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Das Lebenszyklusmodell und die Entstehung des Records Management Management

Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

4 Länderspezifische Faktoren als Einflussgrößen der präkustodialen Intervention

4.1.2 Das Lebenszyklusmodell und die Entstehung des Records Management Management

Das Lebenszyklusmodell wurde seit Beginn der 1940er Jahre entwickelt. Es löste das in Ländern ohne Registratursystem vorherrschende System ab, nach dem die Behörden schon während der präkustodialen Phase über die Archivwürdigkeit von Schriftgut entschieden. Denn diese Praxis führte zu einer nachlässigen und sehr oft an den Erfordernissen der Staatsräson orientierten Kassation, was im Ergebnis zu einer redundanten Abgabemenge führte. Als in den USA während des „New Deal“ und des Zweiten Weltkrieges die Verwaltungstätigkeit immer weiter expan-dierte, wuchs die zu archivierende Menge von Unterlagen überproportional an und stellte die Archive vor eine schier unlösbare logistische Anstrengung. Man kam zu der Überzeugung, dass archivarische Kompetenz nun auch in der präkustodialen Phase gefragt sei. Archivare mussten sich an Bewertungsentscheidungen beteili-gen, wollte man der großen Menge des zu archivierenden Schriftguts Herr wer-den. Infolge dessen wurde das Lebenszyklusmodell entwickelt, welches den Zeit-strahl von der Produktion bis zur endgültigen Archivierung eines Objekts in eine Abfolge von Phasen einteilte:

 Anlage und aktive Nutzung durch den Bestandsbildner (active record)

 Weitere Aufbewahrung des nunmehr nur noch selten im Geschäftsgang benötigten Objekts (inactive record) in einem Verwaltungsrepositorium

337 Vgl. Schatz 1966, S. 68.

 Abschließende Bewertung und infolgedessen entweder die Übernahme durch ein Archiv oder die Kassation des Objekts (historical record)338 Auch in den ersten beiden Phasen, die ja noch in den Verantwortungsbereich der Behörden fallen und somit präkustodial sind, sollte das Schriftgut nunmehr nach archivischen Prinzipien verwaltet werden, sodass eine wirksame Bewertung und Kassation auch wirklich durchgeführt werden konnte.339 Für die Bewältigung der Aufgaben in den beiden ersten Phasen benötigten die Behörden Fachleute, die Kenntnisse des Archivwesens besaßen und in der Lage waren, active und inactive records adäquat zu organisieren und zu pflegen: ein neues Aufgabenfeld entstand – das des Records Managers.340 Records Manager, so die Theorie, sollten von den Archiven ausgebildet und in die Behörden entsandt werden, mit dem Ziel, Bewer-tungsentscheidungen und die Archivierung selbst zu unterstützen. Die amerikani-sche Bewertungstheorie in der Tradition von Theodore Schellenberg führte mit ihrer Einteilung in Primärwert und Sekundärwert sowie der strikten Trennung von records (alle Objekte, die in einer produzierenden Instanz angelegt werden) und archives (der archivwürdige Teil dieser Objekte) jedoch wieder zu einer Ausdiffe-renzierung von zwei Phasen: der des Records Managements (identisch mit der präkustodialen Phase) und der Archivphase (kustodiale Phase).341 So entwickelte sich in den USA und Kanada das Berufsbild des Records Managers mit eigenen Ausbildungsgängen und Berufsverbänden.342 Records Manager arbeiten in Nord-amerika nicht nur in Behörden, sondern überall dort, wo Objekte produziert und archiviert werden, also auch in Unternehmen und Non-Profit-Organisationen.343 Bei der Entwicklung von Lösungen sammelten Records Manager Erfahrungen mit

338 Vgl. Brooks 1940, S. 221ff. Brooks verwendet nicht den Begriff life-cycle, sondern life history.

Auch die mittlerweile in den USA, Großbritannien und Australien übliche Terminologie „acti-ve, inactive und historical record“ entwickelte sich erst später.

