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3 (Vor-)Leistungserbringung unter Pandemiebedingungen

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 118-121)

Die vom digitalen Format erzwungene Anpassung von Lehrveranstaltungen, und hier besonders Seminaren, kann mit einer pragmatischen Reduktion der Komplexität von Wissen durch die Lehrenden einhergehen, die Inhalte stark vorselektieren, um sie für die Vermittlung und Aneignung in digitalen Räumen verfüg- und nutzbar zu machen.

Studierende sind aufgrund der Asynchronität und anderer „Verfügbarkeit“, sowohl

10 Wie die Ausbildung vergleich- und verwertbaren Humankapitals, das Absolvent:innen auf Arbeitsmärkten einsetzen kön-nen oder in kapitalistisch organisierten Gesellschaften zur Existenzsicherung müssen.

11 Hierzu Fuchs, 2007, S. 139.

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von Lernmitteln als auch der Lehrenden selbst, darauf verwiesen, Vertrauen auszubil-den; und zwar Vertrauen darauf, dass ein Studium unter diesen für alle Beteiligten veränderten Bedingungen gelingen wird. Luhmann (1991, S. 181) definiert „Vertrauen“

als einen universalen sozialen Tatbestand, das nur dadurch überdeckt wird, dass

„[...] es funktional äquivalente Sicherheitsstrategien und Situationen fast ohne Wahlfrei-heit gibt, etwa im Bereich von Recht und Organisation. Auch hier mag aber Vertrauen als eine Art redundante Sicherheitsgrundlage erforderlich werden, wenn die üblichen Verhal-tensregulierungen erschüttert werden“ (ebd., S. 181 f.).

Lehre unter Pandemiebedingungen, also unter Bedingungen, die die üblichen Verhal-tensregulierungen potenziell erschüttern, zu planen und zu gestalten – und in diesem Kontext den Aufforderungen der Universitätsleitungen zu folgen, „Präsenzveranstal-tungen so vorzubereiten, dass sie kurzfristig digital angeboten werden können“, „On-line-Prüfungen nach Möglichkeit zu bevorzugen“ oder Lehrveranstaltungen im Prä-senzbetrieb als die absolute Ausnahme zu betrachten12 – stellt die Lehrenden und Studierenden vor weitgehend neue Herausforderungen. Die Anforderungen erzwin-gen trotz bereits etablierter digitaler Praktiken, wie die Kombination von online zur Verfügung gestellten Materialen mit Präsenz-Lehre, eine grundlegende Veränderung etablierter Handlungsmodi. Die notwendigen Modifikationen lassen sich in Anleh-nung an Schröder, Thompson und Wrana (2018, S. 349) auch als „Leistung vor der Leistung“13 bezeichnen. Diese umfasst aufseiten der Lehrenden – mehr denn je –, in Vorleistung zu gehen: in Vorleistung für die Selektion „geeigneter“ Materialen, für die Art und Weise ihrer Darstellung und ihre Verfügbarmachung sowie die Wahl, Instal-lation und Nutzung „geeigneter“ technischer Übermittlungsformate. Aufseiten der Studierenden besteht die Leistung vor der Leistung insbesondere darin, Vertrauen auszubilden, dass ein Studium unter diesen für alle Beteiligten anderen/neuen Be-dingungen, die ein gesteigertes Maß an Eigenverantwortung für Lernprozesse nach sich ziehen, gelingen wird. Dabei wird das „Gelingen“ aufseiten der Studierenden da-ran gemessen, inwiefern es ihnen gelingt, sich in die bestehende Neu- und/oder An-ordnung einzufügen, sich also „[…] im Horizont der a sie gerichteten Anforderungen und Versprechen als Studierende zu subjektivieren“ (Schröder et al., 2018, S. 349).

