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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

2 Digitale Nachlässe als persönliche Archive – Grundlagen für die Langzeitarchivierung

2.5 Vom persönlichen Archiv zur Forschungsquelle – Erschließung und Benutzung digitaler Objekte Benutzung digitaler Objekte

2.5.1 Das Provenienzprinzip

Grundlage der Nachlasserschließung ist das Provenienzprinzip. Dieser Erschlie-ßungsgrundsatz betrachtet Nachlässe als unteilbare Einheiten, die in ihrem Entste-hungszusammenhang und – wenn möglich – in ihrer ursprünglichen Ordnung zu belassen sind. Die Betonung der Provenienz führt unter anderem dazu, dass an den Nachlasser adressierte Briefe immer als Bestandteil des Nachlasses erschlos-sen werden, während die von ihm vererschlos-sendeten Briefe nachlassfremd bleiben – ungeachtet der Tatsache, dass er Autor dieser Briefe ist. Vorrang hat die Bewah-rung der gewachsenen Struktur des überlieferten Bestandes. Demgegenüber steht das Pertinenzprinzip, das eine Auflösung der gewachsenen Ordnung durch eine Gliederung in Sachgruppen favorisiert, etwa durch das Aussondern von Briefen und deren Aufstellung zusammen mit anderen Autographenbeständen. Nachlässe werden bei der Anwendung dieses Prinzips aus dem Entstehungszusammenhang gerissen und miteinander vermischt.

Im 18. Jahrhundert formulierte der der Kulmbacher Archivar Philipp Adam Spieß das Provenienzprinzip, indem er denjenigen Archivplan als besten ansah, „den die Urkunden selbst an die Hand geben“93. In der Folgezeit setzte sich das Prinzip an

93 Spieß 1777, S. 57 (§ 21).

den Archiven durch. Archivgüter wie Regierungs- oder Verwaltungsakten betrach-teten die Archivare nunmehr als Einheit, die, aus einer Registratur herkommend, in ihrem Entstehungszusammenhang belassen werden sollten. Das galt auch für Nachlässe als persönliche Registraturen. Bibliotheken verfuhren zunächst noch nach dem bibliotheksaffinen Pertinenzprinzip. Johann Andreas Schmeller durch-brach an der Bayrischen Staatsbibliothek im Jahre 1842 in Bezug auf Nachlässe erstmals diese Praxis.94 In den nachfolgenden Jahrzehnten setzte sich dann auch in Bibliotheken die Verzeichnung nach der Provenienz des Nachlasses durch.

Regelwerke der Nachlasserschließung lösen das Provenienzprinzip durch die Ein-teilung in echte und angereicherte Nachlässe, Sammlungen sowie Teil- und Split-terbestände auf.95 Nur jene Archivalien, die aus dem persönlichen Archiv (oder der Registratur) des Bestandsbildners überliefert sind, werden als echter Nachlass verzeichnet. Keinesfalls bedeutet diese Aussage aber, dass immer auf den echten Nachlass in seiner Gesamtheit zugegriffen werden kann. Häufig wird dieser nach dem Tode des Bestandsbildners aufgeteilt und ist in Form von Teil- und Splitter-nachlässen über mehrere Besitzer verstreut. Das Bestreben Nachlässe an einem Ort zusammenzuführen, führt dazu, dass Literaturarchive diese Bestände erwer-ben und den bei ihnen verwahrten echten Nachlasskern um die Teil- und Splitter-bestände vermehren. Bestände, die auf den Nachlasser zurückgehen, aber nicht zwangsläufig zu seinem persönlichen Archiv gehörten, etwa versendete Briefe und anderswo gesammelte Lebensdokumente, sind Fremdprovenienzen. Wenn echte Nachlässe um Fremdprovenienzen vermehrt werden, spricht man von ange-reicherten Nachlässen. Sammlungen oder unechte Nachlässe, die Liebhaber oder Institutionen aus unterschiedlichen Quellen zusammentragen, die aber nicht zum persönlichen Archiv des Autors gehören, werden sie von echten Nachlässen ge-trennt verzeichnet. Die ursprüngliche Ordnung des Archives hat bei der Aufbe-wahrung und der Verzeichnung echter Nachlässe Vorrang soweit sie erkennbar und sinnvoll ist; sie wird aber oft durch die Verzeichnung in Materialgruppen er-gänzt – ein Vorgehen, dass auch in der aktuell gültigen Version der RNA festge-schrieben ist.96

