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Vorbemerkung zur publizierten Ausgabe

Kapitel 8 referiert als zweiten Teil der empirischen Studie Konzeption, Durchfüh- Durchfüh-rung, Auswertung und Ergebnisse einer Online-Befragung, an der Mitglieder des

3 Persönliche Archive, Langzeitarchivierung und präkustodiale Intervention – ein Literaturbericht

3.1 Chronologischer Abriss der Forschungsaktivitäten

3.1.1 Die Forschungsaktivitäten in den englischsprachigen Ländern

Für die Erforschung des persönlichen Informationsmanagements war der 1945 publizierte Aufsatz „As we may think“ von Vannevar Bush richtungsweisend.

Bush beklagte das defizitäre Wissensmanagement in Wissenschaftlern, deren In-strumente zur Rezeption von Forschungsdaten angesichts der Informationsflut veraltet seien. Das Publikationsdatum ist kein Zufall. Die Explosion der Verwal-tungsarbeit und der militärischen Forschung aufgrund des zweiten Weltkriegs so-wie die sprunghafte technische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts erforderte neue Konzepte für die Verwaltung von Informationen.176 Bush, der das Atomprogramm der US-amerikanischen Regierung leitete und bereits in den dreißiger Jahren Technologien zur Verwaltung großer Datenbestände entwi-ckelte, entwarf in seinem Artikel den Vorläufer des „Personal Computer“. Die Maschine „Memex“ arbeitete ausschließlich mit analogen Technologien und un-terstützte die Organisation des persönlichen Arbeitsplatzes, indem sie immer wie-derkehrende Arbeiten übernahm, Informationen speicherte und Techniken zu de-ren Verwaltung zur Verfügung stellte. Dazu gehörte auch die Möglichkeit, Informationen durch eine Art Vorläufer des Hypertextes zu vernetzen. Besonders relevant aus Sicht dieser Arbeit war aber Bushs Versuch, Verhaltensmuster bei so grundlegenden individuellen Tätigkeiten wie Informationssuche, -speicherung und -retrieval zu identifizieren. Dabei bemühte er sich um die Verbesserung des In-formationsmanagements mit der These, dass der Einsatz von Maschinen und das darauf abgestimmte Verhalten der Anwender zur Effizienzsteigerung beitrügen.177 Diese frühe Analyse des persönlichen Informationsmanagements kann als Aus-gangspunkt aller Arbeiten zum Thema betrachtet werden, auch wenn Bush die Menschen ausschließlich an ihrem Arbeitsplatz betrachtete und nicht am Schreib-tisch der Privatwohnung.

Mit dem Einsatz von Computern verschob sich der Forschungsbedarf in den fol-genden Jahrzehnten immer weiter in Richtung des elektronischen Büros oder Re-gistratur und damit des Records Managements. Insbesondere Fragen des Informa-tion Retrieval oder die Entwicklung von Werkzeugen zur Unterstützung einer effektiven Informationsverwaltung standen nunmehr im Mittelpunkt.178 Damit war die Agenda vorgegeben. Publikationen der Nachkriegszeit beschäftigen sich

sprachiger und deutschsprachiger Literatur beträgt somit 9,5:1. Es wurde auch durch die Publi-kationen der Jahre 2013 und 2014 nicht wesentlich verändert.

176 Dies vollzog sich parallel zu der in Kapitel 4 beschriebenen Entwicklung des Records Ma-nagement.

177 Vgl. Bush 1945, S. 101ff.

178 Einen Überblick über die Entwicklung des PIM gibt Jones 2010, S. 4138.

mit dem persönlichen Informationsmanagement und Archivierungspraktiken am Arbeitsplatz. Diese Phase dauerte bis Anfang der 1990er Jahre an.179

