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Das Sammeln literarischer Manuskripte und Nachlässe in den englischsprachigen Ländern

Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

4 Länderspezifische Faktoren als Einflussgrößen der präkustodialen Intervention

4.2 Literaturarchive und Special Collections – Entwicklung und Strukturen Strukturen

4.2.2 Das Sammeln literarischer Manuskripte und Nachlässe in den englischsprachigen Ländern

In den englischsprachigen Ländern wurden erst weit im 20. Jahrhundert mit Lite-raturarchiven vergleichbare Manuskriptsammlungen aufgebaut. Zuvor fanden Manuskripte und Nachlässe zeitgenössischer Autoren nur selten ihren Weg in ein Archiv oder eine Bibliothek, während die Papiere kanonisierter Schriftsteller von einigen Bibliotheken gesammelt wurden. Auch als Absatzobjekt für den Autogra-phenhandel stellten lebende oder jüngst verstorbene Autoren lediglich eine Rand-erscheinung dar.418 Die Situation ist folglich mit derjenigen im Deutschland des 19. Jahrhunderts vergleichbar, allerdings entwickelte sich keine mit der deutschen

„Literaturarchiv-Bewegung“ vergleichbare Initiative. Den Aufbau entsprechender Sammlungen übernahmen stattdessen die großen Forschungsbibliotheken (Rese-arch Libraries), wobei die USA als Vorreiter auftrat. Hierbei kam den Rare Book Libraries eine wichtige Rolle zu. Rare Book Libraries entstanden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schrittweise an den Universitätsbibliotheken. Nach-dem sich die universitären Einrichtungen der USA langsam von ihren puritani-schen Wurzeln zu Forschungsuniversitäten gewandelt hatten, wurden in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bislang vernachlässigten Universitätsbibliotheken zu umfangreichen Research Libraries ausgebaut. Dabei entdeckte man auch die Relevanz von seltenen Drucken, die bislang mit anderen Medien zusammen aufbewahrt, jetzt aber in räumlich abgetrennte Rare Book Col-lections oder Libraries verlagert wurden. Sammelschwerpunkte innerhalb dieser Rare Book Libraries wurden zu Special Collections ausgebaut und im Rahmen dieser Aktivitäten bezog man ab den 1930er Jahren auch Manuskripte zeitgenössi-scher Autoren in den Bestandaufbau mit ein.419 Dies wurde auch durch den Einzug neuer Strömungen, wie der historisch-kritischen Methode, in die Literaturwissen-schaft begünstigt, die u.a. dem Quellenstudium eine große Bedeutung zuwiesen.

Ein weiterer Impuls ergab sich nach dem 2. Weltkrieg durch nationale For-schungsprogramme, an denen auch die Geisteswissenschaften partizipierten und die für den Aufbau der Sammlungen Mittel zur Verfügung stellten.420

4.2.2.1 Special Collections im Wettbewerb

Die Initiative beim Aufbau von Literaturarchiven lag damit fast ausschließlich bei Hochschulbibliotheken. Daher sind bei der weiteren Entwicklung die Organisation

418 Vgl. Rota 1986, S. 39ff.

419 Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung von Rare Book and Manuscript Libraries sowie der darin enthaltenen Special Collections gibt Joyce 1988.

420 Vgl. Staley 1990, S. 11; Busemeyer 2007, S. 69f.

und die Struktur des US-amerikanischen Bildungssystems zu beachten. Der dort entstandene Typus der Forschungsuniversität, in der Literatur auch als American University bezeichnet, favorisiert die Forschung im Vergleich zur akademischen Lehre. Geprägt wird die Universitätslandschaft zudem durch eine dezentrale Struktur. Der ausgeprägte Förderalismus und die daraus resultierende schwache Regulierung des Bildungssystems begünstigte im 19. Jahrhundert die Entstehung einer lokal ausdifferenzierten Hochschullandschaft, die sich zudem noch durch einen hohen Anteil an privaten Einrichtungen auszeichnete. Dies führte zu einem bis heute andauernden Wettbewerb zwischen den Universitäten, der mit der Not-wendigkeit zur permanenten Profilierung und Innovation einhergeht.421 Die Wett-bewerbslogik sowie die Orientierung an lokalen Forschungsprofilen begleiteten die Entwicklung der Research Libraries und infolgedessen auch den Aufbau von Special Collections.

