• Keine Ergebnisse gefunden

Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

3 Persönliche Archive, Langzeitarchivierung und präkustodiale Intervention – ein Literaturbericht

3.3 Der Forschungsstand

3.3.2 Theorien: Postkustodialismus oder Kustodialismus

Entsprechend der interdisziplinären Ausrichtung werden bei der Theoriebildung verschiedene Perspektiven eingenommen, die vielfach gar nicht informationswis-senschaftliche Themen betreffen. So unternahm zum Beispiel Digital Lives neben seinem informationswissenschaftlichen Fokus den Versuch, persönliche Archive mediengeschichtlich einzuordnen.257 Andere Beiträge versuchen sich an der psy-chologischen und soziologischen Einordnung des Begriffes „Persönlichkeit“ und seinen Wandel im Kontext digitaler Medien.258 Medien- und literaturwissenschaft-liche Ansätze versuchen, die Transformation von Kulturtechniken durch digitale Medien und insbesondere das Internet zu klären.259 Die Interdisziplinarität be-dingt, dass viele Beiträge nicht oder nur in Einzelaspekten für informationswis-senschaftliche Belange und insbesondere die Langzeitarchivierung fruchtbar ge-macht werden können. Vielmehr versuchen diese Stimmen, die Bedeutung der in digitalen Objekten gespeicherten persönlichen Äußerungen für die jeweilige Dis-ziplin zu definieren und damit die Notwendigkeit langfristiger Archivierungs-Strategien für die digitalen Erzeugnisse der jeweiligen Forschungscommunity zu begründen.

Bezüglich der informationswissenschaftlichen Forschung zeichnet sich in der Li-teratur vor allem eine theoretische Auseinandersetzung ab. Sie betrifft die Frage, welche Aufgaben Archive und Bibliotheken bei der Langzeitarchivierung digitaler Nachlässe grundsätzlich übernehmen sollen: lediglich eine beratende und unter-stützende Funktion oder die klassische kustodiale Funktion, zu der zwingend die Übernahme des Nachlasses in den eigenen Bestand und die damit verbundenen Mehrwertleistungen gehört. Als Frage formuliert lautet das Thema: Postkustodial-ismus oder KustodialPostkustodial-ismus?260

Exponenten des ersten Ansatzes261 fokussieren „on preserving the materials that have emotional, intellectual, and historical value to individuals [...] both broadly

257 Vgl. John u. a. 2010, S. 107ff.

258 Vgl. Kendall 24.02.2011.

259 Vgl. Hartling, Suter 2010.

260 Dem Verfasser ist bewusst, dass die Definition und Verwendung von exklusiven Begriffen wie Postkustodialismus und Kustodialismus zu dogmatischen Festlegungen führt, die fließende Übergänge zwischen den beiden Extremen ausblenden. Um aber die theoretische Diskussion greifbar darstellen zu können, wurde dieses Vorgehen ausnahmsweise gewählt.

261 Vgl. etwa Marshall 2008a; Marshall 2008b; Cox 2008; John u. a. 2010.

(for consumers) and more narrowly (for academics, scholars, researchers, and students)“262.

Dieser Anspruch geht über die klassische Strategie hinaus, nur archivwürdige Do-kumente i. S. einer Forschungsquelle (Sekundärwert) zu bewahren. Für die per-sönlichen Archive von Privatpersonen (i. S. von Verbrauchern) wird statt dessen die non-kustodiale Variante des Postkustodialismus als Archivierungs-Strategie vorgeschlagen, nach der der Bestandsbildner für die langfristige Archivierung seiner digitalen Objekte bzw. seines persönlichen Archivs selbst verantwortlich ist; Bibliotheken oder Archive fungieren dabei nicht mehr als Ort der Archivie-rung, sondern als Dienstleister, die Privatpersonen bei der Archivierung unterstüt-zen. Eine Zweiteilung des Objekt-Lebenszyklus in präkustodiale und kustodiale Phase ist aus dieser Perspektive überholt. Deswegen müssen die Begriffe „präkus-todial“ sowie „postkus„präkus-todial“ bzw. „non-kus„präkus-todial“ genau unterschieden werden.