Das durch Praxiserfahrungen geschärfte Bewusstsein für die Volatilität digitaler Technologien und Informationen führte Ende des 20. Jahrhunderts dazu, dass die Sicherung des dauerhaften Zugriffs auf digitale Objekte das Forschungsprogramm ergänzte. Das persönliche Informationsmanagement wurde jetzt verstärkt als In-terventionsfeld der Langzeitarchivierung verstanden und zwar in zweierlei Hin-sicht. Durch Planung von Büroverwaltungssystemen sowie den Einsatz standardi-sierter Formate und Metadaten sollten Archivierungsvorgänge in der präkustodialen Phase risikofreier hinsichtlich des Technologiewandels und des Datenverlusts gestaltet werden. Zweitens sollten die durch diese Systeme gene-rierten Daten über die Einhaltung von Standards reibungslos in die kustodiale Phase überführt werden. Im Ergebnis bedeutete das eine Intensivierung der Zu-sammenarbeit zwischen Archiven auf der einen und Institutionen, die digitale Ob-jekte produzieren, auf der anderen Seite.180 Dass auch diese Entwicklung zunächst an persönlichen Archiven vorbei ging, lässt sich aufgrund des Fehlens einschlägi-ger Publikationen bis in die frühen 1990er Jahre hinein zumindest vermuten. Of-fenbar wurde das Eindringen des Personal Computers in die Privatsphäre immer noch nicht als eine nennenswerte Herausforderung verstanden. Eine noch ausste-hende informationswissenschaftliche Aufarbeitung dieser Entwicklung hätte unter anderem danach zu fragen, ob der mangelnde öffentliche Druck und insbesondere die Abwesenheit von Rechtsnormen oder steuerrechtlichen Vorgaben zur Vernach-lässigung dieses Bereiches führten – ein Vorgang, der sich vergleichbar schon im Zusammenhang mit Papiermanuskripten vollzog.

Im Jahre 1994 wurde dann der erste Beitrag zu persönlichen digitalen Archiven unter dem Titel „Archival Management of Personal Records in Electronic Form“

veröffentlicht. Der Autor, der Australier Adrian Cunningham, war Leiter des Pa-cific Manuscripts Bureau – einer Stiftung, die Nachlässe aus dem pazifischen Raum sammelt. Der Artikel stellte die erste systematische Beschäftigung mit dem Thema dar und ist als Aufruf an Nachlasskuratoren zu verstehen, die bislang

179 Herausragende Beiträge aus dieser Zeit sind Malone 1983, der „files and piles“ als Hauptele-mente der Desktop-Organisation identifizierte und Lansdale 1988, der den Begriff des Persön-lichen Informationsmanagements in die Diskussion einführte und die kognitiven Prozesse beim Information Retrieval akzentuierte. Diese beiden Artikel werden diesbezüglich sehr häufig in der ausgewerteten Literatur zitiert.

180 Siehe hierzu als beispielhaft die von der UNESCO in Auftrag gegebene Studie „Conceptual problems posed by electronic records“. Vgl. Gavrel 1990.

nachlässigten digitalen Medien in die strategische Planung einzubeziehen. Die Ursachen für diese Nachlässigkeit gab Cunningham selbst an:

Given that the most repositories of personal records acquire their records ei-ther towards the end of the creator’s live or after her/his death and given that the electronic recordkeeping phenomenon is a relatively recent one, it may be years before such repositories are asked to make room for large quantities of electronic records. This, coupled with the largely humanist/computer illit-erate background of most manuscript/personal curators [...] has meant that the issue has been effectively ignored.181

Als Methode wählte Cunningham einen Ansatz, der für den explorativen Charak-ter seines Beitrags naheliegend ist. Er evaluierte die Adaptierbarkeit verschiedener Lösungen, die im Rahmen des Records Management für die Verwaltung von Schriftgut in Behörden, Regierungseinrichtungen etc. entwickelt wurden. Unter dem Schlagwort „Pre-custodial Intervention“ schlug er daraufhin das frühzeitige Eingreifen von Nachlasskuratoren in die präkustodiale Phase vor. Bestandsbildner und Nachlasskurator sollten zusammenarbeiten, mit dem Ziel die passenden Ar-chivierungs-Strategien für digitale Objekte zu entwickeln. Zudem sollte die suk-zessive Übernahme nicht mehr benötigter digitaler Objekte durch den Kurator zu einer möglichst frühen professionellen Behandlung volatiler Daten führen.182 Der Artikel endete mit dem Wunsch: “[…] to reading more detailed and specific ex-plorations of the issue by theorists and practitioners.”183 Die Analyse des persönli-chen Informationsmanagements spielte bei Cunningham noch eine untergeordnete Rolle. Er diskutierte das Problem aus der Sicht eines Nachlasskurators, den die Rettung des kulturellen Erbes interessierte, nicht aber die Phänomene, die zur Formierung eines persönlichen Archivs führen oder diese Formierung begleiten.

