzählerische Darbietung auf-merksam, die mehrere charakteristische Erzählphasen aufweist: Obligatorisch sind Planungsphase, Anreise, die eigentliche Landpartie, die ihren Höhepunkt mit einer

24 HFA 1.4, S. 401.

25 HFA 1.2, S. 52.

26 HFA 1.4, S. 402.

27 HFA 1.2, S. 53.

28 HFA 1.2, S. 404.

29 Alle vier Zitate: HFA 1.4, S. 403.

30 In Graf Petöfy spricht die Schauspielerin Phemi auf der gemeinsamen Landpartie davon, dass die Ver-nachlässigung der Standesunterschiede ein »uraltes Sommerfrische- und Badevorrecht« sei – nach der Rückkehr in die Stadt »rückt sich’s leicht wieder zurecht«, HFA 1.1, S. 724.

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zumeist im Freien eingenommenen Mahlzeit fi ndet. Häufi ger kommt noch ein ret-rospektives kommentierendes Gespräch hinzu.31

Fontanes Figuren spielen mit dem Reiz des Eintauchens in eine Gegenkultur, scheinen sich dabei aber bewusst zu sein, dass sie lediglich vorgegebene Rollen rea-lisieren. Die Texte zeigen also die Inszenierung einer Fremdheitserfahrung und stel-len deren illusionären Charakter aus. Entscheidend dafür ist der Perspektivismus der narrativen Darbietung. Kein distanzierter Erzähler berichtet von den Landpar-tien, sondern Landschaft und Raum werden aus der subjektiven Sicht der Figuren konstituiert, so dass der Leser Einblick erhält in deren Vorstellungsmuster und Pro-jektionsmechanismen. Im Spiegel des Figurenbewusstseins wird ersichtlich, wie die Figuren mit dem vorgegebenen Rollenmuster ›Landpartie‹ umgehen.

Wie van der Straaten, so übernimmt auch Treibel die ›Cicerone‹-Rolle32 und präsentiert den anderen die Sehenswürdigkeiten:

[…] sind Sie für Turmbesteigung [fragt er in die Runde] und treibt es Sie, diese Wun-derwelt, in der keines Menschen Auge bisher einen frischen Grashalm entdecken konn-te, treibt es Sie, sag’ ich, dieses von Spargelbeeten und Eisenbahndämmen durchsetzte Wüstenpanorama zu Ihren Füßen ausgebreitet zu sehen?33

Der selbsternannte Reiseführer spielt mit den an die Landpartie geknüpften Vor-stellungen. Er stellt den Ausfl ugsort als »Idyll«34 vor, um ihn dann nachdrücklich zu entidyllisieren. Unmissverständlich weist er darauf hin, dass Halensee kein un-verdorbener Naturraum ist, sondern ein an der Peripherie der Großstadt gelegener Zivilisationsraum.35 Als die Begleiter ihre Enttäuschung aussprechen – der See sei zu klein und in den Schwanenhäusern fehlten die Schwäne –, da hält er dagegen:

»Sie verlangen zu viel. Das ist immer so; wo Schwäne sind, sind keine Schwanen-häuser, und wo Schwanenhäuser sind, sind keine Schwäne. Der Eine hat den Beu-tel, der andre hat das Geld.«36 Deutlicher könnte sich Treibels mangelnde Emp-fänglichkeit für die Natur und seine präfi gurierte Wahrnehmung kaum äußern:

31 »[I]n einem ersten Kapitel beobachtet der Leser jeweils die Vorbereitungen und das Eintreff en der Teil-nehmer; in einer zweiten Phase erfreut man sich, nachdem man eines reizenden Spaziergangs genossen, an einem ländlichen Mahl (zumeist Schlei mit Dill, Fontanes Lieblingsgericht); im dritten Kapitel schickt man sich zur Heimfahrt an und bildet neuerlich kunstvoll geordnete Gesprächsgruppen. Ent-scheidend ist, dass sich Fontane sehr bald gezwungen sieht, diesen drei Erzählelementen noch ein kon-stitutives viertes – das rückblickende Kommentargespräch – hinzuzufügen«, Demetz, Formen des Rea-lismus, S. 141.