Der erste beschreibt eine Phase im Lebenszyklus eines Objekts, der zweite Begriff hingegen ein Konzept zur Archivierung und Verwaltung eines solchen Objektes.

Postkustodiale Ansätze stammen aus den archivwissenschaftlichen Diskursen, die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts geführt wurden. Sie propagieren unter anderem die Durchführung bestandserhaltender- und strukturierender Maßnahmen außerhalb einer Archivinstitution – und zwar während des gesamten Lebenszyklus der betreffenden digitalen Objekte.263 In Kapitel 4 wird noch einmal auf die Be-deutung des Postkustodialismus für die Archivwissenschaft allgemein in knapper Form eingegangen.

Der Kustodialismus – wie er hier der Unterscheidung halber genannt werden soll – beschreitet hingegen den konventionellen Weg, der Informationsspezialisten wie Bibliothekare oder Archivare als Nachlasskuratoren mit der Pflege nachgelassener Materialien betraut. Er hält an der Zweiteilung zwischen präkustodialer und kus-todialer Phase fest. Der Begriff leitet sich somit aus der eigentlichen Aufgabe nachlassverwaltender Institutionen ab – der betreffende Nachlass wird zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben und von einem Archiv oder einer Bibliothek übernommen, die dann Ort der Aufbewahrung sind. Alle weiteren Arbeiten erfol-gen kustodial – also in Obhut der übernehmenden Institution.

Welches Bild ergibt sich bei der Analyse der verfügbaren Literatur hinsichtlich dieser beiden Ansätze? Werden die postkustodialen Kernthesen in der Literatur einfach aus der allgemeinen Archivtheorie übernommen oder werden sie durch

262 Marshall 2008a

263 Einen Bestimmung des Begriffs und eine Übersicht über die Entwicklung des Postkustodialis-mus gibt Cook. Vgl. Cook 1997.

sammelgutspezifische Phänomene bekräftigt und erweitert? Betrachtet man die Literatur hinsichtlich dieser Fragestellung, dann fällt das Werk des Archivwissen-schaftlers Richard Cox ins Auge. In seiner 2008 publizierten Monografie „Perso-nal archives and a new archival calling“264 weist Cox auf hohem wissenschaftli-chen Niveau nach, dass die Aufbewahrung persönlicher Aufzeichnungen ein menschliches Grundbedürfnis ist. Dieses Grundbedürfnis drücke sich in diversen Motiven aus – wie z.B. Sentimentalität, dem Wunsch Identität zu konstruieren etc.

– und habe das Ziel „Spuren des Selbst“ zu hinterlassen.265 Cox greift damit auf Überlegungen von McKemmish266 zurück, einer Vertreterin des australischen Postkustodialismus, und entwickelt sie weiter. Er wiederholt dabei im Wesentli-chen die Kernaussagen von Hobbs267, die dort jedoch in Bezug auf literarische Nachlässe und damit im kustodialen Paradigma getroffen wurden. Da die digitalen Medien, so Cox, die Erstellung persönlicher Aufzeichnungen zwar vereinfachten, deren Archivierung sich aber aufgrund der Flüchtigkeit des Digitalen zugleich erschwere, breche ein Zeitalter der Vergesslichkeit heran.268 Dieser Vergesslich-keit begegne man am besten, indem die privaten Bestandsbildner – Privatperso-nen, Familien, Familienmitglieder – als Archivare ihrer selbst – sog. „Citizen Ar-chivists“ – fungierten.269 Folglich ergebe sich für Berufsarchivare eine Verschiebung ihres Aufgabenschwerpunktes – vom Hüter der Nachlässe hin zum Dienstleister für Bürger. Als Dienstleister sollten sie Bürger in die Lage versetzen, ihre Archive so zu verwalten, dass sie nicht nur den Anforderungen von Privatper-sonen und Individuen genügten, sondern auch der Wissenschaft Zugriff auf diese Dokumente ermöglichten.270 Nicht der Sammelauftrag, sondern die Vermittlung von Fachwissen und das Angebot von fachlichen Dienstleistungen stellt demnach die archivische Kernfunktion in Bezug auf digitale Nachlässe und persönliche Archive dar. Cox‘ Argumentation gipfelte in der Aufforderung, selbst bedeutende persönliche Dokumente nur dann in Archiven zu sichern, wenn ihr Bestand ge-fährdet ist.271 Dieser neue Standpunkt führt de facto zur Umformulierung des ar-chivarischen Berufsbildes. Zudem bezeichnet Cox Bibliothekare als für diese