Cunningham führte zudem als erster den Begriff „präkustodiale Intervention“ in die Diskussion ein.

In den folgenden Jahren wurde das Thema dann nur vereinzelt und in Nebenas-pekten aufgegriffen: Beispielhaft steht hierfür McKemmish, die untersuchte, wie Rollen und Rollenverständnisse von Privatpersonen die Entstehung persönlicher Dokumente beeinflussen. Ihrer Meinung nach sei es eine wichtige Aufgabe der Archive und Bibliotheken diese Selbstäußerungen zu überliefern. Digitale

181 Cunningham 1994, S. 96.

182 Vgl. Cunningham 1994, S. 101f.

183 Cunningham 1994, S. 104.

lassobjekte streifte sie nur am Rande.184 Kuny hingegen formulierte eine leicht pessimistische Sicht auf die Materie. In den „digital Dark Ages“ übernähmen Ar-chivare und Bibliothekare bei der Überlieferung elektronischer Aufzeichnungen jene Rolle, die mittelalterliche Mönche bei der Überlieferung der schriftlichen Aufzeichnungen inne gehabt hätten. Persönliche Archive spielten auch in seinen Ausführungen nur eine untergeordnete Rolle.185

Diese Randständigkeit bestätigten Hyry und Onuf, die 1997 den ersten nennens-werten Beitrag aus den US-amerikanischen Manuscript Collections publizierten.

Sie stellten fest, dass „almost none of the literature on electronic records explores the effect new information technologies are having on personal papers“186. Diesen Einfluss arbeiteten sie exemplarisch heraus, indem sie E-Mails und Hypertexte mit Briefen und Text-Dokumenten verglichen. Sie erkannten zudem, dass bei der serverseitigen Speicherung dieser Objekte der Speicherort nicht Eigentum des Bestandsbildners, sondern des Service-Providers ist und fragten: „If authors or creators do not own the medium on which they produce and store their material, can the material really be considered theirs, and if not, is it really personal?”187 Damit akzentuierten sie erstmals ein Phänomen, das wenige Jahre später durch die Cloud und das Web 2.0 besonders dringlich auf die Tagesordnung kommen sollte.

Angesichts dieser Probleme, so Hyry und Onuf, müssten spezielle Strategien für elektronische Objekte persönlicher Provenienz entwickelt werden.188 Hierfür emp-fahlen Hyry und Onuf aber nicht die präkustodiale Intervention in Form einer Zu-sammenarbeit zwischen Nachlasskuratoren und Bestandsbildnern, da sie deren Kooperationsbereitschaft skeptisch gegenüberstanden. Vielmehr propagierten sie eine Präventiv-Strategie, um das Informationsmanagement und die Informations-kompetenz breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern:

The degree to which archivists work with potential donors aside, we see it as imperative that archivists come together to educate the public, both on how to manage their personal records, regardless of format, and on the broader issues surrounding the emergence of electronic mediums of com-munication.189

184 Vgl. McKemmish 1996.

185 Vgl. Kuny 1997.

186 Hyry, Onuf 1997, S. 38.

187 Hyry, Onuf 1997, S. 40.

188 Vgl. Hyry, Onuf 1997, S. 39.

189 Hyry, Onuf 1997, S. 43.

Weitere substantielle Beiträge aus den späten 1990er Jahren fehlen, sodass Cun-ningham 1999 konstatierte:

[…] my 1994 article has been joined by only one other article on the same topic in the intervening period. There it sits in splendid semi-isolation, re-garded with suspicion by some and apparently ignored by almost everyone else!190

Auf die Dynamik der technischen Entwicklung konnte die Forschung offenbar nur verzögert reagieren. Das lassen auch die vielen Werkstattberichte von Nachlassku-ratoren vermuten, die lediglich das Problem beschrieben und bestenfalls lokale Lösungen vorstellten, ohne jedoch eine Breitenwirkung zu erzielen. Sie begleiten bis in die jüngste Zeit die von Cunningham angestoßene Diskussion.191 Unter die-sen Beiträgen verdient der Bericht von Lucie Paquet besondere Aufmerksamkeit.

