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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

2 Digitale Nachlässe als persönliche Archive – Grundlagen für die Langzeitarchivierung

2.4 Persönliche Archive und digitale Langzeitarchivierung

2.4.1 Von analog zu digital

In der vordigitalen Zeit beschäftigten sich Nachlasskuratoren retrospektiv mit per-sönlichen Archiven. Ihre Aufgabe war die Bewertung und Erschließung des schon als Nachlass vorliegenden persönlichen Archivs.75 Zweck dieser Aktivitäten war die Aufarbeitung der von dem Bestandsbildner kumulierten analogen Objekte, um so eine sachgerechte und benutzeradäquate Aufbewahrung und Zugriffsmöglich-keit auf die Bestände zu gewährleisten. Der dauerhafte Zugang zu Nachlässen stand für sie nicht in Frage – Papier ist geduldig! Mit dem Aufkommen der digita-len Medien änderten sich Rahmenbedingungen. Roland Kamzelak erläuterte 2010 die Unterschiede:

Während analoge Schrift in der Wechselwirkung zwischen Träger (Seide, Papiere, Holz, Leder usw.) und Schreibmaterial (Tinte, Bleistift, Filzschrei-ber, Pigmente, Druckerschwärze usw.) steht, wird die Lesbarkeit digitaler Schrift durch den Träger, die Computerhardware, das Betriebssystem und das Schreibprogramm beeinflusst.76

Mit anderen Worten: Analoge Medien verarbeiten Informationen in kontinuierli-chen Werten. Sie speichern sie auf einem Träger in analogen Zeikontinuierli-chen und Signa-len, die sich dem Rezipienten unmittelbar (etwa durch Sehen, Lesen, Hören) so-wie in manchen Fällen vermittelt durch ein Abspielgerät (etwa Plattenspieler, Filmprojektor, Tonbandgerät) erschließen. Digitale Medien hingegen wandeln analoge Informationen mit Hilfe einer Software in diskrete Werte um, die in ei-nem bestimmten Format auf eiei-nem geeigneten Träger abgelegt werden. Für die

75 Vgl. von Harnack 1947; Meisner 1959; Mommsen 1963; Dachs 1965 und Schmidt 1965.

76 Kamzelak 2010, S. 473.

Darstellung der gespeicherten Information benötigt der Rezipient wiederum Hilfsmittel, nämlich eine geeignete Soft- und Hardware; ohne sie ist eine Darstel-lung digital gespeicherter Informationen nicht möglich.77

Jeff Rothenberg beschrieb 1995 das notwendige Minimum zur Rekonstruktion digitaler Inhalte und postulierte damit auch Anforderungen an die Langzeitarchi-vierung digitaler Objekte.78 Zunächst müssen die binären Informationen – Rot-henberg nennt sie „Bitstream“ – vom ursprünglichen Träger extrahiert und auf einem langzeitstabilen Speichersystem abgespeichert werden. Der Bitstream re-präsentiert das Objekt auf der physischen Ebene (das sog. physische Objekt).79 Der Extraktions-Vorgang erfordert, dass der ursprünglich physische Träger, etwa eine Festplatte, eine Diskette, CD oder DVD, noch lesbar ist. Zudem müssen ein geeignetes und noch funktionsfähiges Lesegerät, ein kompatibles Betriebssystem und eine Treibersoftware, die das Lesegerät mit einem Computer verbindet, in Betrieb sein.Der auf diese Weise zugänglich gemachte Bitstream kann dann ei-nem Format zugeordnet und von einer geeigneten Software interpretiert werden (logisches Objekt). Erst nach der Interpretation und durch die Anzeige in einem geeigneten Ausgabegerät steht das Objekt dem Nutzer in seiner vollen Funktiona-lität zur Verfügung; er kann es nun lesen oder weiterbearbeiten (konzeptuelles Objekt). In Summe stellt sich die Rekonstruktion (oder Darstellung) eines digita-len Objektes als eine Kaskade von Prozessen dar, die nicht unterbrochen werden darf und an der verschiedene Instanzen (Soft- und Hardware) beteiligt sind. Ande-renfalls ist die gespeicherte Information für den Nutzer nicht mehr zugänglich.

Ging Rothenberg 1995 noch von einer lokalen Speicherung der Daten auf einem magnetischen oder einem optischen Laufwerk aus, stellte das in den folgenden Jahren aufkommenden Internet noch komplexere Anforderungen an Archivie-rungs-Strategien. Aufgrund der geringen Kosten kann gegenwärtig jeder, der über einen Internetzugang verfügt, Inhalte ohne die vermittelnde Instanz eines Verlags in Echtzeit publizieren und teilen. Da es sich um ein dynamisches Publikations-medium handelt, können Inhalte unbeschränkt und spurlos verändert oder kopiert werden, während temporäre Versionen verloren gehen. Hypertext und Web 2.0 fördern die virtuelle Vernetzung von Inhalten, sodass neue Formen der Interaktion und der Interaktivität entstehen konnten. Außerdem revolutioniert das Internet nicht nur die Publikations- und Interaktionsmöglichkeiten. Cloud-basierte Ange-bote wie Google, Facebook oder iCloud vereinfachen die webbasierte Produktion,

77 Vgl. hierzu auch Ries 2010, S. 152f.

78 Zum Vorgang der Rekonstruktion vgl. Rothenberg 1995, S. 42ff.

79 Zur physischen, logischen und konzeptuellen Ebene eines digitalen Objektes vgl. Neuroth u. a.

2009, S. 7:3.

