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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

3 Persönliche Archive, Langzeitarchivierung und präkustodiale Intervention – ein Literaturbericht

3.3 Der Forschungsstand

3.3.3 Bearbeitete Forschungsfragen und Ergebnisse

3.3.3.1 Analyse persönlicher Archive

Sehr viele Fragestellungen widmen sich dem Objekt der Archivierungsbemühun-gen – dem persönlichen Archiv – und damit seinem ontologischen Status. Gefragt wird nach Eigenschaften dieser Bestandsform, aus denen sich für die Langzeitar-chivierung Probleme ergeben sowie nach den Motiven des Bestandsbildners als

289 Vgl. American Library Association 1996-2014.

290 Vgl. American Library Association 08.12.2009.

Katalysator des Formierungsprozesses. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wurde der ontologische Status persönlicher Archive aus der Archivtheorie hergeleitet.

Dieser – sozusagen theoretische – Weg der Wesensbestimmung wird in der Litera-tur fast nie verfolgt. Vielmehr wird entweder ein deskriptives oder ein empirisches Vorgehen gewählt. Im ersten Fall wird ein bestimmter Nachlass, der digitale Ob-jekte enthält, beschrieben und dann mit analogen Beständen oder anderen digita-len Archivgütern verglichen. Die zweite Analyseform untersucht den Entste-hungsprozess eines persönlichen Archivs und damit das persönliche Informationsmanagement des Bestandsbildners. Sie leitet daraus die entsprechen-den Erkenntnisse über entsprechen-den ontologischen Status ab. Sie beobachtet das persönli-che Archiv also in statu nascendi, wenn es noch nicht Nachlass, sondern aktiv ist.

Im Gegensatz zur ersten Form, die fast immer den Nachlass einer bedeutenden Persönlichkeit zum Gegenstand hat, befassen sich empirische Studien auch mit den persönlichen Archiven von Durchschnittsbürgern. Die Fragestellungen kön-nen in beiden Fällen so umrissen werden: Wie entstehen persönliche Archive?

Woraus bestehen persönliche Archive? Wie erstellen, verwalten und speichern die Bestandsbildner digitale Objekte? Welche Eigenschaften zeichnen die durch diese Akte entstehenden persönlichen Archive aus?

Die deskriptive Vorgehensweise eignet sich offenbar gut, um auf das Problem grundsätzlich aufmerksam zu machen. So hatte etwa für die Beschäftigung mit dem Thema in Großbritannien der Nachlass des Biologen W. D. Hamilton (1936-2000) eine katalytische Funktion. John und Summers berichteten 2001 von der Erwerbung und der Erschließung dieses Nachlasses durch die British Library. Sie analysierten ausgehend vom vorgefundenen Bestand die Motive, welche Hamilton bei der Aufbewahrung seiner digitalen Aufzeichnungen leiteten. Bedeutend waren die Erfahrungen mit diesem Nachlass auch für die Idee eines Projektes zum The-ma an der British Library, die schließlich in Digital Lives mündete.291.

In den USA analysierten Kirschenbaum und sein Team 2007, zwecks Vorbereitung eines später offenbar nicht realisierten Projektes, drei signifikante Beispiel-Vorlässe von Schriftstellern. Es waren dies der Vorlass Salman Rushdies (*1947) in der Emory University’s Manuscripts, Archives, and Rare Books Library (MARBL), der Vorlass Michael Joyce‘ (*1945) im Harry Ransom Humanities Research Center in Austin, Texas und derjenige Deena Larsens (*1964) im Ma-ryland Institute for Technology in the Humanities (MITH). Die Autoren erörterten das Verhältnis Speichereinrichtung – Forscher: Welche Ansprüche, Wünsche und

291 Vgl. Summers, John 2001. Der Nachlass Hamiltons findet Erwähnung in John 2005; Williams, John, Rowlands 2009, S. 241; John 2009; John u. a. 2010, S. 119f; Andrews 2009; Andrews 2010.

