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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

4 Länderspezifische Faktoren als Einflussgrößen der präkustodialen Intervention

4.2 Literaturarchive und Special Collections – Entwicklung und Strukturen Strukturen

4.2.3 Literaturarchive und Special Collections – ein Vergleich

4.2.3.1 Der Vorlasshandel

Die Frage der Interaktion zwischen Schriftsteller und Literaturarchiv ist zunächst eine Frage der Erwerbungs-Strategie. Hierbei geht es um die Entscheidung, ob man ausschließlich Nachlässe erwirbt oder ob man Schriftsteller gezielt um die sukzessive Überlassung von Manuskripten in Form von Vorlässen bittet.433 Man könnte in diesem Zusammenhang von einer retrospektiven (Nachlässe) und einer prospektiven (Vorlässen) Strategie sprechen. Es ist anzunehmen, dass Institutio-nen, die eine prospektive Strategie verfolgen, schneller mit aktuellen technologi-schen Entwicklungen in Berührung kommen. In Hinblick auf die digitalen Medien bedeutet das: Nachlasskuratoren werden durch den Kontakt mit Schriftstellern frühzeitig auf digitale Nachlässe aufmerksam und müssen sich demzufolge auch mit Fragen der Langzeitarchivierung auseinandersetzen. Welche Hinweise erge-ben sich diesbezüglich aus dem Vergleich länderspezifischer Erwerbungs-Strategien?

Wie bereits erwähnt, befanden sich die US-amerikanischen Research Libraries beim Aufbau ihrer Special Collections in einem Wettbewerb. Diese Konstellation reichte über nationale Grenzen hinweg, da man die gesamte englischsprachige Literatur sammelte und demzufolge auch die Bibliotheken Großbritanniens, Ka-nadas und Australiens in den Wettbewerb um literarische Manuskripte hineinge-zogen wurden.434

Infolge dieser Situation stiegen die Preise insbesondere für englischsprachige Nachlässe um ein Vielfaches an. Beim Versuch, dieser Preisspirale zu entgehen, wurden prospektive Erwerbungs-Strategien eingesetzt. Special Collection Librari-ans akquirierten Manuskripte und andere nichtpublizierte Materialien nunmehr auch direkt vom Autor. So hoffte man, den Autographenmarkt wenigstens teilwei-se zu umgehen. Zudem wurden auf dieteilwei-sem Wege langwierige Erwerbungsver-handlungen mit Erben vermieden.

433 Die zweite Variante ist nur für Literaturarchive praktikabel, die Nachlässe zeitgenössischer Schriftsteller sammeln. Erwerbungs-Strategien, die sich auf eine bestimmte abgeschlossene Epoche beziehen, wie etwa die Klassik im Falle des Goethe- und Schiller-Archivs, können kei-ne prospektive Strategie beinhalten. Die Argumentation bezieht sich daher nur auf Institutio-nen, die auch zeitgenössische Schriftsteller in nennenswertem Umfange sammeln.

434 In bescheidenerem Maße fand dieser Wettbewerb auch mit nicht-englischsprachigen Ländern statt, da Research Libraries, wie etwa die Beineke Rare Book ans Manuscript Library, auch Sammlungen zur Germanistik etc. aufbauten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Prospektive Elemente trugen schon von Anfang an zum Aufbau von Manuskript-sammlungen zeitgenössischer Autoren bei. So erwarb Charles Abbott Materialien für die Lockwood Library, indem er gezielt langfristige Beziehungen zu lebenden Autoren aufbaute.435 Konsequent wurde der prospektive Ansatz seit 1964 durch William Matheson an der Washington University Library in St. Louis, Missouri, weiterentwickelt. Charakteristisch für das dort durchgeführte Erwerbungspro-gramm war, dass ausschließlich Schriftsteller zum Sammelprofil gehörten, die noch nicht verstorben waren, und dass der Autographenhandel sowie Erben als Erwerbungsquellen konsequent ausgeschlossen wurden. Um dem vor Ort beste-henden Forschungsprofil Rechnung zu tragen, bezog Matheson zudem Lehrkräfte mit ein, die zur Universität gehörten. Sie sollten Autoren vorschlagen, „who were

