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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

2 Digitale Nachlässe als persönliche Archive – Grundlagen für die Langzeitarchivierung

2.3 Was ist ein Persönliches Archiv? 48

2.3.3 Motive als eine Grundlage der Archivstruktur

Der Hinweis auf den in der präkustodialen Phase stattfindenden Formierungspro-zess ist für die Charakterisierung persönlicher Archive noch nicht hinreichend, denn gleiches gilt z. B. auch für Registraturen, die nach dem funktionalen Archiv-begriff ebenfalls Einheitsarchive sind. Was unterscheidet persönliche Archive von Registraturen? Hier ergibt sich erst dann ein Lösungsansatz, wenn man die den Formierungsprozess katalysierenden Motive analysiert und danach fragt, welche Spuren sie hinterlassen.

Der Begriff Motiv wird hier in einer sehr allgemeinen Bedeutung verwendet, i. S.

eines Beweggrundes, der sowohl individuell-psychologischen als auch funktiona-len oder gesellschaftlichen Ursprungs sein kann. So spiegelt sich etwa im Sam-melauftrag einer Bibliothek ein komplexes Geflecht funktionaler Motive, etwa die Bereitstellung von Forschungsquellen und gesellschaftlicher Motive, etwa der Daseinsvorsorge oder der flächendeckenden Informationsversorgung.58 Diese wiederum bedingen die Bestandstruktur und die Inhalte, stellen also die Benutz-barkeit der Bibliothek sicher. Bei zusammengesetzten Archiven verhält es sich ähnlich. Hier dient der Auftrag, Dokumente mit historischer, gesellschaftlicher oder kultureller Relevanz zu verwahren, ihrer Funktion als Gedächtnisspeicher oder Forschungsstätte. Nimmt man noch die Motive der Archiv-Benutzer mit hin-zu, manifestiert die Gesamtheit aller Motive einen öffentlichen Interaktionsraum, der sich sehr gut mit Schenk als Raum menschlicher Praxis umschreiben lässt.

Anders verhält es sich bei Einheitsarchiven.59 Hier beschränkt sich der Nutzer-kreis auf den Bestandsbildner; demzufolge bestimmen dessen Motive die Formie-rung des Archivs.60 Bestandsbildner von Einheitsarchiven sind entweder juristi-sche Personen, also staatliche Organe, Unternehmen und non-profit-Organisationen oder Privatpersonen. Wendet man sich den juristischen Personen

58 Auf den sehr komplexen Begriff Motiv kann hier nicht weiter eingegangen werden. Auch auf die Frage der zum Teil sehr komplexen Prozesse, die Motive entstehen lassen, wird hier nicht ein-gegangen. Die bewusst sehr kausale Darstellungsweise soll diese Prozesse aber nicht verleug-nen. Sie soll vielmehr dazu beitragen, die Spezifika persönlicher Archive prägnant herauszuar-beiten.

59 Die Darstellung bezieht sich ausschließlich auf die präkustodiale Phase.

60 Selbstverständlich interagiert der Bestandsbildner mit anderen Personen, Gruppen und Instituti-onen, sodass seine Motive auch sozialen Einflüssen unterliegen.

zu, so ist die klassische Ausprägung eines institutionellen Archivs die Verwal-tungsregistratur, die als gut dokumentiertes Beispiel für andere Archivformen die-ses Typs betrachtet werden soll.61 Aufgabe der Registraturen ist die Verwaltung von Schriftgut mit dem Ziel, „aus den Dokumenten und Akten jederzeit den Stand der Bearbeitung ersehen zu können und damit das Verwaltungshandeln der ge-nannten Stellen nachvollziehbar zu halten“62. Diese Agenda konditioniert die re-gistraturbildenden Motive, von denen man als Beispiel die Absicherung des Ge-schäftsganges und die Erfüllung rechtlicher Vorgaben als Beispiel nennen kann.63 Um das genannte Ziel zu erreichen, bedienen sich die Registratur-Mitarbeiter ver-schiedener Hilfsmittel, etwa eines Aktenplans und eines Erschließungsschemas, nach dem die Dokumente und Akten innerhalb eines im Voraus konzeptionierten organisatorischen und technologischen Rahmens geordnet, registriert und aufbe-wahrt werden. Gerade die Schriftgutverwaltung ist ein Bereich, in dem national wie international ausdifferenzierte Regeln und Normen entwickelt wurden. Zuletzt geschah dies vordringlich zur Beherrschung der digitalen Medien mit dem Ziel, adäquate Werkzeuge für die Bearbeitung elektronischer Dokumente oder Akten zu finden.64 Die genannten Fakten verdeutlichen eines: Registraturen und auch ande-re institutionelle Archivtypen werden nach ande-regelbasierten Prozessen formiert. Die diesen Prozessen zugrunde liegenden Motive sind überindividueller und funktio-neller Art.