Charles D. Abbott (1900-1961), seit 1934 Leiter der Lockwood Memorial Library der University of Buffalo, New York, legte als erster ein Programm auf, das nicht nur die Nachlässe großer Autoren der Vergangenheit, sondern gezielt die persönli-chen Archive zeitgenössischer Lyriker englischer Sprache sowie deren Druckaus-gaben zum Aufbau einer Special Collection erwarb.422 Eine der größten und bis heute führenden Sammlungen richtete ab 1957 Dr. Harry Huntt Ransom (1908-1976) an der University of Texas in Austin ein. Auf Ransoms Initiative wurde das Humanity Research Center gegründet, das mit seiner umfassenden Sammlung englischsprachiger Schriftsteller unserer Vorstellung von einem Literaturarchiv am nächsten kommt. Diese Institution nutzte wie viele andere Sammlungen ein gut ausgebautes Netzwerk von Autographenhändlern, um mit Autoren und Erben in Kontakt zu treten.423 Andere Sammlungen entstanden wiederum aus privaten Stiftungen, so die Lilly Library der Indiana University in Bloomington, deren um-fangreiche Manuskriptsammlung von dem Industriellen Josiah K. Lilly jr. gestiftet wurde. Weitere Beispiele für Stiftungen sind die Beinecke Rare Book and Manu-script Library an der Yale University und die Emory University’s ManuManu-scripts, Archives, and Rare Books Library (MARBL) in Atlanta, Georgia. Stiftungen und der Autographenhandel waren die beiden Quellen aus denen Special Collections beim Aufbau ihres Bestandes zunächst schöpften. Ransom und sein Assistent und späterer Nachfolger Dr. F. Warren Roberts vertraten eine sehr aggressive Erwer-bungspolitik, indem sie Privatsammlungen aufkauften und so in relativ kurzer Zeit einen umfangreichen Bestand aufbauten. Infolgedessen wurde Ransom von Seiten

421 Eine Übersicht über die Entwicklung des US-Hochschulwesens mit den entsprechenden Quel-len gibt Busemeyer 2007, S. 60ff.

422 Vgl. Andrews 2010, S. 12.

423 Vgl. Rota 1986, S. 39ff; Staley 1990, S. 13ff.

anderer Bibliotheken und Sammler angegriffen, die ihm vorwarfen, dass er sie über seine Pläne nur schlecht informiere und die Preise für Manuskripte hochtrei-be.424 Zu verstehen sind diese Methoden, wenn man, wie der spätere Direktor des Harry Ransom Center, Thomas F. Staley, es tut, amerikanische Charakteristiken in Rechnung stellt. Denn diese konstituieren „a sense of competition, corporate as well as individual enterprise, a not naive belief in the achievement of distinction, yet a suspicion of the roots of that distinction“425. Der Aufbau universitärer Sammlungen vollzog sich also in jener Konkurrenzsituation, die das US-amerikanische Hochschulwesen insgesamt prägte.426 Dabei wandten die Verant-wortlichen individuelle, der jeweiligen Situation geschuldeten, Erwerbungs-Strategien an.427 So entstanden Sammelschwerpunkte nicht durch überregionale oder nationale Absprachen, sondern durch das lokale Kausalverhältnis zwischen den Anforderungen der vor Ort tätigen Literaturprofessoren und dem Bestandspro-fil der Bibliotheken.428 Diese Konkurrenzsituation benachteiligte die finanziell schwächer ausgestatteten Research Libraries, sodass sie zur Entwicklung innova-tiver Erwerbungs-Strategien gezwungen waren. Einen vielversprechenden Ansatz implementierte zum Beispiel William Matheson in den 1960er Jahren an der Washington University Library, St. Louis, Missouri, indem er junge und noch nicht etablierte Autoren ansprach. Sein Ziel war es, über dauerhafte Beziehungen zu Schriftstellern einen günstigen und kontinuierlichen Vorlass-Handel zu ermög-lichen.429 So etablierte sich, neben dem Erwerb von Nachlässen, der Vorlasshandel als Erwerbungsquelle nordamerikanischer Special Collections. Auf die Folgen dieser Entwicklung wird weiter unten ausführlich eingegangen.