264 Vgl. Cox 2008. Cox hat auch diverse Artikel und Vorträge zu diesem Thema veröffentlicht, in denen er seine Position wiederholt oder paraphrasiert. Vgl. hierzu Cox 2006; Cox 2009; Cox 25.02.2011.

265 Vgl. Cox 2008, S. 107 ff .

266 Vgl. McKemmish 1996.

267 Vgl. Hobbs 2001.

268 Vgl. Cox 2008, S. 26ff.

269 Vgl. Cox 2008, S. 295ff.

270 Vgl. Cox 2008, S. 1.

271 Vgl. Cox 2008, S. viii.

Aufgabe ungeeignet, wohingegen Archivare und Records Manager schon auf-grund ihrer Erfahrungen mit der Schriftgutverwaltung, aber auch aufauf-grund der Tatsache, dass viele Archivbestände aus persönlichen Dokumentensammlungen und Familienarchiven erwüchsen, die adäquaten Fachleute seien.272

Diese Parallele zum deutschen Kompetenzstreit bleibt – zumindest in Bezug auf die fragliche Thematik – von bibliothekarischer Seite unerwidert. Auch ein ver-gleichbar wissenschaftlich profunder und kämpferischer Beitrag zum Postkustodi-alismus konnte von dieser Seite nicht ermittelt werden. Das mag auch darin be-gründet sein, dass der Postkustodialismus ausschließlich in der Archivwissenschaft entwickelt und diskutiert wurde. Cox Beitrag bleibt in seiner Radikalität aber auch innerhalb der archivwissenschaftlichen Literatur singulär.

Die non-kustodiale Variante des Postkustodialismus tritt vielmehr vergleichsweise häufig auf, wenn Archive und Bibliotheken als Dienstleister keine Rolle spielen, z.B. in der kommerziellen Technologieentwicklung. Solche Entwicklungen müs-sen dann auch nicht theoretisch fundiert werden, da sie sich ohne den Bezug auf Archive und Bibliotheken von selbst ergeben. Es folgen einige Beispiele für diese Beobachtung: Czerwinsky u. a. berichtet über den Einsatz digitaler Technologien, wie z.B. einer Helmkamera, Digitalscanner oder biometrischer Sensoren, im All-tag einer Privatperson, mit dem Ziel deren Leben besser zu organisieren, Informa-tionen zu kanalisieren und Alltagsverrichtungen aufzuzeichnen. Das System be-ruht auf dem Microsoft-Projekt „MyLifeBits“ und erinnert in seiner Konfiguration an eine digitale Variante des Systems „Memex“ von Vannevar Bush.273 Über My-LifeBits und seine Ergebnisse berichten außerdem Bell und Gemmell im Lichte der seither geschehenen digitalen Neuerungen.274 Weitere Beispiele sind die Pub-likationen von Catherine Marshall275, Kirk und Sellen276 und Strodl u. a.277, die allesamt das persönliche Informationsmanagement diverser Personengruppen ana-lysieren und daraus Anforderungen für die Entwicklung digitaler Heim-Archivierungs-Systeme ableiten. Letztere haben zudem an der Universität Wien eine solche Lösung für Kleinunternehmer unter dem Projektnamen Hoppla

