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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

2 Digitale Nachlässe als persönliche Archive – Grundlagen für die Langzeitarchivierung

2.6 Problemfelder der Langzeitarchivierung digitaler Nachlässe

2.6.5 Authentizität und Integrität

Der Quellenwert eines digitalen Objektes für Wissenschaft und Forschung ist un-ter anderem von seiner Authentizität und seiner Integrität abhängig. Er bemisst sich daran,

 ob eindeutige Informationen über das Objekt, etwa zum Autor oder zur Ent-stehung, vorhanden sind (Authentizität),

 ob sein Inhalt entweder unverändert überliefert oder Inhaltsänderungen ver-lässlich dokumentiert sind (Integrität).

Die Feststellung der Authentizität und Integrität166 eines digitalen Dokumentes beschränkt sich nicht auf die Methoden der klassischen Editionsphilologie. Viel-mehr sind die unter Punkt 2.5.3. erörterten Phänomene zu beachten: Die Volatilität digitaler Medien, Hardware-Schäden, system- oder nutzungsbedingte Kopier- Lösch- und Überschreibungsvorgänge können zum Verlust oder der Veränderung von Informationen führen, die zum Nachweis von Authentizität und Integrität ei-nes Objektes notwendig sind. Im Vergleich zu analogen Objekten können digitale Objekte zudem von Dritten leichter und sozusagen auf Knopfdruck manipuliert werden. Dankbar ist, dass Mitarbeiter oder Erben Textpassagen spurlos ändern oder löschen, sodass von einem authentischen und integren Text nicht mehr die Rede sein kann.

In Bezug auf die Integrität ergeben sich noch weitere Probleme, die unter Punkt 2.4.1 schon erörtert wurden. Dynamische Publikationsmedien wie das Internet erlauben eine bisher nicht gekannte Datenfluktuation.167 Webseiten, Blogs oder soziale Netzwerke sind in diesem Sinne keine abgeschlossenen Dokumente; sie können im Gegenteil vom Autor und von Dritten ständig erweitert und variiert werden; Zwischenstufen gehen verloren. Die Hypertextstruktur von Webinhalten führt zudem dazu, dass nach Löschung von Verweisen nur noch unvollständige, desintegrierte Objekte zurückbleiben.168

166 Zur einer allgemeinen Definition von Authetizität und Integrität vgl. INTERpares Authenticity Task Force 2002.

167 Vgl. Hartling, Suter 2010, S. 2.

168 Vgl. hierzu auch Kamzelak 2010, S. 470. Für E-Mails: Marshall 2007, S. 65ff und für die Prob-lematik bei Webauftritten: Garfinkel, Cox 09.-11.02.2009, S. 8f.

2.6.6 Originalität

Für digitale Objekte gilt in einem verschärften Maße das, was Walter Benjamin mit seinem Begriff der „Aura“ in Bezug auf die Natur und dreidimensionale ana-loge Kunstwerke beschrieb. Nach Benjamin fällt selbst in der höchstvollendsten Reproduktion eines aus: „das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“169. Fragt man nach dem „Hier und Jetzt“, eines digitalen Objektes, beginnen die Schwierigkeiten schon bei der Defi-nition: Was ist das Original, wenn an seiner Darstellung mehrere Komponenten (Hard- und Software) beteiligt sind? Der Bitstream aus Nullen und Einsen? Der originale Träger? Ist das originale Objekt nur dann sichtbar, wenn an seiner Dar-stellung exakt jene Komponenten beteiligt sind, die schon an seiner Entstehung eingesetzt wurden? Ist dann nicht schon dieser Vorgang nur wieder eine Repro-duktion? Oder ist Originalität an das Vorhandensein eines analogen Trägerstoffs, wie z.B. Papier, gebunden, auf dem eine Handschrift oder ähnliche Informationen einmalig und untrennbar eingeschrieben wurde? Dazu kommt ein Aspekt, der schon im Rahmen des Quantitäts-Problems erwähnt wurde. Digitale Objekte und Informationen können beliebig oft vervielfältigt und damit auch ausgetauscht werden. Oft sind dann Original und Kopie nicht voneinander zu unterscheiden.

Auch auf diese Weise scheint sich der Begriff des Originals zu verflüchtigen.170 In der Praxis ergibt daraus die schon weiter oben erörterte Frage der Archivwür-digkeit (Punkt 2.5.2 dieses Kapitels): Was, an der Stelle eines Autographen oder eines dreidimensionalen Objektes, könnte als digitales Original archiviert werden?