339 Vgl. Cook 1997, S. 26.

340 Zum Verhältnis Archivar – Records Manager in den USA vgl. Evans 1967, S. 45ff

341 Vgl. Cook 1997, S. 27; Metzdorf 2000, S. 31f.

342 Die Ausdifferenzierung beider Berufe beschreibt Evans 1967, S. 47ff

343 Eine Definition gibt Schwartz: "Records Management is concerned with gaining control over the recorded information with an institution (or, for that matter, an individual) needs to do business. For an institution this would include personnel files, inventory records, constitutions and by-laws, minutes of meetings, policies and directives, financial records of all kinds, con-tracts, and so on. As individuals in society, our own records include tax returns, wills, birth cer-tificates, and all those other pieces of paper which record our lives and livelihoods. Records management involves exercising control over all phases of the life of an information resource, from creation and organization through dissemination, use, and either permanent retention or destruction." (Schwartz, Hernon 1993, S.1)

dem persönlichen Informationsmanagement (PIM), etwa von Büroangestellten, die in ihre Lösungsansätze einflossen.

Einen alternativen Ansatz entwickelte das britische Nationalarchiv zu Beginn der 1950er Jahre. Auch hier übernahm man das Lebenszyklusmodell, verstand aber Records Management als Aufgabe, die aus den Archiven heraus wahrgenommen werden sollte. Das britische System arbeitet daher mit Archivaren, die sich auf das Records Management spezialisieren. Zu ihren Aufgaben gehört die Betreuung der mit dem Records Management beauftragten Verwaltungsmitarbeiter sowie die Inspektion der Records Management Systeme in den Behörden.344 Über seine Re-cords Management Abteilung nimmt das britische Nationalarchiv aktiv Einfluss auf die britischen Behörden. Die dort arbeitenden Records Manager unterstützen die Verwaltung:

 durch die Veröffentlichung und Vermittlung von Standards,

 mit Beratung bei der Einführung und Verbesserung von elektronischen Re-cords Management Systemen, inklusive Prozessanalyse.

 durch Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Verwaltungsmitarbeiter, so-wie Beratung und Fortbildung vor Ort,

 durch eine enge Zusammenarbeit bei Aussonderung und Bewertung.345

Records Management war in Großbritannien noch lange Zeit nicht die Aufgabe eines Berufsstandes, sondern fand durch die Interaktion zwischen Archivaren und Verwaltungsmitarbeitern statt. Die Federführung verblieb in der Hand der Archi-ve. Mit der Zeit bildeten sich jedoch auch selbstständige Ausbildungsgänge her-aus.346 Noch einen Schritt weiter ging man in Frankreich. Die „Mission d’Archives“ sieht vor, dass Archivare vor Ort in den Behörden arbeiten.347 Die angelsächsische Perspektive prägte auch die 2001 veröffentlichte Norm ISO 15489 (Records Management Part 1 and 2), die Records Management nicht als eine untergeordnete Aufgabe, sondern als Führungsaufgabe für öffentliche oder private Organisationen versteht – von der Einführung von elektronischen Büro-systemen, der Ausarbeitung technologischer Standards, bis hin zur Aufbereitung

344 Vgl. Schatz 1966, S.69ff.

345 Vgl. Crockett 2009, S. 75ff; Brübach 2004, S. 198ff.

346 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 4.2.3.2 dieses Kapitels.

347 Vgl. Schatz 1966, S. 75f.

der in den Records enthaltenen Informationen sowie für deren spätere dauerhafte Archivierung.348

Insgesamt gilt: Auch dort wo das Records Management sich als eigenes Berufs-bild etablieren konnte, hat es nie den Kontakt zur Archivwissenschaft verloren.

Die Ausbildung ist sehr oft an Archive und selbstständige archivische Studiengän-ge oder den archivischen StudiengänStudiengän-gen an LIS-Schools anStudiengän-gedockt.349 Archivi-sche Kernkompetenzen konnten so mit Prozesswissen aus der präkustodialen Pha-se, Erfahrungen bei der Entwicklung, Implementierung und Verwaltung von Records Management Systemen und – nach dem Aufkommen der digitalen Medi-en - mit IT-KompetMedi-enzMedi-en angereichert werdMedi-en. Ziel war von Anfang an die besse-re Vernetzung präkustodialer Archivierungsprozesse mit der kustodialen Phase.350 Aus dieser Perspektive stellt das Lebenszyklusmodell nicht eine Sequenz diskreter Phasen dar, sondern integriert diese in ein Gesamtkonzept, das offen ist für eine weitgehende Interaktion zwischen Bestandsbildner und Records Manager oder Archivar.