Forderungen stellen Forscher an die Bewahrung und Bereitstellung von digitalen Autorennachlässen?292 Insbesondere der Vorlass Salman Rushdies sollte noch häu-figer in der Literatur erwähnt werden. Eine ausführliche Beschreibung dieses Vor-lasses gaben Carroll u.a., indem sie über die Erschließung, Aufbereitung und Prä-sentation dieses Bestandes berichteten und ausführlich den eigens entwickelten Workflow und die entsprechenden Technologien vorstellten.293 Noch ein weiteres Beispiel: Unter dem Gesichtspunkt der Authentizität analysierte Forstrom den Nachlass des Lyrikers und Dramatikers George Whitmore (1945-1989), der zum Bestand der Beinecke Rare Book and Manuscript Library gehört. Aufgrund dieser Analyse wies er nach, dass die von InterPARES erarbeiteten "Requirements for Assessing and Maintaining the authenticity of electronic records" für digitale Nachlässe nicht ausreichend sind.294

Eine herausragende Bedeutung für den deutschsprachigen Raum hatte der 2003 im österreichischen Mattersburg gehaltene Vortrag von Ulrich von Bülow, der die Erfahrung mit dem Nachlass Thomas Strittmatters im Deutschen Literaturarchiv Marbach beschreibt. Der Nachlass Strittmatters weckte in Marbach die Aufmerk-samkeit für digitale Nachlässe. Aber auch außerhalb dieser Institution diente er als Referenz für diverse Lösungsvorschläge.295 Für die Österreichische Nationalbibli-othek und das daran angeschlossene Österreichische Literaturarchiv übernahm der Vorlass von Franz Josef Czernin eine katalytische Funktion. 1998 beschrieb Rotter die Bearbeitung der digitalen Träger, die sich unter den Vorlasskonvoluten befan-den. Kaukoreit nahm die sukzessive Übernahme dieses Vorlasses zum Anlass, um über die Authentizität und Originalität digitaler Nachlässe nachzudenken.296

Die Forschungsbeiträge der zweiten Analysegruppe beschäftigen sich mit dem persönlichen Informationsmanagement von Privatpersonen und mit der Formie-rung persönlicher Archive. An diesem Punkt sind zunächst jene empirischen Stu-dien zu nennen, die von Archiven oder Bibliotheken initiiert wurden mit dem Ziel, mehr über den neuartigen Bestandstyp digitaler Nachlass zu erfahren. Im Gegen-satz zu einer retrospektiven Analyse bereits übernommener Nachlässe, wurden dabei die Kontakte in die Schriftsteller-, Politik- oder Wissenschaftsszene benutzt,

292 Vgl. Kirschenbaum, Farr, Kraus 2009a.

293 Vgl. Carroll u. a. 2011. Weitere Erwähnungen findet Rushdies Nachlass u.a. in Donadio 4 Sep-tember 2005.; Kirschenbaum, Farr, Kraus 2009b; Kramski, von Bülow 2011.

294 Vgl. Forstrom 2009.

295 Vgl. von Bülow 8./9. Mai 2003; Kramski, von Bülow 2011. Für die Rezeption außerhalb von Marbach auch noch in jüngster Zeit steht Hertling 2012, S. 5ff.

296 Vgl. Rotter 1997; Kaukoreit 2008.

um Interviews und Befragungen durchzuführen und aus den Ergebnissen Heraus-forderungen an die Langzeitarchivierung digitaler Bestände abzuleiten. Beispiele hierfür sind die Erhebungen des rheinischen297 und des walisischen298 Literaturar-chivs, die Studie von Becker und Nogues, die junge Schriftsteller befragten299, und die Masterarbeit von Becker, die Vorlassgeber des Deutschen Literaturarchivs befragte300. Außerdem sind die Untersuchungen von Williams301 erwähnenswert und jene Studien, die im Rahmen von Paradigm302 und Digital Lives303 durchge-führt wurden.

Empirische Studien bilden auch die Grundlage der Publikationen von Catherine C.

Marshall. Marshalls Beiträge loten die Anforderungen an kommerzielle Heim-Archivierungs-Systeme aus, allerdings befragte Marshall nicht Schriftsteller oder andere Künstlergruppen, sondern die breite Öffentlichkeit.304 Eine Übersicht über die von ihr und ihren Mitarbeitern durchgeführten Untersuchungen gab sie in ei-nem 2008 publizierten Beitrag. Aus der Zusammenfassung der Ergebnisse leitete sie vier Herausforderungen für die Langzeitarchivierung ab: (a) das mangelnde Interesse der Bestandsbildner an der digitalen Archivierung, (b) die Distribution der Inhalte auf verschiedene Träger und Speicherorte, (c) die Akkumulation digi-taler Objekte und deren Bewertung, (d) das Wiederauffinden digidigi-taler Informatio-nen unter diesen Bedingungen. Für jede dieser Herausforderungen schlug sie Lö-sungen vor. Besonders beachtenswert ist ihr Vorschlag, verteilt gespeicherte persönliche Objekte mittels eines Tools wie z.B. Fedora zentral zu verzeichnen, und ihr Eintreten für einen Archivierungs-Mix aus automatischen, persönlichen und kollaborativen Verwaltungstools (Verwaltung persönlicher Daten über soziale Netzwerke durch Dritte).305 Erwähnenswert sind auch Marshalls Arbeiten zum Begriff des „Benign neglect“, der eine Grundhaltung von Privatpersonen gegen-über den digitalen Medien benennt. Diese Haltung drückt sich in einer Mischung aus Optimismus und Fatalismus in Bezug auf die Dauerhaftigkeit digitaler