Durch die Anwendung dieser Regeln wird das Provenienzprinzip im analogen Umfeld den Prozessen im präkustodialen Stadium gerecht. Es wahrt den Entste-hungszusammenhang des persönlichen Archivs und billigt der ursprünglichen

94 Vgl. von Moisy 1982, S. 26.

95 Vgl. hierzu Büchler 1982, S 7f; Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Österreichische Nationalbibliothek 2010, S. 10.

96 Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Österreichische Nationalbib-liothek 2010, S. 11.

Ordnung bei der Nachlassgliederung ein großes Gewicht zu. Im digitalen Umfeld ändern sich jedoch die Rahmenbedingungen. Als Beispiel seien zwei Faktoren genannt: Online-Medien ermöglichen die serverseitige Speicherung und Bearbei-tung von digitalen Objekten; zudem können sie beliebig oft kopiert und online verteilt werden. Dieses Phänomen wird in der Literatur auch als Informations-Fragmentierung beschrieben; sie stellt nicht nur den Bestandsbildner, etwa bei der Lokalisierung von benötigten Informationen, sondern auch den Nachlasskurator bei der Übernahme und Erschließung eines Nachlasses vor Probleme.97 Digitale Nachlässe haben somit nicht mehr nur eine lokale, sondern auch eine virtuelle (Online-) Komponente. Es wird also zukünftig zu fragen sein, welche Schwierig-keiten sich bei Anwendung des Provenienzprinzips auf online gespeicherte Objek-te ergeben. Wenn man das KriObjek-terium der Provenienz konsequent auch auf die im Netz abgelegten Objekte und Inhalte anwendet, dürfte die Frage, was davon zu einem echten Nachlass gehört, eine untergeordnete Rolle spielen. Zum persönli-chen Archiv und damit zum echten Nachlass gehören dann einfach auch die dem Bestandsbildner zugeordneten Speicherorte und Accounts sowie alle Internetprä-senzen, die er betreibt. Fremdprovenienzen wie Kommentare oder Posts auf von Dritten betriebenen Webseiten, werden dann wie empfangene und versendete Briefe behandelt.

Allerdings wird – wie schon erwähnt – die Identifizierung, Erschließung und Ar-chivierung dieser Inhalte, die ja über verschiedene Speicherorte und Web-Accounts verteilt sein können, einen beträchtlichen Mehraufwand bei der Über-nahme und Erschließung von Nachlässen mit sich bringen. Problematisch ist auch der direkte Zugriff auf die online gespeicherten Teile eines persönlichen Archivs.

In vielen Fällen wird der Bestandsbildner einen Public-Cloud-Anbieter wie z.B.

Google genutzt haben, dessen Geschäftsbedingungen dann vom Literaturarchiv zusätzlich beachtet werden müssen. Insbesondere das Fehlen von Passwörtern oder die mangelnde Dokumentation von vorhandenen Accounts könnte die Über-nahme der Cloud-Inhalte scheitern lassen.

In Bezug auf das Provenienzprinzip als primäres Erschließungsprinzip sollten Literaturarchive demnach prüfen, welche Maßnahmen während der präkustodia-len Intervention ergriffen werden können, um die Speicherorte, Accounts und Passwörter eines persönlichen Archivs rechtzeitig in Zusammenarbeit mit dem Bestandsbildner zu dokumentieren und zu sichern.

97 Vgl. Jones 2010, S. 4137.