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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

2 Digitale Nachlässe als persönliche Archive – Grundlagen für die Langzeitarchivierung

2.4 Persönliche Archive und digitale Langzeitarchivierung

2.4.2 Zur Langzeitarchivierung digitaler Objekte

Welche Folgen hat das nun für die Langzeitarchivierung digitaler Nachlässe? Für alle digitalen Objekte gilt, dass es für deren Archivierung nicht mehr ausreicht, den Informationsträger zu archivieren bzw. zu konservieren, wie es in der analo-gen Welt etwa bei Papyri, Codizes oder Druckwerken der Fall ist. Unabhängig von der Provenienz des Objekts haben Archive und Bibliotheken jetzt mit mehre-ren immateriellen und materiellen Instanzen zu tun:

 dem digitalen Objekt in Form des Bitstreams (immateriell),

 dem Trägermedium (materiell), das entweder lokal oder online zu verorten ist

 dem Lesegerät (materiell),

 dem Betriebssystem (immateriell),

 dem Treiber (immateriell),

 der Anwendungs-Software / Datenformate (immateriell),

 und zudem mit weiterer Hardware, etwa den Ausgabegeräten (materiell).

Das Zusammenspiel dieser Instanzen bei der Rekonstruktion eines digitalen Do-kuments revolutioniert die Anforderungen an die Gedächtnisorganisationen, denn

83 Zum Problem der Webarchivierung aus der Sicht von Bibliotheken vgl. Burrows 2006, S. 86f.

jede einzelne Instanz ist durch physischen Zerfall (Degradation) oder Obsoleszenz bedroht. So können die sich derzeit in Gebrauch befindlichen Datenträger nach wenigen Jahren aufgrund chemischer und physikalischer Zerfallsprozesse degra-dieren und nicht mehr lesbar sein.84 Eine ebenso große Gefahr stellt der Technolo-giewandel dar, ein Phänomen, das mit dem Fachterminus Obsoleszenz bezeichnet wird. Lesegeräte und die dazugehörigen Treiber, aber auch Dateiformate und Softwareprodukte werden oftmals schon nach wenigen Jahren nicht mehr herge-stellt und verbreitet, was einen Mangel an noch funktionsfähigen Geräten oder Ersatzteilen nach sich zieht. Bei proprietären Formaten ist die Kompatibilität zu späteren Versionen oder vergleichbaren Anwendungen oft nicht gegeben. Herstel-ler neigen zudem dazu, Obsoleszenz bewusst herbeizuführen, um den Umstieg auch neue Produkte zu erzwingen.

Um physischem Zerfall und Obsoleszenz entgegenzutreten wurden Erhaltungs- und Rekonstruktions-Strategien entwickelt, die gut dokumentiert und in vielen Bereichen bereits erfolgreich im Einsatz sind. Sie sollen daher an dieser Stelle nur kurz vorgestellt werden:85

 Bitstream preservation: die bereits weiter oben beschriebene Sicherung der binären Daten, meist in Form eines Disk-Images.

 Digitale Forensik / Datenarchäologie: Methoden, zur Wiederherstellung und Extraktion von Informationen auf zerstörten Datenträgern

 Migration: Die Überführung von Daten in offene und standarisierte Datenfor-mate oder auf einen anderen Datenträger, um den Zugriff auf sie dauerhaft zu gewährleisten. Hierbei ist Datenmigration (Migration in ein geeignetes For-mat, z.B. XML) von Datenträgermigration86 zu unterscheiden.

 Emulation: Die softwarebasierte Nachbildung der Funktionalität obsoleter Computersysteme auf aktueller Computer-Hardware mit dem Ziel, ein digita-les Objekt in seinem Entstehungskontext darzustellen.

84 Die Haltbarkeit digitaler Speichermedien liegt zwischen 5 Jahren (Festplatte) und 50 Jahren (CD-ROM, DVD, BD, Magnetband). Dazwischen liegen mit eine Lebensdauer von 10-30 Jah-ren selbst gebrannte CDs und DVDs. Vgl. Neuroth u. a. 2010, S. 10:17.