Paquet beschrieb als Mitarbeiterin des kanadischen Nationalarchivs ausführlich dessen Erwerbungs- und Erschließungs-Strategie für digitale Nachlässe. Im Rah-men dieser Strategie wurden erstmalig MaßnahRah-men für die präkustodiale Interven-tion entwickelt und umgesetzt.192

Um die Mitte des vergangenen Jahrzehnts bahnte sich dann ein qualitativer Sprung an. Fast gleichzeitig starteten erste größer dimensionierte Forschungspro-jekte und die Publikationstätigkeit stieg insgesamt an. Beispielhaft verdeutlicht Neal Beagries Artikel “Plenty of Rooms in the Bottom?Personal Digital Libraries and Collections“193 aus dem Jahre 2005 welche Aktivitäten nun einsetzten. Beag-rie erörterte den Einfluss des digitalen Technologiewandels und insbesondere des Internets mit seinen Tausch-, Publikations- und Speicherangeboten auf die persön-lichen Archive und propagierte eine Perspektivergänzung. Es ging ihm nicht mehr nur um eine punktuelle Intervention in präkustodiale Prozesse, sondern ganz grundsätzlich um die Analyse der Formierungsprozesse persönlicher Archive und um die kontinuierliche Unterstützung der Bestandsbildner durch die Gedächtnis-organisationen Archiv und Bibliothek. Schon seit 2002 wurden persönliche Archi-ve und deren Formierungsprozesse vom kanadischen Projekt InterPARES 2

190 Vgl. Cunningham 1999, S. 53.

191 Vgl. Summers, John 2001; Kirschenbaum, Farr, Kraus 2009a; Redwine 2010; Carroll u. a.

2011.

192 Vgl. Paquet 2000.

193 Beagrie 2005.

siert194; seit 2005 dann vom britischen Projekt Paradigm, wobei man sich hier wie dort auf einige wenige Bestandsbildner beschränkte. Einen umfassenderen Ansatz verfolgte Digital Lives, das die British Library 2007 auflegte und dem Neal Beag-rie zu Beginn auch selbst vorstand. So startete Digital Lives mit einer weitgefass-ten empirischen Studie über persönliche Archive und ihre Bestandsbildner, die Methoden der qualitativen und der quantitativen Sozialforschung kombinierte. Die Stichprobe umfasste sowohl Akademiker als auch „the digital public“195. Auf die-ser Basis konnten dann Lösungen für die Langzeitarchivierung persönlicher digi-taler Objekte und auch für die präkustodiale Intervention vorgeschlagen und eva-luiert werden.

Unabhängig davon erschien in den vergangenen Jahren in den USA und Großbri-tannien eine Vielzahl an Einzelpublikationen, die sich persönlichen Archiven widmeten oder auf Grundlage empirischer Daten Lösungen modellierten und ent-wickelten.196 Daran maßgeblich beteiligt waren Special Collections, die digitale Schriftstellernachlässe aufbewahren. Einen interessanten Beitrag lieferten etwa Kirschenbaum und sein Projektteam, die drei Bibliotheken in den USA besuchten und jeweils anhand eines dort verwahrten Bestandes die mit der Archivierung von digitalen Objekten verbundenen Probleme analysierten und mögliche Langzeitar-chivierungs-Perspektiven erörterten. Sie fokussierten dabei das Verhältnis Spei-chereinrichtung – Forscher und damit die Anforderungen, die Forscher an die Be-wahrung und Bereitstellung von digitalen Nachlässen stellen.197 Unter den analysierten Beständen befand sich auch der digitale Vorlass Salman Rushdies, der seit 2010 von der Emory's Manuscript, Archives, and Rare Book Library in Atlanta, Georgia, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die Umsetzung dieses großen Projektes, zu dem auch die Ausstellung der Computer-Arbeitsumgebung Rushdies gehörte, schilderten Carroll u.a. in einem 2011 veröf-fentlichten Bericht.198

