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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit

Meine Nachlassenschaft ist so kompliziert, so mannigfaltig, so bedeutsam, nicht bloß für meine Nachkommen, sondern auch für das ganze geistige Weimar, ja für ganz Deutschland, dass ich nicht Vorsicht und Umsicht genug anwenden kann, um jenen Vormündern die Verantwortlichkeit zu erleichtern und zu verhüten, daß durch eine rücksichtslose Anwendung der gewöhnli-chen Regeln und gesetzligewöhnli-chen Bestimmungen großes Unheil angerichtet werde. Meine Manuskripte, meine Briefschaften, meine Sammlungen jeder Art, sind der genausten Fürsorge wert. Nicht leicht wird jemals so vieles und so vielfaches an Besitztum interessantester Art bei einem einzigen Individu-um zusammenkommen.1

Mit diesen Worten stieß Goethe das Tor zu einer seinerzeit ganz neuartigen Be-schäftigung mit Nachlässen auf. Seine Sorge, der er in einem Gespräch mit dem sächsisch-weimarischen Kanzler Friedrich von Müller Ausdruck gab, war durch-aus berechtigt, lag doch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein das Sammeln und Bewahren von Nachlässen vornehmlich in den Händen von Liebhabern. Von einer professionellen Herangehensweise, der sich Bibliotheken und Archive damals etwa schon bei mittelalterlichen Handschriften oder administrativen Schriftgut befleißigten, konnte – mit Ausnahmen – keine Rede sein. Nachlässe berühmter Persönlichkeiten wurden auseinandergerissen, durch viele Hände gereicht und genossen mehr den Rang von Reliquien als von wissenschaftlichen Dokumenten.

Wenn sie den Weg in Bibliotheken oder Archive fanden, geschah dies durch Zufall oder durch das Engagement Einzelner. In diesem Falle wurden die Dichterhand-schriften wie Codizes behandelt, was sich für die Forschung als wenig adäquat erwies.2 Diese Gefahr stand Goethe vor Augen als er sein Testament abfasste und die Forderung formulierte, dass sein Nachlass als Ganzes zusammengehalten wer-de. Von hier führt eine direkte Linie zur Gründung des Goethe- und Schiller-Archives in Weimar. Weitere Gründungen folgten, nicht zuletzt beeinflusst von den programmatischen Schriften Wilhelm Diltheys, der „Archive für Literatur“

forderte.3

1 Vgl. von Goethe 1950, S. 737.

2 Eine heute noch lesenswerte Übersicht über die Entwicklung geben Beutler 1930, S. 227ff und Stoltzenberg 1987, S. 67ff.

3 Vgl. Dilthey 1889; Dilthey 1921. Literaturangaben ohne Seitenzahl zeigen in dieser Arbeit ent-weder unpaginierte Dokumente (z.B. Webseiten) an oder wollen auf den Beitrag als solches

hin-Heute scheint es uns selbstverständlich, dass Literaturarchive Nachlässe bedeu-tender Schriftsteller4 sammeln und bewahren. Das noch aus der Gründerzeit stammende Konzept der Literaturarchive als philologische Forschungsstätte und Stätte der Literaturvermittlung hat sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz bewährt, auch wenn sich die Akzente vom historistischen Forschungsan-satz Diltheys auf die werkkritischen Ansätze des 20. und 21. Jahrhunderts verla-gert haben. Eine Entwicklung stellt Literaturarchive allerdings vor neue Heraus-forderungen: Der Siegeszug der digitalen Medien.