85 Vgl. Neuroth u. a. 2009, S. 8:1ff. Zur Digitalen Forensik vgl. Kirschenbaum 2008. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat für seine digitalen Bestände bereits Verfahren entwickelt, die mehrere dieser Methoden anwenden. Vgl. Kramski, von Bülow 2011, S. 147ff.

86 Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zu unterscheiden sind Refreshment (Migration auf einen gleichartigen Datenträger), Replication (Migration auf einen technologisch aktuelleren Datenträger und eine neue Speicherinfrastruktur), Repackaging (Strukturänderung des zu archi-vierenden Objekts, keine inhaltliche Änderung), Transformation (Inhalte des zu archiarchi-vierenden Objekts werden verändert). Vgl. Neuroth u. a. 2009, S. 8:5f.

 Computermuseen: Archivierung und Instandhaltung veralteter Hardware, um den Lesezugriff auf obsolete Objekte zu gewährleisten

 Mikrofiche: Während Mikrofiche lange Zeit vor allem zur Schutz- oder Er-satzverfilmung von analogen Dokumenten eingesetzt wurden, existieren mitt-lerweile ausgereifte Verfahrung zur Archivierung digitaler Informationen auf Mikrofilm. Ein großer Vorteil der Verfilmung ist die Langlebigkeit des Trä-germaterials von bis zu 500 Jahren.87

Idealerweise werden diese Methoden in einem digitalen Langzeitspeicher ange-wendet. Als Referenzmodell für ein solches System hat sich in den vergangenen Jahren OAIS (Open Archival Information System) in Archiven und Bibliotheke durchgesetzt.88 Es beschreibt Strukturen und Prozesse, die es ermöglichen, die von einer Gedächtnisorganisation übernommenen digitalen Objekte (SIP = Submission Information Package) in langzeitstabile Archivobjekte (AIP = Archives Informati-on Package) umzuwandeln. Diese können dann unter Einhaltung rechtlicher Ein-schränkungen als DIP (Dissemination Information Packages) zur Nutzung freige-geben werden. Das Referenzmodell sieht zudem die Vergabe von Metadaten für jedes einzelne Informationspaket vor, die unter anderem das Archivobjekt und seinen Kontext beschreiben, seine Archivierungshistorie aufzeichnen und seine eindeutige Identifizierung ermöglichen. OAIS gliedert die Aufgaben eines digita-len Archivs in sechs Funktionsbereiche:

1. Ingest (Übergabe oder Transfer, Analyse, Sicherung und Erschließung der di-gitalen Objekte; SIP  AIP)

2. Archival Storage (Organisation / Aufbau der Langzeitarchivierung, AIP) 3. Data Management (Wartung und Aufbereitung von Metadaten, AIP)

4. Systemverwaltung (Betrieb und Wartung des gesamten Archivsystems, AIP) 5. Preservation Planning (Planung und Verbesserung der Langzeitarchivierung) 6. Access (Bereitstellung zur Benutzung; AIPDIP)

Aus dem Datenmodell und den Aufgaben der Funktionsbereichen lässt sich able-sen, dass OAIS ein ideales Archiv für die kustodiale Phase im Lebenszyklus eines digitalen Objekts beschreibt, also für die Zeitpanne nach seiner Übernahme vom Bestandsbildner. Zusammen mit den weiter oben genannten Erhaltungs-Strategien

87 Vgl. Neuroth u. a. 2010, S.10:17.

88 Der folgende Abschnitt folgt Neuroth u. a. 2009, S. 4:1ff. In Bezug auf die Erhaltungs-Strategien ist zu bemerken, dass OAIS die Migration favorisiert; doch ist das Modell offen für den Einsatz auch anderer Strategien. Vgl. Brübach 2003, S. 7f; Neuroth u. a. 2009, S. 4:12.

bildet es ein Set, aus dem Gedächtnisorganisationen eine Langzeitarchivierungs-Strategie für die kustodiale Phase entwickeln können.

2.4.3 Besonderheiten bei der Langzeitarchivierung digitaler Nachlässe