297 Vgl. Brenner-Wilczek, Stahl 2006.

298 Vgl. Dafydd 2009.

299 Vgl. Becker, Nogues 2012.

300 Vgl. Becker 2014.

301 Vgl. Williams u. a. 2008.

302 Vgl. Paradigm project 2007. S. 289ff.

303 Vgl. John u. a. 2010, S. 7ff.

304 Vgl. Marshall, Golovchinsky 2004; Marshall, Bly, Brun-Cottan 2006; Marshall 2007; Marshall 2008a; Marshall 24.02.2011.

305 Vgl. Marshall 2008a.

zeichnungen aus und führt zu einer gewissen Nachlässigkeit bei der Aufbewah-rung digitaler Informationen.306

Am Beispiel von Familienarchiven zeigten Kirk und Sellen, dass sentimentale und emotionale Motive für die Formierung persönlicher Sammlungen bzw. Archive ursächlich sind. Sie führten eine Feldstudie mit Familien und Familienangehöri-gen durch, entwickelten eine Taxonomie der Erinnerungsstücke („sentimental objects“) in persönlichen Archiven und Familienarchiven und leiteten daraus An-forderungen an ein Heim-Archivierungs-System ab.307 Kaye beobachtete Privat-personen und identifizierte die Motive, die zur Aufbewahrung und längerfristigen Speicherung digitaler Dokumente führen. Solche Motive sind z.B. "die vermutete Bedeutung eines Dokumentes für die Forschung“, „der Wunsch nach Hinterlas-sung eines Vermächtnisses", "das Teilen von Dokumenten mit anderen", "die Sor-ge um Verlust wichtiSor-ger Informationen" oder "die Konstruktion der eiSor-genen Iden-tität". Diese Motive oder Werte sind allerdings individuell so ausdifferenziert, dass sich daraus keine allgemeingültigen Muster ergeben, die bei der Entwicklung ent-sprechender Tools berücksichtigt werden könnten. 308

Soweit die Beispiele aus der Literatur. Für beide Analysegruppen gilt des Weite-ren, dass aus der ontologischen Bestimmung häufig auch Forschungsdesiderate abgeleitet werden, oder die Analyse gar schon in die Entwicklung von Konzepten und Lösungsansätzen hinüber gleitet. Die Fragestellung umfasst dann nicht nur die Beschreibung, sondern auch Konzepte und Lösungen des Problems.

3.3.3.2 Konzeptualisierung

Der Begriff Konzeptualisierung beschreibt den Vorgang, das Grundlagenwissen über persönliche Archive zu ordnen und Konzepte für die Verwaltung und die Ar-chivierung persönlicher Archive zu entwickeln. Die Konzeptualisierung ist sozu-sagen eine Vorstufe zur Lösungsentwicklung, die konkrete Maßnahmen, Tools oder Archivierungs-Lösungen ausarbeitet. Aus Sicht der nachlassverwaltenden Einrichtungen liegt es dabei nahe, zunächst einmal die kustodialen Aufgaben einer Um- oder Neukonzeptionierung zu unterziehen, etwa indem man danach fragt, wie digitale Objekte die Gesamtabläufe verändern. Die Fragestellungen betreffen dann zum Beispiel die Widerherstellung obsoleter Daten, den Einsatz digitaler Erhaltungs-Strategien oder auch den rechtlichen Rahmen, wie etwa die Wahrung