1. to some degree neglected or underestimated, and/or 2. on the threshold of greater recognition, and

3. not to their knowledge already extensively committed to another library”436. Durch diesen Prozess konnten sich die Nachlasskuratoren beim Aufbau der Sammlung auf Autoren konzentrieren, deren Manuskripte zu vertretbaren Preisen verfügbar waren. Sie erwarben die Dokumente somit direkt aus den persönlichen Archiven der Schriftsteller – als Vorlass. Statt des Autographenmarktes sollte ein langfristiger Kontakt mit dem Autor selbst in den Mittelpunkt der kuratorischen Arbeit treten.

Das von der Washington University Library verfolgte Programm markiert eine Extremposition, die jedoch nicht lange zu halten war. Die Autoren entdeckten den Marktwert ihrer eigenhändigen Aufzeichnungen und auch bei der Anwendung prospektiver Erwerbungs-Strategien schnellten die Kosten in die Höhe. Langfris-tige Bindungen konnten aufgrund der geforderten Verkaufssummen nicht immer aufrecht gehalten werden.437 Stattdessen traten die Autoren nunmehr selbst als Marktakteure auf oder beauftragen Händler und Auktionäre mit dem Verkauf von Materialien aus ihrem persönlichen Archiv. Diese Praxis hat sich inzwischen so weit durchgesetzt, dass sogar nicht-kommerzielle Autoren sie als Einkommens-quelle nutzen.438

435 Vgl. Rota 1986, S. 41f.

436 Matheson 1971, S. 1151.

437 Vgl. Matheson 1971, S. 1153f.

438 „The business of selling materials to institutional collections is one in which even the most noncommercial writers engage.” (Rifkin 2001, S. 126.).

Der Handel mit Vorlässen ist mittlerweile zu einem vielfrequentierten Kanal der Bestandsentwicklung von Special Collections geworden, die zeitgenössische Lite-ratur sammeln. Als prospektive Strategie fördert er, auch bei der Vermittlung durch Agenten, die Interaktion zwischen Autor und Bibliothek und mündet in nicht wenigen Fällen in eine langjährige Zusammenarbeit.439 Nach Thomas F.

Staley, dem früheren Direktor des Harry Ransom Centers, unterstützt und fördert der Wechsel zu prospektiven Erwerbungs-Strategien auch die Rezeption zeitge-nössischer Literatur:

At one time it was easy to ignore the importance of the research library in the development of the study of recent literature, with the acquisition of au-thors' literary archives – usually acquired from descendants many years after an author's death when his or her reputation was more or less fixed – a mere ratification of the then current established literary values. For the past half-century, however, research libraries have been active agents, betting as it were on less solid reputations and in the process frequently solidifying or enhancing them. In fact, during the 1970s libraries were often, as a matter of course, out in front of critical reputations.440

So erarbeiteten sich Special Libraries seit den 1960er Jahren den Ruf, zeitgenössi-sche literarizeitgenössi-sche Strömungen frühzeitig zu erkennen und in ihren Erwerbungspro-filen abzubilden.

Prospektive Erwerbungs-Strategien beeinflussten auch die NMCCW in Großbri-tannien. Hier orientierte man sich eng an den Entwicklungen in Nordamerika, die man mangels Alternative als Vorbild verstand. Zeitweise ging man sogar so weit, die Erwerbung von Nachlässen über den Handel nicht mehr zu fördern und statt-dessen nur die Akquise bei lebenden Schriftstellern vorzusehen.441 Zusammenfas-send kann man sagen, dass spätestens seit den 1930er Jahren die Erwerbungs-Strategien in den englischsprachigen Ländern – neben den üblichen Kontakten zu Erben, Autographenhändlern442 und Auktionshäusern – die aktive Einwerbung von Vorlässen vorsahen. Seit den 1960er Jahren verstärkte sich diese Tendenz.

439 Vgl. Rifkin 2001, S. 126ff. Rifkin zeigt an drei Beispielen, wie sich seit Beginn der 1960er Jahre der Vorlasshandel entwickelte. Zudem analysiert sie den Einfluss von Erwerbungsprofi-len und langjährigen Partnerschaften auf die Literaturproduktion.