Allerdings sind die genannten Beiträge als Leuchtturmprojekte zu betrachten, die nicht den aktuellen Stand in der Breite widerspiegeln. Um mehr Aufmerksamkeit

194 InterPARES betrieb Grundlagenforschung zur Langzeitarchivierung. Analysiert wurden u.a.

auch persönliche Archive von Künstlern, i. d. F. Komponisten und Fotografen. Vgl. Bushey, Braun 2007; Longton 2007.

195 John u. a. 2010, S. 13ff. Entsprechend des ganzheitlichen Ansatzes von Digital Lives wurde zudem eine empirische Studie zu den Bedürfnissen der Nachlasskuratoren und Nutzer digitaler Nachlässe durchgeführt.

196 Beispielhaft hierfür sind Hedström u. a. 2006; Jones, Teevan 2007 und Forstrom 2009.

197 Vgl. Kirschenbaum, Farr, Kraus 2009a.

198 Vgl. Carroll u. a. 2011.

für digitale Nachlässe warb Elizabeth Dow in ihrem 2009 als Monographie publi-zierten Leitfaden „Electronic Records in the Manuscript Repository“. Sie setzte sich auch für eine Zusammenarbeit zwischen Bestandsbildnern und Kuratoren in der präkustodialen Phase ein.199 Viele US-amerikanische Special Collections zeig-ten aber noch 2011 Defizite bei der Umsetzung einer solchen Strategie, was Goldman vom American Heritage Center der University of Wyoming in seinem Artikel ausführlich darstellte.200 Bis 2013 fanden zudem noch zwei Projekte statt, in denen US-amerikanische und britische Kuratoren zusammen Lösungen für die präkustodiale Phase und den Ingest digitaler Objekte erarbeiteten. Aber auch diese Projekte brachten keine wirklich neuen Erkenntnisse; sie beruhen vielmehr auf schon publizierten Ergebnissen, etwa von Paradigm, die aber nicht weiterentwi-ckelt, sondern aus der Perspektive der teilnehmenden Institutionen interpretiert wurden.201

Interessant bezüglich der Strategieentwicklung in Special Collections war eine neuerliche Wortmeldung von Adrian Cunningham. 2011 blickte er auf die Ent-wicklung seit 1994 zurück und kam zu dem Schluss, dass der von ihm seinerzeit verfolgte Weg, institutionelle Strategien für persönliche Archive zu adaptieren, der Königsweg für die Zukunft sei. Beide Anwendungsbereiche konvergierten, da digitale Medien die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben auflösten:

In the future perhaps all recordkeeping, both organisational and personal, will be personal recordkeeping. In other words, organisational recordkeep-ing systems may become nothrecordkeep-ing more than the totality of the collected per-sonal recordkeeping systems of its various staff members, past and present.

199 Vgl. Dow 2009, S. 117ff.

200 Sehr deutlich spricht Goldman die Defizite in den USA an, wenn er schreibt: „While we con-tinue to wait for that one perfect, affordable, all-encompassing solution for electronic records, digital materials already in our possession deteriorate, and the size of the digital universe grows ever larger. This circumstance is surprising when you consider how many projects, articles, and conference presentations (not to mention millions of dollars in funding) have been devoted to the issue of electronic records over the years. As evidence builds that our profession is quickly acquiring a broad range of born-digital materials without much thought given to next steps, perhaps what is missing from the literature is an articulation of the beginning actions that re-positories can take to deal with the growing born-digital backlog in our holdings.“ (Goldman 2011, S. 11.) Goldman erwähnt auch eine Studie der American Library Association (ALA), wonach von 125 untersuchten Special Collections zwar 85 „born-digital“ Materialien sammeln;

jedoch nur 30 diese Materialien aktiv akquirieren und sogar nur 15 davon über einen entspre-chenden Langzeitarchivierungs-Prozess verfügen. Vgl. Goldman 2011, S.11ff.