306 Vgl. Marshall 2007.

307 Vgl. Kirk, Sellen 2008.

308 Vgl. Kaye u. a. 2006.

der Privatsphäre und des Datenschutzes bei der Benutzung digitaler Objekte. An-dererseits können auch bestimmte Objekttypen fokussiert werden, indem man etwa danach fragt, wie E-Mails, Webseiten oder interaktive Objekte erschlossen und archiviert werden können.309 Die Literatur zu kustodialen Konzepten ist reichhaltig; sie soll aber – aufgrund der in Kapitel 2 begründeten Fokussierung auf die präkustodiale Intervention – nicht weiter referiert werden.Gerade wegen die-ser Fokussierung muss aber gefragt werden, welche Autoren die Notwendigkeit der möglichst frühen Zusammenarbeit mit dem Bestandsbildner plädieren und präkustodiale Formen der Langzeitarchivierung oder der Bestandserhaltung in ihre Konzeption integrieren. Welches Bild ergibt sich, wenn man die Literatur auf dieses Ergebnis hin untersucht?

Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Cunningham die Notwendigkeit präkus-todialer Maßnahmen bereits 1994 erkannte. Das Eintreten für präkustodiale For-men der Langzeitarchivierung steht damit am Anfang der wissenschaftlichen Dis-kussion um digitale Nachlässe. Cunningham verwendete dafür den Begriff präkustodiale Intervention, der weiter oben schon näher erläutert wurde.310 Weite-re Publikationen zur konzeptionellen Integration der präkustodialen Phase in kura-torische Arbeitsprozesse folgten:

Hyry und Onuf311 erörterten 1997 aus bibliothekarischer Sicht die Vorschläge Cunninghams unter Abwägung der Vor- und Nachteile. Unter anderem beschrie-ben sie die Gefahr, dass präkustodiale Eingriffe Form und Inhalt der betreffenden Dokumente veränderten. Sie argumentierten auch mit dem oft sehr schwierigen Verhältnis Bestandsbildner-Kurator. Ihr Einwand verdient es, zitiert zu werden:

Furthermore, the difficulties of dealing with a donor over the long term can-not be overemphasized, especially considering the sometimes iconoclastic natures of many records creators. There is a crass, backroom archival joke:

the only good donor is a dead donor. While surely this is a harsh and often untrue statement, all archivists involved in collection development know of troubles that arise when dealing with donors, and these troubles will only be magnified with Cunningham's approach. The ultra-proactive suggestions al-so would affect appraisal decisions, favoring the work of individuals who gain renown earlier rather than later in life. Additionally, archivists would be

309 Beispiele für objektbezogene Konzeptionen geben die Artikel von Garfinkel, Cox 09.-11.02.2009 und O'Sullivan 2005.

310 Vgl. Cunningham 1994, S. 101f.

311 Vgl. Hyry, Onuf 1997.

forced to appraise records at a time much nearer to their creation, without the benefit of time and hindsight to assist in these decisions.312

Hyry und Onuf hielten Cunninghams Vorschläge deswegen für unüberlegt und fehlerhaft. Stattdessen schlugen sie ein umfassenderes, an non-kustodiale Ideen angelehntes Vorgehen vor. Archivare sollten die breite Öffentlichkeit darin schu-len, ihre digitalen Objekte adäquat zu verwalten. Hyry und Onufs Einwand wird in der Literatur des beginnenden neuen Jahrtausends nicht weiter rezipiert. Ihren Standpunkt revidierten die beiden Autoren 14 Jahre später selbst. Angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklungen plädierten sie nunmehr auch dafür, von Seiten der Special Collections möglichst früh auf die Bestandsbildner zuzugehen.313 Erste Konzepte, die präkustodiale Intervention zu realisieren, wurden ab der Jahr-tausendwende entwickelt. So berichtete Paquet im Jahre 2000 vom Akquisitions-Programm für Nachlässe des kanadischen Nationalarchivs, das unter anderem auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern des Archivs und Be-standsbildnern vorsieht. Damit wurde in der Literatur erstmalig von der Realisie-rung präkustodialer Strategien berichtet.314 Projekte wie InterPARES, Paradigm und Digital Lives schlugen den Einsatz verschiedener präkustodialer Maßnahmen zur Unterstützung des Bestandsbildners zum Teil bereits detailliert vor. Paradigm und Digital Lives entwickelten zudem Lebenszyklusmodelle für persönliche digi-tale Objekte. 315