Ganz anders präsentieren sich dem Betrachter persönliche Archive. Der Bestands-bildner ist eine Privatperson, die zwar unterschiedliche Rollen einnehmen kann65, deren Motive aber nicht mit den in institutionellen Archiven wirksamen Regeln vergleichbar sind. Mit anderen Worten: Keine rechtlichen und normativen Rah-menbedingen, sondern im Gegenteil individuelle Motive formieren ein persönli-ches Archiv, obgleich sicher auch funktionale und soziale Motive vorliegen.66 Die weiter oben im Zusammenhang mit dem Archivgutcharakter von Nachlässen zi-tierten Anmerkungen von Harnack, Flach und Schmitt weisen mit der

61 Weitere institutionelle Archive sind Unternehmensarchive, Universitätsarchive, Verbandsarchive etc.

62 Archivschule Marburg 2009, Lemma Schriftgutverwaltung.

63 Die Motive können in anderen Archivformen differieren, z.B. ist in einer Unternehmensregistra-tur, die Aufbewahrung steuerpflichtiger Unterlagen ein wichtiges Motiv.

64 Beispiele sind die ISO 15489, DOMEA oder MoReq.

65 Vgl. McKemmish 1996, S. 31. McKemmish spricht von „social“ and „business rolls“, und im-pliziert damit, dass persönliche Archive diverse Materialien aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern der Person enthalten können.

66 Etwa seine Funktion als Arbeitsinstrument oder der Austausch von Dokumenten mit Dritten.

Vgl. Kaye u. a. 2006, S. 276ff.

dung der Attribute „individuell“, „sperrig“ und „additiv“ auf den durch langjähri-ge Erfahrung langjähri-gemachten Befund hin, dass Nachlässe nicht mit den üblichen bibli-othekarischen und archivarischen Begriffen zu fassen sind. In persönlichen Archi-ven werden Objekte aufbewahrt, weil sie als Erinnerungsstücke dienen oder für den eigenen Werdegang bedeutend sind, sonst aber keine weitere Funktion haben.

Ein privater Bestandsbildner kann durch Selektion oder planvolle Anordnung der Archivinhalte ein erwünschtes Bild der eigenen Person konstruieren oder sogar den gesamten Nachlass als idealisiertes Vermächtnis anlegen. Das persönliche Archiv bzw. der Nachlass dient dann als Mittel der Identitätsstiftung.67 Es tragen also offenbar höchst subjektive Faktoren zur Formierung eines persönlichen Ar-chivs bei.

Vice versa speichert ein persönliches Archiv die charakterlichen Idiosynkrasien des Bestandsbildners und folglich seine Ansichten, Vorlieben und Abneigungen.68 Die Archivinhalte sind demnach ein Kommentar zu Persönlichkeit ihres Archi-vars. In einem 2001 veröffentlichten Essay schilderte die kanadische Archivarin und Nachlasskuratorin Catherine Hobbs ihre Erfahrungen mit der Individualität literarischer Nachlässe. Für den oben geschilderten höchst individuellen Bezug zwischen Subjektivität und Konstruktion verwendete sie den Begriff „narrative value“ und verwies auf die in literarischen Nachlässen ihrer Meinung nach beson-dere Ausprägung dieser Faktoren: “[…] personal documents [...] are in many sen-ses creations of the self and participate in a process of storytelling and de facto autobiography – of the self presenting or representing the self.“69