272 Vgl. Cox 2008, S. 186ff.

273 Vgl. Czerwinski u. a. 2006.

274 Vgl. Bell, Gemmell 2009.

275 Vgl. Marshall, Bly, Brun-Cottan 2006; Marshall 2007; Marshall 2008b; Marshall 2008a.

276 Vgl. Kirk, Sellen 2008; Kirk, Sellen 2010.

277 Vgl. Strodl u. a. 2008.

ckelt. 278 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass Mars-hall, die auch beim Artikel von Czerwinsky u.a. als Mitautorin genannt wird, aber auch Czerwinsky, Bell, Kirk und Sellen, Mitarbeiter von Microsoft sind. Von den Verfassern der genannten Beiträge arbeiten somit nur Strodl u.a nicht für diesen Hersteller. Offenbar bemüht sich Microsoft seit Anfang dieses Jahrtausends, Lö-sungen für das persönliche Archivmanagement zu finden.279

Die genannten Beiträge zeigen, dass postkustodiale Lösungen häufig losgelöst vom informationswissenschaftlichen Diskurs erarbeitet werden. Trotzdem liefern sie auch Hinweise für eine Beantwortung der oben gestellten Frage, inwieweit sammelgutspezifische Phänomene den Einsatz des Postkustodialismus rechtferti-gen. Es ist nämlich die Beobachtung zu machen, dass die genannten Beiträge sich entweder mit den persönlichen Archiven breiter Bevölkerungsschichten oder mit Familienarchiven beschäftigen. Diese Beobachtung wird auch von Cox‘ Argu-mentation für den Postkustodialismus bestätigt, in der die Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten fast keine Rolle spielen. Nach Cox sind persönliche Archive und Familienarchive unabhängig von ihrer Provenienz wichtige Forschungsquellen.

Indem Cox dies betont, rekurriert er auf eine Entwicklung in der Geschichtswis-senschaft. 280 Persönliche Äußerungen besitzen aus der Perspektive der Oral His-tory und der Alltagsgeschichte kultur- und sozialgeschichtliche Relevanz – gerade auch deswegen, weil sie von Durchschnittsbürgern oder sozial Benachteiligten stammen und dadurch, so die Vertreter dieser Theorie, eine andere Perspektive auf historische oder auch soziale Entwicklungen bieten. Die Oral History arbeitet viel-fach mit den Aufzeichnungen mündlicher Berichte von Zeitzeugen. Resultate die-ser Methode sind analoge und digitale Text-, Bild- und Tondokumente, die wiede-rum in Repositorien gesammelt und aufbewahrt werden müssen.281 Des Weiteren enthalten aber auch die persönlichen Archive von Zeitzeugen forschungsrelevante Lebensäußerungen. So erklärte etwa Kornfeld in der Bundesrepublik schon 1987

278 Kleinunternehmer, die den Computer zum Broterwerb nutzen, aber nicht mit Bürosystemen oder den Dokumenten-Management-Systemen von Organisationen oder Unternehmen arbeiten.

Sie sind aus der Sicht der Langzeitarchivierung als Privatpersonen zu betrachten, die digitale Objekte anlegen, bearbeiten und verwalten. Letztendlich sind auch Schriftsteller als Kleinun-ternehmer zu betrachten. Als Begriff für Kleinunternehmen hat sich im angelsächsischen Sprachraum der Begriff SOHO (engl. Small Office/Home Office) herausgebildet. Privatperso-nen und SOHOs werden in der Literatur zum Thema als typologisch vergleichbare Bestands-bildner abgehandelt. Vgl. hierzu Strodl u. a. 2008.