201 AIMS Work Group 2012; Redwine u. a. 2013.

If so, then principles and strategies devised for one should be applicable for the other.202

Die Rezeption dieser Idee hatte zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit noch nicht eingesetzt, sodass seine Bewertung und Einordung in die Literatur nicht möglich ist.

Seit etwa 2005 wird zudem ein komplementärer Ansatz stärker verfolgt, der von der Archivierung digitaler Objekte in Archiven oder Bibliotheken absieht und stattdessen die dauerhafte Archivierung beim Bestandsbildner favorisiert. Dieser Ansatz berücksichtigt die Bedürfnisse von Privatpersonen und Familien, deren Archive nicht in den Sammelprofilen von Archiven und Bibliotheken Berücksich-tigung finden. Beispielhaft sind die Publikationen der Library of Congress203 und die jährlich von der American Library Association (ALA) initiierte Preservation Week, die Laien mit Techniken der Langzeitarchivierung vertraut machen möch-te.204 Durch verschiedene Werkzeuge wie Leitfäden, Schulungen oder Beratungs-angebote soll das Individuum ermächtigt werden, die ihm als wertvoll erscheinen-den Archivobjekte selbstständig zu sichern und, auch über Generationen hinweg, den Zugang sicherzustellen. Diese Sichtweise verfügt offenbar über ein ökonomi-sches Potenzial, das sich auch in Forschungsaktivitäten und Dienstleistungsange-boten privater Organisationen niederschlägt. So engagierte sich Microsoft im Be-reich des „Lifeloggings“205 und publizierte auch zum Thema „Personal Archiving“206. Andere Anbieter entwickelten webbasierte Speicherangebote oder boten Passwortmanagement im Web 2.0-Umfeld an.207 Seit 2010 findet zu diesem Segment in den USA die Personal Digital Archiving Conference (PDA) statt. Sie vertritt ebenfalls den Anspruch, die digitalen Archivierungspraktiken breiter Be-völkerungsschichten zu untersuchen. Die Konferenz hat den Charakter eines in-formellen Zusammentreffens von Bibliothekaren, Archivaren, privaten Dienstleis-tern, Entwicklern, Wissenschaftlern und Privatpersonen, wobei sie insbesondere

202 Cunningham 2011, S. 81.

203 Vgl. Library of Congress 2013; Ashenfelder 2013.

204 Siehe hierzu die Webseite der ALA. Vgl. American Library Association 1996-2014.

205 Lifelogging-Technologien bieten die Möglichkeit, alle menschlichen Aktivitäten mit Hilfe digi-taler Techniken aufzuzeichnen. Vgl. Czerwinski u. a. 2006; Bell, Gemmell 2009.

206 Vgl. Marshall, Bly, Brun-Cottan 2006; Marshall 2007; Marshall 2008a; Marshall 2008b.

207 Beagrie 2005 bietet eine Übersicht auch über private Anbieter unter „Emerging Services and Research“. Zum Passwortmanagement vgl. Schloeman 22.09.2009.

von Teilnehmern aus den USA frequentiert wird.208 Gerade in den USA ist in den letzten Jahren eine Konvergenz dieses Ansatzes, den man als post- oder non-kustodialen Ansatz bezeichnen kann, mit den Angeboten von Archiven und Bibli-otheken zu beobachten, die damit ihren Ansprüchen als Dienstleister für ihre Be-nutzer entsprechen wollen.

Auf dem europäischen Kontinent begann die Beschäftigung mit persönlichen Ar-chiven erst spät. Die 4. Konferenz der LIBER Manuscript Librarians Group in Rom diskutierte 2010 in der Session 2 erstmalig diese Frage.209 Besonders erwäh-nenswert in Zusammenhang mit der Themenstellung dieser Arbeit ist auch noch ein Projekt der Dänischen Nationalbibliothek in Kopenhagen. Dort wird seit 2010 ein digitales Vorlass-System zur Erfassung der E-Mail-Korrespondenzen von Wis-senschaftlern erprobt und nun auch eingesetzt.210