Gleichwohl reflektiert ein persönliches Archiv mehr als die dahinterstehende Per-sönlichkeit. Indem dort E-Mails, Briefe oder Geschenke aufbewahrt werden, spei-chert es auch die Äußerungen Dritter und verleiht den Diskussionen einer be-stimmten Gruppe, in der der Bestandsbildner sich bewegte oder dem Zeitgeist generell Ausdruck.70 Als ein solches Beispiel gesellschaftlicher Prozesse kann ein literarischer Nachlass im Rahmen der Literatursoziologie analysiert werden. Doch auch diese, die Persönlichkeit transzendierenden Aspekte eines persönlichen Ar-chives, ändern nichts am individuellen Formierungsprozess. Denn es ist der be-treffende Bestandsbildner, der über Bewahren oder Vernichten entscheidet.

67 Vgl. Kirk, Sellen 2008, S. 5f; McKemmish 1996, S. 30f; Kaye u. a. 2006, S. 279f und Cox 2008, S. 137ff.

68 Vgl. Hobbs 2001, S. 127.

69 Hobbs 2001, S. 131.

70 Vgl. Summers, John 2001, S. 383.

Wenn man nun die Maßstäbe institutioneller Archive anlegt, bleibt auf Seiten per-sönlicher Archive wenig Vergleichbares übrig. Bis auf durch funktionale und sozi-ale Motive repräsentierte Berührungspunkte dominieren in persönlichen Archiven Idiosynkrasien über Regeln und Normen oder wie Hobbes es ausdrückte: „the creating context is ‚by themselves‘, not as part of some formal record-keeping process, life cycle, or continuum.“71 Genau dies ist bei der Beschäftigung mit persönlichen Archiven zu berücksichtigen. So ist es nicht verwunderlich, dass eine österreichische Forschergruppe in ihrem Bericht über die Entwicklung einer Heim-Archivierungs-Lösung zu dem Schluss kam, dass „the differences of home archiving and institutional archiving are manifold“72. Die darauf folgende Aufzäh-lung technischer und organisatorischer Differenzen zwischen beiden Archivie-rungssphären endet mit der lapidaren Bemerkung: “Preservation endeavours in institutional settings have to meet the legal and institutional obligations, while these limitations do not apply for private users.”73

Individuelle Motive hinterlassen über den Formierungsprozess Spuren in Materia-lität und Inhalt des persönlichen Archivs, die sich in der biographischen oder der Editionsforschung nachverfolgen lassen. Nachlässe sind demnach ehemalige per-sönliche Archive und spiegeln als solche die Individualität des Bestandsbildners.

Sie sind informelle, unstrukturierte Archive, da überindividuelle Regeln und Normen bei der Formierung nicht zur Anwendung kommen. Hier liegt der funda-mentale Unterschied zur Schriftgutverwaltung: eine vorausschauende Planung der Archivierung findet nicht statt, Hilfsmittel wie Aktenpläne oder Metadaten-Formate kommen nicht zur Anwendung. Für die präkustodiale Phase gilt viel-mehr, dass in persönlichen Archiven selektive und individuelle Archivierungs-Strategien eingesetzt werden und die Langzeitarchivierungs-Kenntnisse des Be-standsbildners höchst defizitär sein können. Die Adaption von Strategien und Me-thoden aus anderen Bereichen ist daher nicht ohne weiteres möglich. Eine Bemer-kung Catherine Hobbs bezüglich der Bewertungspraxis ihrer Kollegen gilt daher auch für die Akteure der Langzeitarchivierung: “[…] we need to think more of an archives of character than of achievement, more of documenting our complex inner humanity than our surface activities.”74

71 Hobbs 2001, S. 129.

72 Strodl u. a. 2008, S. 118.

73 Strodl u. a. 2008, S. 118.

74 Hobbs 2001, S. 135. Hobbs näherte sich ihrem Thema über die Bewertungstheorie, die von der angloamerikanischen Schule um Schellenberg und Cook geprägt war. Hobbs forderte einen sen-siblen Umgang mit den individuellen Motiven. Sie sollen in die Bewertungsentscheidungen ein-fließen und so Bewertungsmaßstäbe, die ja aus dem institutionellen Umfeld stammen, umfor-men. Vgl. hierzu auch die Darstellung von Schellenbergs Theorie in Abschnitt 2.5.2 und 4.1.2.