440 Staley 1990, S.10.

441 Vgl. Andrews 2010, S. 15.

442 Seit den 1970er Jahren verdrängten in den USA Auktionshäuser zunehmend die Autographen-händler. Vgl. hierzu Rendell 2001, S. 17f.

Das hatte einen bedeutsamen Nebeneffekt: Obwohl damals noch nicht die Lang-zeitarchivierung digitaler Materialien auf der Agenda der Nachlasskuratoren stand, etablierten sich Prozesse, die schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Le-benszyklus des persönlichen Archivs eine Interaktion zwischen Bestandsbildner und Nachlasskurator forcierten.443

In Deutschland hielt man hingegen länger an retrospektiven Erwerbungs-Strategien fest. Zwar bestanden auch hier schon immer Kontakte zu lebenden Schriftstellern, so etwa in Marbach, wo schon ein Jahr vor Einweihung des Schil-lermuseums der Kontakt zu Wilhelm Raabe hergestellt wurde.444 Allerdings be-schränkten sich die Aktivitäten auf Kontakte mit bereits namhaften Autoren, mit dem Ziel, Manuskripte zu akquirieren und – bei Erfolg – Materialsichtungen vor-zunehmen. In einem 1981 gehaltenen Vortrag erwähnte der Marbacher Direktor Bernhard Zeller die Zusammenarbeit mit Autoren nur am Rande. Die Akquise erfolgte, daran lassen seine Ausführungen keinen Zweifel, zu dieser Zeit überwie-gend über testamentarische Verfügungen oder über Erben oder Zwischenhänd-ler.445 Diese Beobachtung bestätigt Ulrich Ott mit der Bemerkung, dass „von etwa 1980 an [...] die Autoren selbst, noch zu ihren Lebzeiten, zu disponieren“446 be-gannen. Der Handel mit Vorlässen kam besonders nach der Vereinigung 1990 in Gang. Seitdem erst ist eine Erweiterung der Erwerbungspolitik in Richtung Vor-lasserwerb zu beobachten, der nun auch hierzulande eine Erwerbsquelle für pro-minente Schriftsteller darstellt.447 Verstärkt veräußern nun lebende deutsche Auto-ren ihre Aufzeichnungen in Form von Vorlässen.448 In besonderen Fällen kann ein sukzessiver Erwerb sogar zu einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Schriftsteller und Nachlasskurator führen. Dann hat der Kurator Gelegenheit ord-nend und steuernd in die Arbeitsprozesse einzugreifen, wie Meyer berichtet: „Im

443 Es ist auch denkbar, dass Alumni-Organisationen den Vorlasserwerb unterstützen. So könnten zumindest in den USA durch die dort vorherrschende starke Bindung der Absolventen an ihre Alma Mater entsprechende Kontakte durch Special Collection geknüpft werden. Allerdings fanden sich hierfür in der Literatur keine Belege.

444 Vgl. Ott, Pfäfflin 1996, S. 32ff.

445 Vgl. Zeller 1981, S. 16ff.

446 Ott 1999, S. 39.

447 Vgl. Ott 1999, S. 39f. Ott weist im selben Artikel noch auf die Aufarbeitung der Kriegs- und Teilungsschäden nach 1945 und die darauf folgende Modernisierung des Bibliothekswesens hin. Seiner Auffassung nach verzögerte sich dadurch die Beschäftigung mit modernen Dichter-handschriften. Siehe hierzu S. 40.

