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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

4 Länderspezifische Faktoren als Einflussgrößen der präkustodialen Intervention

4.1.3 Records Continuum und Postkustodialismus

Die zunehmende Verbreitung elektronischer Bürosysteme führte in den 1980er Jahren vor allem in den englischsprachigen Ländern zu einer Revision des Le-benszyklusmodells. Da es zu Zeiten der Papierunterlagen aus der Bewertungsfra-ge heraus entstand, wurde seine Kompatibilität zur digitalen Langzeitarchivierung angezweifelt. Der Gedanke, dass Langzeitarchivierung ein kontinuierlicher Pro-zess sei und Aufgaben nicht sequentiell, sondern synchron erledigt müssten, führte zum Modell des Records Continuum.351 Dabei wurde kritisiert, dass durch das Lebenszyklusmodell der Bruch zwischen produzierender Instanz und Archiv erst möglich werde, Bewertungsentscheidungen zu spät stattfänden und daher wichtige Informationen verlorengingen. Die Kanadier Bearman und Lytle forderten erst-mals 1985, nicht nur Informationen über die Provenienz eines elektronischen Ob-jektes – insbesondere seine Funktion für den Bestandsbildner – zu erfassen, son-dern schon seine Entstehung als zum Archivierungsprozess gehörig zu

348 Vgl. Schwartz, Hernon 1993, S. 13ff. Schwarz nennt die folgenden Aufgabenfelder: Records selection and inventory, Records rentention and disposition, File organization and handling, Reprographics and micrographics management, Database and information technologies, Vital records management, Disaster preparedness, Forms management, Correspondence, reports, and directives management, Records center management

349 Vgl. hierzu auch weiter unten den Abschnitt 4.2.3.2.

350 Vgl. Brübach 2004, S. 192ff.

351 Vgl. Atherton 1985, S. 47f.

verstehen.352 Alle für die Langzeitarchivierung relevanten Aspekte gehen nach diesem Ansatz auf die Entstehung des Objektes und auf seine Funktion zu diesem Zeitpunkt zurück. Phasengebundene Aufgaben, wie etwa Klassifikation, Verwal-tung und Archivierung können daher nicht an das Ende eines Lebenszyklus' ge-rückt, sondern müssen schon zum Zeitpunkt seines Entstehens und bei der Pla-nung der Archivierung berücksichtigt werden.

Eng mit dem Konzept des Records Continuum verwoben ist der Postkustodialis-mus. Analog zu den postmodernen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorien formulierten Archivtheoretiker in Australien und Nordamerika den post-kustodialen Ansatz, der aus dem Records Continuum Konsequenzen zog und die Institution Archiv und das Berufsbild des Archivars kritisierte.353 Aus Sicht des Postkustodialismus bedingt die Absage an das Lebenszyklusmodell zugleich auch den Abschied von der Metapher des Archivars als Kustos am Ende des Lebens-zyklus eines physisch vorhandenen Objektes. Da archivische Prozesse nach dem Paradigma des Records Continuum kontinuierlich von der Erstellung eines Objek-tes an ablaufen, stellte sich die Frage der Funktion des Archivs: Müssen Archivare dann nicht eng mit dem Bestandsbildner zusammenarbeiten? Sind Archive somit vom Zeitpunkt der Entstehung digitaler Objekte an für diese verantwortlich? Ver-bleiben digitale Objekte nicht besser dauerhaft beim Bestandsbildner, während Archive nur eine beratende und unterstützende Funktion übernehmen? Oder wer-den die digitalen Bestände an Dritte ausgelagert, zum Beispiel an ein Netzwerk, bestehend aus Bestandsbildnern und Archiven? Wie nehmen Archive dann aber ihre Verantwortung wahr? Werden Archivare dann auch Records Manager oder übernehmen die Records Manager die Aufgaben der Archive? Der Beruf des Ar-chivars kann also je nach Standpunkt überflüssig werden oder sich ausweiten, hin zum Generalisten, der als Records Manager für alle Aspekte des Kontinuums ver-antwortlich ist. Entsprechend vieldimensional sind postkustodiale Organisations-modelle. So erprobte das australische Nationalarchiv bis 2000 sogar den soge-nannten non-kustodialen Ansatz, demzufolge alle Archivalien bei den Bestandsbildnern verbleiben, die dann auch für die Archivierung verantwortlich sind. Den Archiven kommt in diesem Modell nur mehr eine Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion zu. Sie sind nicht mehr als Repositorien tätig.354 Dem non-kustodialen Ansatz entsprechen auch jene postkustodialen Lösungen, die im Literaturbericht referiert wurden.