Im Zusammenhang mit der präkustodialen Intervention erfahren zwei weitere Aufgaben eine Auf- und Umwertung: Der Bestandserwerb und die Bestandsüber-nahme bzw. der Ingest in ein Archivsystem. Diese hatten bisher sozusagen eine Scharnierfunktion zwischen präkustodialer und kustodialer Phase. Nun aber, da der Eingriff in persönliche Archive so früh wie möglich stattfinden soll, müssen beim Bestandserwerb neue Wege begangen werden. Die Erwerbung des Nachlas-ses nach dem Tod des Bestandsbildners oder gegen Ende seines Lebens verliert an Bedeutung; der Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Bestandsbildner und Kurator tritt stärker in den Vordergrund. Das hat auch Konsequenzen für die Übernahme der Bestände. In der Literatur herrscht derzeit die Ansicht vor, nicht mehr möglichst große Corpora geschlossen durch ein Archiv oder eine Bibliothek zu übernehmen, sondern selbst einzelne Objekte oder ausrangierte Träger, sobald

312 Hyry, Onuf 1997, S. 43.

313 Vgl. Onuf, Hyry 2011, S. 252f.

314 Vgl. Paquet 2000, S. 87ff.

315 Vgl. Eppard 2008; Paradigm project 2007, S. 2; John u. a. 2010, S. 189.

diese vom Bestandsbildner dazu freigegeben wurden, in das Archivsystem der Einrichtung einzugeben.316 Die Bestandsübernahme bzw. der Ingest erfolgt dann in kleinen, sukzessiven Schritten. Dieser Prozess soll durch die Entwicklung adä-quater Maßnahmen und IT-Lösungen unterstützt werden.

Allerdings erfährt die präkustodiale Intervention auch in den englischsprachigen Ländern keine umfassende Aufmerksamkeit, wie der Beitrag von Goldman belegt.

Goldman zitierte Umfragen diverser Berufsverbände und zeigte unter anderem, dass die Entwicklung präkustodialer Strategien in den USA nur von einer Minder-heit der betroffenen Special Collections betrieben wird. Er selbst schlug in seinem Beitrag auch einen präkustodialen Maßnahmenkatalog vor, der aber keine wirkli-chen Neuerungen gegenüber Cunninghams Vorschlägen enthielt – obwohl seitdem mehr als 15 Jahre vergangen waren.317

Im deutschsprachigen Raum beschränkte sich die Diskussion bis in die Gegenwart fast ausschließlich auf kustodiale Prozesse oder geisteswissenschaftliche Frage-stellungen. Erst ab 2011 beschäftigen sich die weiter oben schon erwähnten Bei-träge von Kramski und Bülow, Hertling und Becker mit der präkustodialen Inter-vention.

Zusammenfassend kann man somit feststellen: Vor allem die englischsprachige Forschung erkennt die Bedeutung der präkustodialen Intervention für die Überlie-ferung und Langzeitarchivierung persönlicher Archive bzw. digitaler Nachlässe an. Es herrscht Konsens darüber, dass das Aufgabenspektrum der nachlassverwal-tenden Institutionen sich zukünftig auch auf den Bestandsbildner und sein persön-liches Archiv erstreckt; allerdings bedeutet das nicht, dass entsprechende Lösun-gen bereits umfänglich realisiert wurden.

316 Vgl. Paradigm project 2007, S. 11f; Hertling 2012, S. 7ff; The Royal Library - National library of Denmark and Copenhagen University Library 2014.

317 Vgl. Goldman 2011, S. 21ff.

3.3.3.3 Lösungsentwicklung

Eine dritte Gruppe von Publikationen beschäftigt sich mit der Lösungsentwick-lung. Gefragt wird, welche konkreten Lösungen das persönliche Informationsma-nagement und die präkustodiale Intervention unterstützen und einen langfristigen Zugriff auf einzelne Objekte gewährleisten. Sie beziehen sich damit auf einzelne Maßnahmen, IT-Lösungen oder Systemarchitekturen.

Wenn auch mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, so sind es zwei Fragestellungen, die in diesem Zusammenhang bearbeitet werden. Die erste be-schäftigt sich mit Lösungen, die in Zusammenarbeit von Bestandsbildner und Nachlasskurator oder vom Bestandsbildner alleine eingesetzt werden. Ziel dieser Lösungen ist es, das persönliche Archiv und die darin enthaltenen digitalen Objek-te während der präkustodialen Phase zu verwalObjek-ten. Die zweiObjek-te FragesObjek-tellung ist immer dann von Bedeutung, wenn persönliche Archive letztendlich in einer nach-lassverwaltenden Institution archiviert werden sollen. Man könnte sie wie folgt umschreiben: Wie können persönliche digitale Archive und digitale Objekte so schnell wie möglich vom Bestandsbildner an ein Archiv oder eine Bibliothek übergeben oder transferiert werden? Es ergibt sich fast von selbst, dass diese Fra-ge immer aus der Perspektive einer nachlassverwaltenden Institution Fra-gestellt wird, da post- bzw. non-kustodiale Ansätze von derartigen Zielen absehen.