Unter diesem Aspekt leuchtet Goethes eingangs zitierte Sorge von neuem auf. Die Erhaltung von Schriftstellernachlässen wird wieder unsicher; allerdings nicht durch die inkompetente Handhabung von Liebhabern oder Erben. Vielmehr sind es die digitalen Dokumente und die Datenträger selbst, die Anlass zur Beunruhi-gung geben. In einem Artikel sprach Terry Kuny von der National Library of Ca-nada schon 1997 vom digitalen Zeitalter als „digital Dark Ages“ und verglich die Situation mit der des Mittelalters:

As we moves into the electronic era of digital objects, it is important to know that there are new barbarians at the gate and that we are moving into an era where much of what we know today, much of what is coded and writ-ten electronically, will be lost forever. We are, to my mind, living in the midst of digital Dark Ages; consequently, much as monks of times past, it falls to librarians and archivists to hold to the tradition which reveres history and the published heritage of our times.5

Obsolete Formate, funktionsuntüchtige Hardware, ausrangierte Datenträger und die verteilten Speichermöglichkeiten des Internets werfen Probleme auf, denen die Produzenten digitaler Dokumente ebenso gegenüber stehen wie die bewahrenden Organisationen selbst. Bibliotheken, Archive und Museen6 haben sich dieser Auf-gabe angenommen, wie die seit über einer Dekade national wie international auf-gelegten Programme zur Langzeitarchivierung digitaler Daten zeigen. Allerdings

weisen, etwa weil er beispielhaft eine bestimmte Fragestellung bearbeitet. Hiervon wird vor al-lem im Literaturbericht (Kapitel 3) häufig Gebrauch gemacht.

4 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden durchgehend die maskuline Form verwen-det. Das Femininum ist in dieser Formulierung stets enthalten.

5 Kuny 1997, S. 1.

6 Obwohl zu den Gedächtnisorganisationen auch die Museen gehören, beschränkt sich diese Arbeit in der Regel auf die Nennung von Archiven und Bibliotheken bzw. Literaturarchiven, da sie die Hauptträger der Archvierung von literarischen Nachlässen sind. Nur bei einer ausdrücklichen Be-zugnahme werden auch die Museen genannt.

beschränken diese sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehrheitlich nicht auf die von Einzelpersonen erstellten digitalen Dokumente. So sucht man auch Strategien zur Bewahrung digitaler Schriftstellernachlässe durch Literaturar-chive bisher meist vergeblich.

In der bibliothekarischen und archivarischen Beschäftigung mit Nachlässen scheint ein eigentümlicher Hang zur Verzögerung zu liegen. Die Erkenntnis, dass Autorenhandschriften eine andere Behandlung als mittelalterliche Handschriften erfordern, setzte sich in Bibliotheken und Archiven erst spät durch. Nunmehr wie-derholt sich dies unter anderen, digitalen Vorzeichen. Das mag zum einen daran liegen, dass das Gros an digitalen Nachlässen noch nicht in den Literaturarchiven angekommen ist und Nachlasskuratoren daher ein Bewusstsein für die spezifi-schen Probleme der digitalen Langzeitarchivierung noch nicht ausreichend entwi-ckeln konnten; zum anderen am „sperrigen Rohstoff Nachlass“7 selbst, der sich einer einheitlichen Behandlung, im Gegensatz zu institutionell produzierten digi-talen Dokumenten, entwindet.

Bei der KOOP-LITERA Tagung 2003 in Mattersburg hielt Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach einen Vortrag, in dem er über die Erfahrun-gen des Archivs bei der Erschließung digitaler Objekte aus dem Nachlass von Thomas Strittmatter berichtete.8 Der im Jahre 2000 von den Eltern des Schriftstel-lers an das Deutsche Literaturarchiv übergebene Bestand war der erste seiner Art, der nennenswerte digitale Anteile enthielt. Bülow berichtete über die technologi-schen und auch werkkrititechnologi-schen Probleme, mit denen sich die Mitarbeiter des Ar-chivs mit einem Male konfrontiert sahen. Unabhängig von der technologischen Aufbereitung erwies sich nämlich auch die Identifizierung so wichtiger Faktoren wie der Autorenschaft oder diverser Fassungen als schwierig. Bülow Vortrag ist einer der wenigen deutschsprachigen Beiträge zum Thema, der vor 2010 entstand.

Deswegen konstatierte Oliver Brandt vom Forschungsprojekt kopal9 im Jahre 2006 mit Recht, dass die Frage wie man digitale Nachlässe von Wissenschaft-lern, Schriftstellern oder Musikern retten solle, völlig ungelöst sei.10 Der Diskurs über diese Frage kam hierzulande erst in den letzten Jahren langsam in Gang; das Problem selbst muss man aber vorerst noch als ungelöst bezeichnen.