352 Vgl. Bearman, Lytle 1985, S. 26f.

353 Vgl. Cook 1997; Upward 1996; Upward 1997.

354 Vgl. Neuroth u. a. 2009, S. 2:12.

In der Regel wird in der Literatur der Begriff Postkustodialismus auf die Funktion des Archivs bezogen. Man fragt, ob Archivare ihre Aufgaben als Kustoden erst am Ende des Lebenszyklus‘ von Akten oder Records wahrnehmen oder ob sie im Ge-genteil ihr Selbstverständnis hinterfragen und neue – bis hin zum Non-Kustodialismus gehende – Funktionen übernehmen sollten. Diesen Dualismus zwischen kustodialer und non-kustodialer Auffassung brach der Beitrag zum Re-cords Continuum des Australiers Frank Upward auf. Upward erweiterte die post-kustodialistische Archivtheorie, indem er nicht das Archiv, sondern das Record und seine Funktionen in den Mittelpunkt stellte.355 Dieser Ansatz soll hier aus-drücklich erwähnt werden, da er im weiteren Fortgang noch mehrmals in die Ar-gumentation einfließt.356 Nach Upward ist die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt für die Archivierung des Records, bzw. des Objekts, verantwortlich ist, nur eine von mehreren Perspektiven; Aufgaben und Funktionen können demnach auch von verschiedenen Akteuren gleichzeitig übernommen werden:

[...] postcustodial approaches involve a working through the meaning of continuous custody, and of the responsibilities and authorities involved.

They consist of new orientations to archival issues, different means of ap-plying our skills and knowledge and new professional directions.357

Innerhalb dieser multiperspektivischen Sichtweise ist es dann aber auch möglich, bei Bedarf zyklische Denkmuster zu entfalten: „If one wishes or needs to do so, one can still talk of the lifespan of records within the model.”358 Der zu archivie-rende Bestandstyp, die vorhandenen Strukturen und die Praktikabilität entscheiden über die jeweilige Archivierungs-Strategie; zyklische Verantwortlichkeiten sind zweitrangig.

Records Continuum und Postkustodialismus negieren somit nicht zwangsläufig die Arbeitsteilung zwischen Bestandsbildner und Archiv und damit das Lebens-zyklusmodell. Sie bieten vielmehr einen theoretischen Ansatz zur vollständigen

355 Vgl. hierzu die beiden Artikel, in denen Upward seine Konzeption erläutert: Upward 1996;

Upward 1997.

356 Dabei kann allerdings nicht auf die Theorien von Lyotard und Giddens eingegangen werden, mit denen Upward seine Ausführungen grundiert. Vielmehr soll auf das in Upwards Ansatz enthaltene multiperspektivische Verständnis des Records Continuums und seine anwenderbe-zogene Ausrichtung hingewiesen werden.

357 Upward 1996, S. 274.

358 Upward 1996, S. 277.

Integration von präkustodialer und kustodialer Phase.359 So werden mittlerweile auch in Australien, in dessen Archivlandschaft der Ansatz des Records Continu-ums angewendet wird, wieder Objekte durch Archive übernommen; Archivare sind aber schon im Vorfeld an allen relevanten Aufgaben des Records Manage-ment beteiligt.360 Es ist somit vielmehr eine Frage der Perspektive – und der nati-onalen Tradition – ob man von stark ineinander verwobenen Phasen eines Le-benszyklus oder von einem Kontinuum spricht.

4.1.4 Vergleich mit der in Deutschland praktizierten Schriftgutverwaltung