Beide Fragestellungen hatte Cunningham 1994 bereits bearbeitet, indem er die Grundlinien möglicher Maßnahmen der präkustodialen Intervention und dabei einzusetzender Instrumente vorzeichnete:

 Kontaktaufnahme mit dem potenziellen Geber zum frühestmöglichen Zeit-punkt,

 daraufhin Vereinbarung über eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Ge-ber/Bestandsbildner und Archiv/Bibliothek,

 Einführung eines Recordkeeping Systems, das beiden Akteuren die Verwal-tung aktiver digitaler Dokumente ermöglicht und

 periodische Übergaben oder Transfers von (inaktiven) Dokumenten ins Ar-chiv.318

Die ersten beiden Punkte sind Früchte grundsätzlicher Überlegungen über digitale Nachlässe. Sie bilden sozusagen die Voraussetzung für die präkustodiale

318 Vgl. Cunningham 1994, S. 101f.

tion – sind aber zugleich auch als konkrete Maßnahmen zu verstehen, die nach-lassverwaltende Institutionen in ihr Erwerbungskonzept integrieren sollten. Die beiden folgenden Vorschläge beziehen sich auf je eine der zuvor eingeführten Fragestellungen. Cunninghams Agenda enthält damit schon alle Strukturelemente der präkustodialen Interventionskette, bestehend aus

a) proaktive Bestandsakquise,

b) Verwaltung des persönlichen Archivs während der präkustodialen Phase durch Zusammenarbeit mit dem Bestandsbildner

c) und der frühestmöglichen Übergabe oder Transfer einzelner digitaler Objekte in die nachlassverwaltende Institution.

Welche konkreten Lösungen wurden hierfür entwickelt und in der Literatur disku-tiert?

Tabelle 3-1 gibt eine Übersicht über die einschlägigen Publikationen und ordnet ihnen die dort vorgetragenen und diskutierten Lösungen zu. Sie visualisiert, aus welcher Perspektive der Verfasser schreibt, also ob er einen kustodialen oder postkustodialen319 Ansatz verfolgt. Die Darstellung informiert zudem, ob die Lö-sungsvorschläge detailliert ausgearbeitet werden, d.h. ob der Verfasser technische oder inhaltliche Einzelheiten wie z.B. die Systemarchitektur, Standards oder Workflows beschreibt.

Von links nach rechts enthält die Tabelle damit folgende Informationen: Zitier-form der Publikation320, beruflicher Hintergrund des Autors (Arbeitgeber), post-kustodiale oder post-kustodiale Perspektive, Lösungen zur Verwaltung des persönli-chen Archivs während der präkustodialen Phase (hellgraue Felder), Lösungen, die der Übergabe oder dem Transfer digitaler Objekte an ein Archiv oder eine Biblio-thek dienen (dunkelgraue Felder), detailliert (= Beitrag enthält eine detaillierte Ausarbeitung des Lösungsvorschlags).

319 Postkustodial bedeutet in diesem Zusammenhang fast immer non-kustodial, da die entspre-chenden Lösungen den Bestandsbildner in die Lage versetzen sollen, seine persönlichen Archi-ve selbstständig und dauerhaft zu Archi-verwalten.

320 Datumsangaben in der Zitierform wurden auf Jahresangaben gekürzt.

Publikation Hintergrund des Autors Postkustodial (P)/ kustodial (K) zung vor Ort Dokumentation und Unterstüt- Workshops/Schulungen Leitfaden Beratung System DMS / Heim-Archivierungs- Datentransfer/Speicherauszüge

üge Übergabe ausrangierter Tger Selbst-Archivierung Detailliert

Cunning-ham 1994 Pacific

Manu-script Bureau K x x

Hyry, Onuf 1997

Yale Universi-ty Library

P x

Paquet 2000 Kanadisches

National-archiv

K x x x x x x

Beagrie 2005 British Library P x

Marshall, Bly, Brun-Cottan 2006/

Marshall 2007/ Mar-shall 2008a und b

Microsoft P x x

Kirschen-baum 2007

University of

Maryland K x

Paradigm

project 2007 Bodleian

project 2007 Bodleian