Vervielfältigung und Verbreitung privater (oder semi-privater) Aufzeichnungen und Nachrichten und ermöglichen das Archivieren persönlicher digitaler Daten in der Cloud.80 Zunehmend scheint es, dass die lokale Festplatte zugunsten der Cloud abdankt und zukünftig viele private Aufzeichnungen mehrheitlich online gespeichert und verfügbar sind.81 Die Folge ist, dass ein persönliches Archiv nicht mehr nur in Form Zettelkästen, Aktenordnern oder Computerlaufwerken lokali-sierbar ist, sondern sich auch auf verschiedene Online-Speicherplätze verteilt.

Diese Speicherplätze gehören aber rechtlich nicht dem Bestandsbildner, sondern werden von Dritten, den Anbietern der Cloud, bereitgestellt. In diesem Sinne ist ein persönliches Archiv mit einem Personal Space of Information (PSI) vergleich-bar. Diese im Rahmen des persönlichen Informationsmanagement verwendete Metapher bezeichnet alle Informationsobjekte, die eine Person unter Kontrolle hat – einschließlich jener Objekte, „that the person might like to know about and con-trol but that is under the concon-trol of others“82. Obwohl diese Vorstellung aus einem anderen Zusammenhang stammt, erhellt sie die Situation, in der sich Archivinsti-tutionen befinden, die digitale Nachlässe übernehmen. Ein persönliches Archiv ist im digitalen Zeitalter identisch mit allen Objektablagen und den Online-Accounts des Bestandsbildners. Es ist an einem Ort lokalisierbar und zugleich über das Netz verteilt.

Des Weiteren sind die Besonderheiten der Online-Speicherung zu beachten. So enthalten zum Beispiel Hypertexte im Vergleich zu reinen Textdokumenten kom-plizierte, dynamische Strukturen. Sie bestehen nicht nur aus einem Quelltext, son-dern enthalten weitere Komponenten, etwa die multimedialen Inhalte oder verlin-ken Seiten, die möglicherweise an anderer Stelle gespeichert sind und unabhängig vom Quelltext geändert, gesperrt oder gelöscht werden können. Das Ergebnis sind unvollständige, desintegrierte Objekte, worauf dann etwa tote Links hinweisen.

Soziale Netzwerke und andere interaktive Angebote werfen noch weitergehende Probleme auf. Etwa danach, ob und wie die Interaktivität und die Lagerung eines Web 2.0-Profils innerhalb des Netzwerkes mit den komplexen Referenzen aus Profilverlinkungen, Kommentaren, Terminen etc. bewahrt werden können. Nach-lassverwaltende Institutionen müssen daher auch die Frage beantworten, wie diese

80 Zur Verbreitung online generierter Inhalte vgl. Gantz 2008. Gantz stellt in diesem Beitrag auch die Behauptung auf, dass 2011 die produzierten Informationen den verfügbaren Speicherplatz übersteigen. Dieser Effekt ist aber bis dato nicht eingetreten.

81 Zu deren Auswirkungen des Internets auf Literatur und Literaturarchive vgl. Hartling, Suter 2010 und Kamzelak 2010.

82 Jones 2010, S. 4139. Der Begriff „Personal Space of Information“ wurde hier nur eingeführt, um das Verständnis persönlicher Archive hinsichtlich ihrer online gespeicherten Anteile zu erleich-tern. Er wird in dieser Arbeit nicht weiter verwendet.

komplizierten Strukturen adäquat archiviert und zur Benutzung zur Verfügung gestellt werden können? 83

Zusammenfassend kann man anhand dieser wenigen Beispiele sagen: was im ana-logen Umfeld aufgrund der Spezifika persönlicher Archive schon angelegt oder vorhanden war, verdichtet und intensiviert sich nun und erhält eine neue Qualität.

Additivität (Schmidt) oder individuelle Vielgestaltigkeit (Dachs) bedeutet im digi-talen Umfeld eben nicht nur Additivität und individuelle Vielgestaltigkeit der im Nachlass enthaltenden Objekte sondern ebenso der Formate, der Trägermedien und der beteiligten Computer- oder Cloud-Systeme. Nachlasskuratoren erleben derzeit einen Paradigmenwechsel, da sie nun neben den immer noch vorhandenen analogen Nachlässen mit einem neuen – digitalen – Typus ihrer Sammelobjekte konfrontiert werden, der die bisherigen Begriffe von Lokalität und Materialität ad absurdum führt. Das von Karl Dachs zur Charakterisierung von Nachlässen ver-wendete Adjektiv „sperrig“ erhält in diesem Szenario eine ganz neue Bedeutung.