7 Karl Dachs prägte diesen Begriff in einem Aufsatz über due Katalogisierungsprinzipien von Nachlässen. Vgl. Dachs 1965, S. 81.

8 Vgl. von Bülow 8./9. Mai 2003.

9 Kooperativer Aufbau eines Langzeitarchivs digitaler Informationen

10 Vgl. Bröhm 2006.

Lebhafter verläuft der Diskurs im Ausland, insbesondere im angloamerikanischen Raum. Dabei fällt eine Beschäftigung mit persönlichen Archiven und Familienar-chiven auf, die hierzulande nicht stattfindet. Sie bezieht die ganze Breite des Phä-nomens mit ein, vom Archiv des Durchschnittsbürgers bis hin zu Archiven von wissenschaftlicher und historischer Bedeutung. Genannt seien an dieser Stelle die Publikationen von William Jones zum persönlichen Informationsmanagement11, von Neal Beagrie zu „Personal Digital Collections“12 und von Richard J. Cox zur Bedeutung persönlicher Archive für die Gesellschaft und für das Berufsbild von Archivaren.13 Diese Autoren richteten die Aufmerksamkeit auf die digitalen Ar-chive breiterer Bevölkerungsschichten und betonten deren Wert für die Erfor-schung der Alltagsgeschichte. Für diese Archive seien Instrumente zu entwickeln, die eine adäquate Verwaltung der digitalen Bestände durch die Privatperson selbst ermöglichten. Gleichzeitig führten in den vergangenen Jahren renommierte Bibli-otheken in Großbritannien und den USA Projekte durch, die sich mit der Archivie-rung und Erschließung digitaler Nachlassbestände prominenter Persönlichkeiten befassten, so etwa die Bodleian Library, Oxford oder die Emory's Manuscript, Archives, and Rare Book Library in Atlanta, Georgia. Von hier aus ist es ein di-rekter Schritt zu der Feststellung, dass die Forschung im angloamerikanischen Raum schon tiefer in das Thema eingedrungen ist als hierzulande.

Bei der Suche nach einer geeigneten Strategie könnte demzufolge ein Blick auf die theoretischen und praktischen Positionen der angelsächsischen Forschung hilf-reich sein. Zudem geraten die Schriftsteller als Bestandsbildner digitaler Nachläs-se in eine SchlüsNachläs-selposition, der die Literaturarchive mehr Aufmerksamkeit zollen sollten; allerdings nicht im Hinblick auf die auch jetzt schon sehr professionell betriebene Bestandsakquise, sondern in Bezug auf den Zeitraum vor der Akquise, der von den Literaturarchiven bisher als präkustodial – und damit außerhalb ihrer Aufgaben liegend – angesehen wurde. Als Archivare ihrer selbst verwalten und erweitern Schriftsteller ihre persönlichen Archive mit den darin enthaltenen digita-len Objekten – und damit ihren zukünftigen Nachlass. Ihre Dispositionen in Be-zug auf Computer und Internet entscheiden somit darüber, in welchem Zustand sich digitale Nachlässe befinden. Es ist die Ausgangshypothese dieser Arbeit, dass eine Intervention von Seiten des Literaturarchivs in die präkustodiale Phase, etwa durch Beratung und andere geeignete Maßnahmen, Voraussetzung für die Erhal-tung digitaler Schriftstellernachlässe ist. Der Kooperation zwischen Literaturar-chiven und Schriftstellern in dieser Sache sowie den Maßnahmen, die notwendig sind, um digitale Objekte als Nachlässe in geeigneter Form an ein Literaturarchiv

11 Vgl. Jones, Teevan 2007.

12 Vgl. Beagrie 2005.

13 Vgl. Cox 2008.

zu übergeben, widmet diese Arbeit ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ihr Ziel ist es, Goethes Sorge um die „komplizierte Nachlassenschaft“ in Bezug auf digitale Me-dien neu zu artikulieren und durch Lösungsvorschläge zu entschärfen.