279 Siehe hierzu die Autorenangaben in den betreffenden Artikeln.

280 So bezeichnet er Blogs als die wichtigste digitale Forschungsquelle der Gegenwart. Vgl. Cox 2008, S. 299.

281 Zum Beispiel enthält das Archiv des Columbia Centers for Oral History (CCOH) der Columbia University Libraries rund 8000 solcher Objekte. Vgl. Columbia University Libraries 2011.

die Sicherung der Alltagsgeschichte zum Aufgabenbereich der Öffentlichen Bibli-otheken, wozu auch das Sammeln von Privatarchiven gehöre.282 Durch diese Strömungen entstand ganz plötzlich ein Bedarf an der langfristigen Archivierung digitaler persönlicher Objekte, der weit über die traditionellen Sammelaufträge der nachlassverwaltenden Institutionen hinausging.283 Die konsequente Umset-zung dieses Bedarfs würde folglich zu einer Potenzierung des Sammelumfangs dieser Institutionen führen, was ein Ausweichen auf die non-kustodiale Variante des Postkustodialismus nachdenkenswert erscheinen lässt. Die Aufwertung der Alltagsgeschichte und die Forschungsrelevanz des Durchschnittlichen stellt damit sozusagen eine sammelgutspezifische Erklärung für dessen Anwendung auch in einem eigentlich kustodialen Umfeld dar.

Ein wenig anders liegt der Fall bei Familienarchiven.284 Bei diesen Repositorien steht das generationenübergreifende Aufbewahren von Schriftstücken, Fotografien oder Lebenserinnerungen innerhalb einer Familie im Mittelpunkt, sodass die Zu-ständigkeit einer nachlassverwaltenden Institution ohnehin zweitrangig ist. Da aber immer mehr digitale Objekte in diesen Archiven verwahrt werden, entsteht das Bedürfnis auf Seiten von Familien und Familienmitgliedern, mehr über die Archivierungsmöglichkeiten zu erfahren; dies umso mehr, da zukünftig über Ge-nerationen und Verwandtschaftsgrade hinweg digitale Archivierungspraktiken immer wieder erlernt und angewendet werden müssen.285 Gerade in den USA scheinen Familienarchive eine besondere Bedeutung zu haben, was die Beiträge von Kirk und Sellen, Wright, aber auch Marshall zeigen.286 Für Archive und Bib-liotheken ergibt sich damit quasi automatisch eine non-kustodiale Herangehens-weise, indem Familien bei der Verwaltung ihrer Archive durch Archivare und Bib-liothekare im Rahmen der Daseinsvorsorge unterstützt werden.

Im Falle persönlicher Archive von Durchschnittsbürgern und von Familienarchi-ven lassen sich also durchaus postkustodiale Ansätze vertreten. In der Regel

282 Vgl. Kornfeld 1987, S. 36.

283 Vgl. Digital Lives John u. a. 2010, S.111ff.

284 Eine Übersicht über die Forschung zu Familienarchiven in den USA gibt Kirk, Sellen 2010, S.

10:4-10:7.

285 Vgl. etwa Cox 2008, S. 26f.

286 Umso auffälliger ist das völlige Fehlen vergleichbarer Beiträge aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Es wäre interessant zu untersuchen, worin die Ursachen für diese Beobach-tung liegen. Ob die Gründe etwa in der deutschen Geschichte zu suchen sind, z.B. in der immer wieder vorkommenden Vernichtung von Familienbesitz durch Kriege und Eroberungen. Da Familienarchive aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sind, soll von einer weiteren Erörterung dieser Frage abgesehen werden.

herrscht unter Archivaren und Bibliothekaren aber die kustodiale Sichtweise vor.

Angebote oder Unterstützung für die breite Öffentlichkeit gelten als Sonderfall und bieten einen Anlass über die Erweiterung des eigenen Aufgabenspektrums nachzudenken, wohingegen die Übernahme und anschließende Aufbewahrung bedeutender analoger wie digitaler Nachlässe die Hauptaufgabe bleibt. Post- oder non-kustodiale Angebote sind sozusagen Mehrwertdienste, die sich aus der fachli-chen Kompetenz des Anbieters ergeben. Exemplarisch hierfür steht das schon erwähnte Projekt Digital Lives, welches neben kustodialen Lösungen auch einen postkustodialen Ansatz entwickelte. Dieser bezieht sich auf „Archives in the wild“