Soll der intrinsische Wert oder sollen die signifikanten Eigenschaften bewahrt werden? Allgemein gilt: Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit werden die Begriffe des Originals und auch der Unikalität, auf denen nach Benjamin die Aura eines Objektes beruht, fragwürdig. Denn wenn ein digitales Manuskript beliebig oft kopiert und zudem in vielen Fällen nur noch mithilfe von Konvertierungspro-grammen und weiteren Darstellungshilfen lesbar gemacht werden kann, verliert der Begriff des Originals weitgehend seinen Sinn. „Das Blatt wo Seine Hand ge-ruht“171 existiert dann im digitalen Umfeld nicht mehr.

169 Benjamin 1963, S. 13.

170 Vgl. Andrews 2010, 18.

171 von Goethe 1833, S. 183. Erste Zeile von Goethes Gedicht „Zu einer Handschrift Friedrichs des Großen“.

2.6.7 Zusammenfassung

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit konnte gezeigt werden, dass eine Langzeitar-chivierungs-Strategie für digitale Schriftstellernachlässe mindestens sechs Prob-lemfelder adressieren sollte: Volatilität, Heterogenität, Quantität, Distribution, Authentizität und Integrität sowie Originalität. Diese sechs Problemfelder sind auch für die präkustodiale Intervention maßgebend, insofern sie als integraler Be-standteil der Strategie, die Entstehung dieser Probleme eindämmen oder sie doch zumindest für die spätere Bearbeitung im Literaturarchiv beherrschbar machen sollte. Dabei kann es wie gesagt nicht um die Herstellung OAIS-konformer SIPs gehen oder um die Einführung einer Schriftgutverwaltung in einem persönlichen Archiv gehen. Vielmehr sollten Interventionsmaßnahmen die folgenden Anforde-rungen zumindest in Ansätzen erfüllen:

 das präkustodiale Management und die Übernahme einzelner Objekte und der Objektträger durch Literaturarchive (Volatilität und Heterogenität),

 das präkustodiale Management und die möglichst frühzeitige Übernahme un-terschiedlicher Objekt-Aggregationen (bis hin zum kompletten persönlichen Archiv) durch Literaturarchive (Heterogenität),

 die Bewältigung und nach Bedarf auch Bewertung großer Objektmengen (Quantität),

 die Erfassung und die Dokumentation aller Speicherorte und insbesondere online-gespeicherter Objekte (Distribution),

 die Erfassung und Dokumentation von Informationen, die für den Nachweis der Authentizität und Integrität digitaler Objekte notwendig sind (Authentizität und Integrität) und die

 die Bewahrung und der Nachweis der Originalität eines digitalen Objektes (Originalität)

Alle Aussagen zur präkustodialen Intervention sind an dieser Stelle selbstver-ständlich noch als hypothetisch und vorläufig zu betrachten. Aufgabe der folgen-den Kapitel ist es, sie bei Bedarf zu korrigieren und zu ergänzen.

2.7 Fazit

In Kapitel 2 wurden die theoretischen Grundlagen der Arbeit diskutiert und entwi-ckelt. Es folgen nun die Ergebnisse dieser Diskussion in Kurzform

Digitale Nachlässe sind inaktive (oder ehemalige) persönliche Archive

Um digitale Nachlässe hinsichtlich der Langzeitarchivierung betrachten zu kön-nen, schlägt die vorliegende Arbeit einen Perspektivwechsel vom Nachlass zum persönlichen Archiv vor. Persönliche Archive sind demnach Einheitsarchive, die funktional auf den Bestandsbildner bezogen sind. Im Moment der Übernahme durch eine nachlassverwaltende Institution, werden sie Teil eines zusammenge-setzten Archives (der gesamten Nachlassbestände dieser Institution). Dann ist der Formierungsprozess des persönlichen Archives abgeschlossen. Als inaktives oder ehemaliges persönliches Archiv wird es zum Nachlass des Bestandsbildners.172 Das gilt natürlich auch für Teile des Archivs, die sukzessive in eine Archivinstitu-tion übertragen werden. Digitale Nachlassmaterialien sind unter dieser Vorausset-zung mit klassischem Archivgut vergleichbar. Sie werden aber im Unterschied zu Registraturen und anderen institutionellen Formen des Dokumentenmanagements nicht nach vorgegebenen Regeln, sondern individuell und informell formiert.