424 Vgl. Staley 1990, S. 19f.

425 Staley 1990, S. 11.

426 Vgl. Staley 1990, 11ff.

427 Vgl. Staley 1990, S. 11.

428 Vgl. Staley 1990, S. 13.

429 Vgl. Matheson 1971, S. 1151.

4.2.2.2 Der Einfluss US-amerikanischer Strategien auf Großbritannien Zu Beginn der 1960 Jahre erkannten auch die britischen Gedächtnisorganisationen die Bedeutung zeitgenössischer literarischer Manuskripte. Bis dahin hatte man die dieses Sammelgut nur planlos und unvollständig gesammelt. So etwa die Manu-skriptsammlung des Britischen Museums, die in ihren Richtlinien lediglich die Akquise der Nachlässe hochbedeutender Personen vorsah und auch dies nur in Auswahl.430 Nun aber blickten namentlich die großen nationalen Institutionen wie das British Museum, die British Library und das Arts Council of Great Britain besorgt auf die US-amerikanischen Special Collections, die ja die gesamte eng-lischsprachige Literatur sammelten, womit auch das kulturelle Erbe Großbritanni-ens von den US-amerikanischen Akteuren aufgekauft wurde. Mit der Gründung der National Manuscript Collection of Contemporary Poets (NCMPP) unter Fe-derführung des Poetry Panels of the Arts Council, das wiederum vom Britischen Kulturministerium alimentiert wurde, versuchte man 1963 gegenzusteuern. Der renommierte Lyriker und Bibliothekar Philip Larkin übernahm dabei die führende Rolle. Dabei orientierte man sich am US-amerikanischen Vorbild und stützte sich auf den Autographenhandel; allerdings sprach man in der Folge auch lebende Au-toren direkt an. Wie hektisch und selektiv man auf die US-amerikanische Offensi-ve reagierte, zeigt die Tatsache, dass man zunächst nur Lyriker sammelte – eine Beschränkung, die zwar für das Sammelprofil einer einzelnen Bibliothek sinnvoll, für eine nationale Strategie aber problematisch ist.431 Erst 1968 kamen dann mit der Umbenennung in National Manuscript Collection of Contemporary Writers (NMCCW) die Prosaschriftsteller hinzu. Nach und nach übernahmen die großen Universitätsbibliotheken neben dem Britischen Museum und der British Library die Hauptlast des Sammelauftrages. Beispiele hierfür sind die Bodleian Library in Oxford und die John Rylands University Library in Manchester. Mit der Auflö-sung der NMCCW 1979 schied das Arts Council aus den Sammelbestrebungen aus und für gut 25 Jahre fehlte ein nationales Netzwerk, zu dem man erst 2005 mit der Gründung der Group for Literary Archives and Manuscripts (GLAM) und der UK Literary Heritage Working Group (UKLH) zurückkehrte. Während GLAM die Zusammenarbeit von Bibliotheken und Archiven stärken soll, übernimmt die UKLH als Gremium jene Aufgabe, die zuvor in Händen der NMCCW lag. Beide Organisationen sollen durch die Entwicklung einer nationalen Strategie den Ver-kauf von Manuskripten ins Ausland drosseln.432

430 Die folgende Darstellung orientiert sich an Andrews 2010, S. 11ff.

431 Vgl. Andrews 2010, S. 12.

432 Vgl. Andrews 2010, S.16. Siehe auch die Webseite der GLAM (http://glam-archives.org.uk/) und der UKLH (http://www.literary.org.uk/press/).

4.2.2.3 Zusammenfassung

Im englischsprachigen Raum entstanden Literaturarchive als Special Collections an den Research Libraries sowie den großen nationalen Bibliotheken, etwa der British Library. Ihnen kam insbesondere in den USA die Aufgabe zu, ein ange-messenes Forschungsumfeld für die literaturwissenschaftlichen Fakultäten vor Ort bereitzustellen. Die Idee, ein nationales Literaturarchiv zu schaffen oder das lite-rarische Erbe der Nation auf angemessene Weise zu repräsentieren, lag den Akteu-ren in den USA fern. Aufgrund der Betonung lokaler Forschungsprofile, der Struktur des Hochschulwesens und des amerikanischen Wettbewerbsdenkens be-fanden sich die US-amerikanischen Special Collections in einer Konkurrenzsitua-tion. Die britischen Special Collections orientierten sich an den US-amerikanischen Erwerbungs-Strategien, setzten diese jedoch im nationalen Rah-men mit Unterstützung der Regierung auf. Dabei wurde kooperiert, zunächst zwi-schen Arts Council und dem Britizwi-schen Museum, später unter Beteiligung der British Library und der Universitätsbibliotheken, die mittlerweile federführend sind. Die internationale Konkurrenzsituation, insbesondere in Bezug auf die USA, blieb aber bestehen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Akzentuierung der Forschung sowie eine ausgeprägte Wettbewerbslogik für die Manuskript-sammlungen der englischsprachigen Länder kennzeichnend sind.