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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

5 Modelle und Maßnahmen der präkustodialen Intervention

Will man die präkustodiale Intervention in den Geschäftsgang integrieren, dann ergeben sich für Literaturarchive konkrete Problemstellungen. Es liegt auf der Hand, dass der Eingriff in persönliche Archive der Einwilligung und Mitarbeit des Bestandsbildners bedarf. Seine Bereitschaft zu einer dauerhaften Kooperation mit einem Literaturarchiv entscheidet über den Erfolg einer präkustodialen Strategie.

Ein Literaturarchiv muss also Wege finden, Schriftsteller zur Zusammenarbeit zu motivieren und diese Zusammenarbeit fallweise über lange Zeiträume aufrecht zu erhalten. Weiterhin muss es Arbeitsabläufe für die präkustodiale Intervention ent-wickeln und die Zusammenarbeit mit dem Bestandsbildner möglichst effektiv organisieren. Wie kann es diese Probleme lösen? Und vor allem: Welche Maß-nahmen soll es durchführen? Kapitel 5 skizziert mögliche Antworten. Um auf die Antworten hinzuführen, wird zunächst ein Lebenszyklusmodell für digitale Nach-lässe aus schon bestehenden Modellen abgeleitet. In einem zweiten Schritt wird das zyklische Denken hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf die präkustodiale Phase kritisiert und durch ein Records Continuum ersetzt. Mit diesem Vorgehen soll gezeigt werden, dass der Rückgriff auf das Records Continuum zu einem bes-seren Verständnis der präkustodialen Phase führt. Abschließend werden konkrete Maßnahmen der präkustodialen Intervention aus der Literatur abgeleitet, weiter-entwickelt und in das Kontinuum der präkustodialen Phase eingeordnet.

5.1 Organisationsmodelle – Lebenszyklen und Workflows

Welche neuen Aufgaben stellen sich den Literaturarchiven durch die ansteigende Zahl digitaler Objekte in digitalen Nachlässen? Beantwortet wurde diese Frage bisher ganz allgemein mit der Ausweitung des Aufgabenspektrums auf präkusto-diale Formen der Bestandspflege, die unter dem Oberbegriff präkustopräkusto-diale Inter-vention zusammengefasst wurden. Diese Antwort soll im folgenden Abschnitt anhand eines Organisationsmodells für die Pflege und Archivierung persönlicher Archive präzisiert werden. Dieses Modell soll zeigen, welche Interventionsoptio-nen für Literaturarchive bestehen, wobei zunächst von zeitlich aufeinanderfolgen-den Phasen oder Aufgaben ausgegangen wird.

Unter den bereits vorliegenden Organisationsmodellen für die Bearbeitung digita-ler Objekte befinden sich einige, die auch die präkustodiale Phase integrieren. Es ist also möglich, bereits vorhandene Modelle aufzunehmen und weiterzuentwi-ckeln. Allerdings muss dabei Ungleiches zueinander in Bezug gesetzt werden –

nämlich tatsächliche Lebenszyklusmodelle mit workflowartigen Konstruktionen.

Dieser Vergleich lässt sich mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen rechtferti-gen. Lebenszyklen und Workflows dienen der Beschreibung von Abläufen auf zwei Ebenen.470 Ein Lebenszyklus bezieht sich auf ein bestimmtes Objekt, z.B.

ein Dokument oder ein Produkt und unterteilt die Zeitspanne seines „Lebens“ in Phasen. Jeder Phase werden dann bestimmte Aufgaben zugeordnet, die das opti-male Management des Objektes ermöglichen sollen, wobei auch phasenübergrei-fende Aufgabenstellungen vorkommen. Ein Workflow stellt hingegen die konkrete prozessorientierte Ausarbeitung dar, mit der diese Aufgaben gelöst werden. An-ders gesagt: Lebenszyklen zentrieren sich um ein Objekt; Workflows um den Pro-zess zur Bearbeitung des Objekts. Auf digitale Nachlässe übertragen bedeutet das:

Der Lebenszyklus eines digitalen Nachlass-Objekts beschreibt Phasen von seiner Erstellung bis zu seiner endgültigen Archivierung und Benutzung in einem Archiv oder einer Bibliothek. Der Workflow hingegen definiert konkrete Arbeitsabläufe, die Mitarbeiter dieser Institutionen durchführen, um die Langzeitarchivierung und die dauerhafte Benutzung digitaler Objekte sicherzustellen. Trotz dieses grundle-genden Unterschiedes sind beide Ansätze miteinander vergleichbar, da im Rah-men von Lebenszyklen Lösungsmöglichkeiten eingeführt werden, die im Work-flow ausgearbeitet vorliegen. Die Übergänge sind oftmals fließend und zwar dahingehend, dass einem Workflow implizit oder in manchen Fällen sogar explizit ein Lebenszyklus zugrunde liegt. Zum Zwecke des Vergleichs lässt sich der Le-benszyklus aus dem Workflow ableiten. In diesem Sinne werden im folgenden Abschnitt vier Modelle vorgestellt, von denen lediglich zwei (DCC und Paradigm) als Lebenszyklen bezeichnet werden können. Die anderen Modelle bieten Misch-formen, wobei der Lebenszyklus von OAIS ein Teilaspekt des Funktionsmodells ist und das Stufenmodell von Digital Lives sich zwischen Lebenszyklus und Workflow bewegt. Außerdem enthalten alle Modelle bis zu einem gewissen Grade auch phasenübergreifende und damit kontinuierliche Aspekte.