– den Terminus des Projektberichtes für Archive, die sich nicht in kustodialer Ob-hut befinden. „Archives in the wild“ sollen von einem Netzwerk aus Bibliotheken und Archiven betreut werden, wobei eine physische Übernahme durch diese nur bei bedeutenden Personen vorgesehen ist.287 Da das Projekt von Bibliotheken ge-tragen wurde, kann auch in diesem Fall von einer, wenn auch modifizierten, Adaption postkustodialer Ansätze im bibliothekarischen Umfeld gesprochen wer-den. Vorgreifend auf Kapitel 5 sollte noch erwähnt werden, dass postkustodiale Maßnahmen, wie zum Beispiel der Einsatz von Leitfäden und Beratungsdienst-leistungen, im Maßnahmenkatalog des Projektes Paradigm gelistet werden – und dies, obwohl dieses bibliothekarische Projekt explizit kustodial ausgerichtet ist.288 Hieraus ergeben sich dann jene Mehrwerte des Postkustodialismus, die für das Thema dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Da Nachlasskuratoren vermehrt die Bedeutung der präkustodialen Phase erkennen, ist es auch aus ihrer Sicht wünschenswert, potenzielle Nachlasser proaktiv zu unterstützen und damit auch post- oder non-kustodiale Ansätze in die eigene Strategie zu implementieren.

Während der präkustodialen Phase soll der Bestandsbildner mithin in die Lage versetzt werden, sein eigenes Archiv – oder Teile daraus – weitestgehend selbst-ständig zu verwalten. So kann schon zu Beginn des Lebenszyklus digitaler Objek-te für deren Langzeitarchivierung Sorge getragen werden, ohne dass ständige Ein-griffe des Kurators nötig sind. Die Projekte Paradigm und Digital Lives zeigen, dass sich gerade auch in dieser Frage Postkustodialismus und Kustodialismus ge-genseitig ergänzen. Dass es darüber hinaus dann nur ein kleiner Schritt ist, fachli-che Mehrwerte auch für persönlifachli-che Archive breiter Bevölkerungsschichten oder Familienarchive anzubieten, ist verständlich. Hier bieten sich postkustodiale An-sätze geradezu an, da – wie schon erwähnt – ein Sammelauftrag die Kapazitäten von Bibliotheken und Archiven sprengen würde.

287 Vgl. John u. a. 2010, S. xviii.

288 Vgl. Paradigm project 2007, S. 12f.

Infolge dieser Entwicklungsstränge ist es wenig verwunderlich, dass Postkusto-dialismus und KustoPostkusto-dialismus in jüngster Zeit immer mehr zu einem ganzheitli-chen Ansatz verschmelzen. Dieser Prozess lässt sich auch an den genannten Bei-spielen nachverfolgen. Während Paradigm einen kustodialen Ansatz verfolgte, implementierte Digital Lives gleichberechtigt den postkustodialen Ansatz zu Un-terstützung breiterer Bevölkerungsschichten. Ein weiteres Beispiel für dieses neue Selbstverständnis ist die von American Library Association (ALA) seit 2010 jähr-lich organisierte Preservation Week, an der sich 2011 über 50 US-amerikanische Bibliotheken beteiligten.289 Ziel war es, die Bibliotheken als Vermittler von Fach-wissen im Bereich der Bestandserhaltung zu etablieren.290 In der englischsprachi-gen Literatur lässt sich somit eine Konverenglischsprachi-genz von Kustodialismus und Postkus-todialismus feststellen, wobei kustodiale Ansätze führend bleiben. Gerade im Falle digitaler Nachlässe ist der Ingest in den Langzeitspeicher eines Archivs oder einer Bibliothek das Ziel der Bemühungen. Für die dem Ingest vorausgehende präkustodiale Phase werden postkustodiale Formen der Bestandsverwaltung adap-tiert und nutzbar gemacht.