32 Van der Straaten wird ein »Ciceroneton« zugeschrieben, HFA 1.2, S. 54.

33 HFA 1.4, S. 402.

34 HFA 1.4, S. 406.

35 In vergleichbarer Weise bietet sich in Cécile den Harzreisenden ein »Landschaftsbild, das durch die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik« (HFA 1.2, S. 145) bestimmt wird.

36 HFA 1.4, S. 405.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 85 Das konkrete Naturerlebnis bietet ihm lediglich Anlass, um feste Vorstellungsmus-ter abzurufen. Natur ist für ihn, den Industriellen, kein Bereich authentischer Er-fahrung, sondern ein Projektionsfeld, auf das er gesellschaftlich-ökonomische Mechanismen überträgt. Damit ist die Landpartie als Ausfl ug in einen anderen Er-fahrungsraum diskreditiert. Der Befund lässt sich für Fontanes Romane verallge-meinern: Sie zeigen Natur als einen Projektionsraum, nicht jedoch als eine eigen-wertige Gegensphäre, die der Restitution des entfremdeten Individuums dienen könnte. Dem entspricht ein weitgehendes Fehlen von Naturschilderungen.

Fontanes Figuren lassen sich nicht auf den bereisten Erfahrungsraum ein, son-dern unterziehen ihn einer ironischen Umdeutung, indem sie ihn mit mythologi-schen Folien und Vorstellungen des Mondänen überlagern: Die blonde Wirtin wird zur »Th usnelda« und Spree-Venus erklärt,37 die im Dunst liegende Schloss-kuppel von Berlin wird mit Santa Maria della Salute in Venedig assoziiert und der Nachmittag in Halensee gar einem vierwöchigen Aufenthalt in Capri verglichen.38 Diese Technik der Überblendung stellt die Authentizität des Figurenerlebens in Frage und betont die Subjektivität der Raumwahrnehmung. Wo van der Straaten Löbbekes Kaff ehaus großspurig als »Ship-Hotel von Stralow«39 präsentiert, vermit-telt der Text das Bild einer dürftigen Gartenwirtschaft mit einigen »verschnittenen Lindenbäumen« und einem Dutzend eng gestellter Tische.40 Die fi gurenperspek-tivisch gebundene, projektive Raumwahrnehmung unterminiert den scheinbar mi-metischen Charakter der Ortsbeschreibungen.

Fontanes Romane schildern nicht allein die kulturelle Praxis der Landpartie, sondern unterziehen sie der kulturdiagnostischen Durchleuchtung. Sie enthüllen die bürgerliche Unfähigkeit zu authentischem Erleben und die Fixierung auf präfi -gurierte Vorstellungsmuster. Fontanes Landpartien werden damit zu Ausfl ügen in die bürgerliche Vorstellungswelt. Bezeichnenderweise wartet die Offi ziersmätresse Isabeau in Irrungen, Wirrungen mit ihrer eigenen, milieuspezifi schen Defi nition auf: »Was heißt Landpartie?« fragt sie und liefert selbst die Antwort: »Landpartie heißt frühstücken und ein Jeu machen. Hab’ ich recht?«41

37 HFA 1.2, S. 63.

38 Vgl. HFA 1.4, S. 401. Ähnlich ruft Effi Briest im Anblick der Rügener Bucht aus: »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent«, HFA 1.4, S. 209.

39 HFA 1.2, S. 145.

40 Im Erzählerbericht ist überdies ironisch verniedlichend von einem »bräunlich[en] und appetitlich[en]«

»Pfeff erkuchenhaus« die Rede, HFA 1.2, S. 54.

41 HFA 1.2, S. 392.

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