5.1.1 Der Paket-Lebenszyklus von OAIS

Bereits in Abschnitt 2.4 wurde auf das Lebenszyklusmodell von OAIS hingewie-sen, mit dem die Bearbeitung digitaler Objekte (nach OAIS Archiv-Pakete) durch die Funktionseinheiten des Archivs abgebildet wird. Dabei wurde kritisiert, dass dieser Lebenszyklus erst mit dem Ingest eines digitalen Objektes in das Ar-chivsystem beginne und somit im Hinblick auf digitale Nachlässe

470 Die nachfolgend vorgetragene Sichtweise von Lebenszyklus und Workflow bezieht sich auf Archiv-Objekte. Vom Verfasser wird daher auch eine archiv- bzw. bibliothekswissenschaftliche Sichtweise eingenommen, die nicht auf ökonomische Modelle (z.B. Produktlebenszyklen) oder Modelle der Informatik (z.B. Software-Lebenszyklen) übertragbar ist.

dürftig sei. Zur Erinnerung seien die einzelnen Phasen im Lebenszyklus eines Informations-Pakets nach OAIS hier noch einmal aufgeführt (Abbildung 5-1):

Abbildung 5-1: Das Funktionsmodell nach OAIS471

1. Aufnahme in das Archiv als unbearbeitetes digitales Objekt (SIP) 2. Umwandlung in langzeitstabile Archivpakete, Erschließung (Ingest;

SIPAIP)

3. Archivierung und Daten Management ( Archival Storage and Data Manage-ment; AIP)

4. Benutzung (AIP  DIP)

Zu beachten ist weiterhin, dass OAIS mit den Funktionseinheiten Planung (Pre-servation Planning) und Verwaltung (Administration) übergreifende Aufgaben definiert, die die Archivierung der Objekte begleiten.

Möchte man die Anschlussfähigkeit von OAIS an präkustodiale Prozesse bewer-ten, lohnt sich ein Blick auf die als Datentransformation (Data Transformation) bezeichnete Funktionseinheit. Mit Data Transformation bezeichnet OAIS alle

471 Vgl. Consultative Committee for Space Data Systems 2012, S. 4-1.

Migrationsschritte, die das digitale Objekt durchläuft, also die Konversion in an-dere Formate und die damit verbundenen Änderungen des Objektinhalts und der Metadaten. Die Transformation der Daten findet bei der Umwandlung der Packa-ges statt (digitales ObjektSIP AIPDIP), aber immer auch dann, wenn ein AIP aufgrund neuer Standards erneuert werden muss.472 Noch vor dem Ingest di-gitaler Objekte in das Archivsystem sollen diese schon in ein SIP umgewandelt werden, da die Daten zuvor in jedem beliebigen vom Produzenten bevorzugten Format vorliegen können.473 Um das zu gewährleisten, sind die Ausgangs-Daten im Rahmen eines „Submission Agreements“ vom Produzenten genau zu beschrei-ben und in einem vereinbarten Format und mit Metadaten versehen als SIP abzu-geben.474 Die Transformation der digitalen Objekte aus dem ursprünglichen Zu-stand in ein SIP ist also Aufgabe des BeZu-standsbildners; eine Unterstützung durch die Mitarbeiter des Archivs ist nicht vorgesehen. Dass OAIS ziemlich lapidar über diesen Punkt hinweggeht, ist verständlich, denn es wurde als Referenzmodell für Archiv-Informations-Systeme entwickelt und fokussiert als solches die Langzeit-archivierung eines Objektes ab dem Ingest in ein Archiv. Für die Modellierung der präkustodialen Phase sowie der präkustodialen Intervention müssen daher andere Modelle herangezogen werden.

5.1.2 Der DCC Curation Lifecycle

Einen Versuch einer solchen Beschreibung enthält der DCC Curation Lifecycle.

DCC ist das Akronym für Digital Curation Centre. Die britische Einrichtung mit Sitz in Edinburgh versteht sich als Kompetenzzentrum für die Langzeitarchivie-rung von Forschungsdaten und wird von mehreren britischen Hochschulen und Hochschuleinrichtungen getragen.475

In der Einleitung wurde bereits auf die im angelsächsischen Raum sich immer mehr durchsetzende Unterscheidung zwischen „Digital Curation“476 und „Digital Preservation“ hingewiesen, die sich im deutschen Sprachraum nur zögernd durch-setzt. DCC setzt den Schwerpunkt auf die „Digital Curation“ und geht damit über die technikzentrierten Aufgabenbeschreibungen von OAIS hinaus, die bei DCC nur ein Bestandteil des Modells sind. Deutlich wird das an der Unterscheidung zwischen den Tätigkeiten „preserve“ – im Sinne der eigentlichen

472 Vgl. Consultative Committee for Space Data Systems 2012, S. 4-50ff.

473 Vgl. Consultative Committee for Space Data Systems 2012, S. 4-51.

474 Vgl. Consultative Committee for Space Data Systems 2012, S-51f.

475 Vgl. Digital Curation Centre (DCC) 2004-2013.

476 Zum Begriff „Digital Curation“ vgl. Neuroth u. a. 2009, S. 15:7.