448 Besondere Aufmerksamkeit fand Peter Rühmkorff, der den Verkauf eigener Aufzeichnungen an Literaturarchive als Erwerbungsquelle etablierte. Vgl. zum Thema Vorlässe in Deutschland auch Lahme 30.06.2007.

glücklichsten Fall mag sich so etwas wie symbiotische Teilhabe des Literaturar-chivars an der vom Autor mit seinen aufgehäuften Manuskripten, Korresponden-zen und Dokumenten präsentierten und stilisierten Lebens- und Werkentelechie ergeben.“449 Auch wenn die Erwerbungsbemühungen in der Regel nicht so weit gehen, wird heute eine permanente Kontaktpflege zum Autor von Seiten der deut-schen Literaturarchive als wichtig angesehen.450 Allerdings führte dies nicht zur Entwicklung prospektiver Erwerbungs-Strategien, die gezielt Autoren ansprechen und langfristige Partnerschaften anstreben, um sukzessive Vorlässe in den Bestand eines Literaturarchivs zu überführen.451 Noch 2014 musste Becker eine proaktive-re Vorgehensweise der Literaturarchive einfordern, um die dauerhafte Verfügbar-keit digitaler Objekte sicherzustellen.452 Mögliche Ursache für die nur wenig aus-geprägte Bereitschaft, bei der Bestandsakquise prospektiv vorzugehen, ist das Subsidiaritätsprinzip sowie die gut funktionierende Koordination und Kooperation der Literaturarchive untereinander. Deren Aktionsräume sind zudem durch Pla-nungspapiere wie dem Bibliotheksplan 73 und Bibliotheken 93 sowie durch die historisch gewachsenen und in den Konstitutionen der großen Institute fixierten Sammelprofile determiniert, was den Wettbewerb eindämmt. Da die Literaturar-chive öffentlich gefördert werden, besteht ein impliziter Wettbewerbsvorbehalt, der Absprachen bei Erwerbungsvorhaben zur Regel macht.453 Einen weiteren Schritt zur nationalen und internationalen Kooperation machten die Literaturar-chive 1996 zunächst in Österreich mit der Gründung des Literaturarchiv-Netzwerks KOOP-LITERA. 2008 folgten dann mit KOOP-LITERA Deutschland und KOOP-LITERA Schweiz Gründungen in den Nachbarländern, die sich im Jahr darauf mit den Österreichern zu KOOP-LITERA international zusammen-schlossen. Aufgabe der Netzwerke ist auf nationaler Ebene „die Professionalisie-rung des Arbeitsfeldes durch Koordination, wozu auch die Zusammenarbeit und Absprachen, z.B. bei der Erwerbung von Beständen“454 gehört.

Ein Vergleich der Erwerbungs-Strategien erhärtet die eingangs geäußerte Vermu-tung: Prospektive Strategien werden in den englischsprachigen Ländern offen-sichtlich häufiger beim Bestandsaufbau eingesetzt als in den Deutschland. So

449 Vgl. Meyer 2002, S.55 ff. Meyer beschreibt am Beispiel Franz Tumlers, Ernst Jüngers und Stephan Hermlins seine Zusammenarbeit mit Autoren.

450 Vgl. Herkenhoff 2009, S. 50ff.

451 In der ausgewerteten Literatur konnten keine Hinweise auf prospektive Erwerbungs-Strategien gefunden werden.

452 Vgl. Becker 2014, S. 71.

453 Vgl. Rogalla von Bieberstein 1979, S. 28; Lahme 30.06.2007.

454 Lt. Webseite von KOOP-LITERA international, KOOP-LITERA 2015.

raten Nachlasskuratoren dort möglicherweise öfter und früher mit persönlichen Archiven und deren digitalen Inhalten in Kontakt. In Deutschland sind prospekti-ve Strategien zwar in Zusammenhang mit dem Vorlasshandel zu beobachten, sie beschränken sich jedoch meist auf den Kreis renommierter Autoren. Hier mildern der durch öffentliche Finanzierung gebotene Wettbewerbsvorbehalt, historisch gewachsene und regional ausgerichtete Erwerbungsprofile sowie Absprachen das Konkurrenzdenken. Diese komfortable Situation könnte eine Berührung mit digi-talem Nachlässen verzögert haben. Der aus der Wettbewerbslogik entspringende Innovationsdruck räumte den Special Collections in den vergangenen Jahrzehnten gerade auf dem Gebiet der Zusammenarbeit zwischen Bestandsbildner und Nach-lasskurator einen Vorsprung ein, der von deutscher Seite noch aufgeholt werden muss.

4.2.3.2 Ausbildung und Fachwissen: Nachlasskuratoren zwischen