Definition digitaler Nachlass

Ein persönliches Archiv besteht aus allen lokalen und online abgelegten Objekten, die sich unter der Kontrolle des Bestandsbildners befinden oder zumindest über einen Online-Account des Bestandsbildners zugänglich sind. Persönliche digitale Archive sind somit nicht auf einen oder wenige lokale Speichermedien begrenzt, sondern umfassen – analog zum Konzept des Personal Space of Information – alle Objekte, auf die der Bestandsbildner zugreifen kann.

Dem entspricht dann auch wieder die ganz zu Anfang dieses Kapitels generisch aus den RNA abgeleitete Definition des Begriffs digitaler Nachlass:

Als (echter) digitaler Nachlass wird die Summe aller digitalen Objekte ver-standen, die sich zu Lebzeiten einer Person bei ihr zusammengefunden

172 Die angelsächsische Archivwissenschaft verwendet den Terminus „historical record“ für Do-kumente oder Akten, deren Lebenszyklus abgeschlossen ist. Daher könnte man einen Nachlass auch als historisches persönliches Archiv bezeichnen.

ben. Wurden digitale Objekte durch Dritte nachträglich hinzugefügt, spricht man von einem angereicherten oder erweiterten digitalen Nachlass.

Konsequenzen für die Langzeitarchivierung

Die Deutung digitaler Nachlässe als persönliche Archive erlaubt Prognosen über die Auswirkungen digitaler Medien auf deren Archivierung, Erschließung und Benutzung und die Entwicklung eines Lösungsansatzes: Klassische kustodiale Verfahren und Modelle der Langzeitarchivierung müssen dazu um präkustodiale Maßnahmen speziell für persönliche Archive ergänzt werden. Die Berücksichti-gung der präkustodialen Phase, also der Zeitspanne in der sich ein digitales Objekt im persönlichen Archiv befindet und noch nicht an eine Archivinstitution überge-ben wurde, ist von besonderer Wichtigkeit, weil die Überlieferung eines solchen Objekts vom Augenblick seiner Entstehung an durch Obsoleszenz, Degradation sowie andere Faktoren in Frage gestellt ist. Digitale Objekte in persönlichen Ar-chiven sind deshalb besonders gefährdet, weil dort keine standardisierten Prozesse wie etwa im Bereich der Verwaltungen oder der Unternehmen etabliert sind. Des-wegen sollten Mitarbeiter des Literaturarchivs mit dem Bestandsbildner zusam-menarbeiten. Dieses Verfahren wird mit dem Begriff „präkustodiale Intervention“

bezeichnet.

Konsequenzen für die Erschließung und Benutzung

Auch die Erschließung und Benutzung digitaler Nachlässe im Archiv darf nicht losgelöst von der präkustodialen Phase betrachtet werden. Konzepte und Metho-den, die für analoge Nachlässe entwickelt wurMetho-den, können nicht eins-zu-eins übernommen werden. Die individuelle und informelle Nutzung der digitalen Me-dien durch den Bestandsbildner schränkt ihre Anwendbarkeit ein oder bricht sie sogar auf. Für die Erschließung wurde das beispielhaft am Provenienzprinzip so-wie für die Frage der Archivwürdigkeit gezeigt; im Falle der Benutzung am Bei-spiel der Editionswissenschaft.

Problemfelder der präkustodialen Intervention

Als Ergebnis der Diskussion konnten Problemfelder identifiziert werden, die bei der Entwicklung einer Strategie für digitale Nachlässe zu berücksichtigen sind.

Anhand dieser Problemfelder wurde unter Punkt 2.6 ein Anforderungskatalog für die präkustodiale Intervention in persönliche Archive entwickelt.

An dieser Stelle bleibt festzuhalten: Die langfristige Erhaltung digitaler Nachlässe wird durch den präkustodialen Zugriff auf persönliche Archive und die frühest-mögliche Übernahme von Archivinhalten durch die betreffende Archivinstitution

die Voraussetzung für alle weiteren Maßnahmen der Langzeitarchivierung, da ansonsten Teile eines Nachlasses unrettbar verloren gingen. Auf der präkustodia-len Intervention und ihrer Integration in die Arbeitsprozesse von Nachlasskurato-ren liegt daher der Fokus dieser Arbeit.

3 Persönliche Archive, Langzeitarchivierung und