Während in Präsenzformaten der Lehre gegenseitige Erwartungshaltungen und Posi-tionierungen – sowohl inhaltlich als auch räumlich – in Teilen diskursiv zur Sprache und zum Ausdruck gebracht sowie problematisiert werden können, verschiebt sich die Lehre und damit die Möglichkeit des Sich-Adressierens und Sich-zur-Sprache-Bringens unter Pandemiebedingungen auf virtuelle Räume, wobei durch

Software-12 Die durch die Vizepräsidentin für Studium und Lehre der Friedrich-Schiller-Universität Jena formulierten und hier zitierten Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre im Kontext der Corona-Pandemie (vgl. Friedrich-Schiller-Universität Jena 2020) sind exemplarisch zu betrachten. Außerdem können die auf der Website der Martin-Luther-Universität Halle-Wit-tenberg veröffentlichten Informationen für Studierende zum Lehrbetrieb im Kontext der Corona-Pandemie angeführt wer-den.

13 Im zitierten Beitrag werden Online-Self-Assessments (als gouvernementale Praktiken) analysiert, die Anwärter:innen auf einen Studienplatz durchlaufen. Die im Zuge der analysierten Praktiken eingenommene und problematisierte Perspektive auf Leistung und (wechselseitige) Leistungsverhältnisse zwischen Anwärter:innen, beziehungsweise auch Studierenden und Lehrenden erweist sich als anschlussfähig für den vorliegenden Beitrag.

118 Wie in der Lehre durch Komplexitätsreduktion die Muße ausgehebelt wird

einsatz Quasi-Präsenzen14 der Seminar- und Vorlesungsteilnehmenden inszeniert werden können. Beide Seiten verbindet der Rahmen für die zu erbringenden Vorleis-tungen: Die je spezifischen Lehr-Lernarrangements werden innerhalb der Organisa-tion Universität von InstituOrganisa-tionen gerahmt. Mit InstituOrganisa-tionen als Regelwerke innerhalb von Organisationen sind Erwartungen an das Verhalten der Organisationsmitglieder verbunden. Zech (2018, S. 180) differenziert die zu einem organisationsspezifischen Regelsystem geronnenen Verhaltenserwartungen, auf der Prämisse systemtheoreti-scher Vorüberlegungen, auf drei Ebenen als formale, informelle und latente Regeln.

Kurz gefasst sind in den formalen Regeln die Bedingungen der Mitgliedschaft festge-legt, in den informellen Regeln spiegelt sich der Umgang der Beteiligten innerhalb einer Organisation untereinander bei der Erledigung ihrer Aufgaben und latente Re-geln sind Erwartungsstrukturen innerhalb einer Organisation, die den Beteiligten nicht bewusst sind, aber das Funktionieren der Organisation bestimmen (vgl. ebd.).

Eines dieser formalen Regelwerke, das zugleich informelle und latente Regeln

„zwischen den Zeilen“ enthält und insofern auch unausgesprochene reziproke Ver-haltenserwartungen an die Leistungs- im Sinn von Funktionserfüllung der Lehrenden und Studierenden, ist das jeweilige Modulhandbuch eines Studiengangs. In den uni-versitären Modulhandbüchern lassen sich zu jedem Modul eines Studiengangs Modul-beschreibungen finden, in denen für Lehrende und Studierende (1) mögliche Inhalte eines der im jeweiligen Modul verorteten Seminare vorformuliert werden, (2) der für das Seminar aufzuwendende Workload definiert wird, (3) die zu erlangenden Credit-points und die zu erwartende „Kompetenzaneignung“ aufseiten der Studierenden durch Teilnahme an einem Seminar/einer Vorlesung innerhalb des Moduls festgelegt und (4) die mit dem Modul verbundenen formalen Zielstellungen – wenn auch nur in Form von Schlagworten – schriftlich fixiert werden. Ihre feingliederigere Ausformu-lierung finden die Zielstellungen dann in den Seminarplänen. Mit Seminarplänen wird eine Idee entworfen und schriftlich fixiert, zu welcher Zeit, an welchem Ort wel-che Themen zum Gegenstand gemacht werden sollen. Was dann tatsächlich Inhalt der jeweiligen Veranstaltung ist, ist vorab ungewiss und wird in der Lehr-Lernsituation, in Anwesenheit der Beteiligten, zur Sprache und zum Ausdruck gebracht. Die Möglich-keiten des Zur-Sprache- und Zum-Ausdruck-Bringens sind unter Pandemiebedin-gungen neue/andere als jene im „etablierten“, im Sinne eines zu erwartenden Modus, mit dem Adressierungen und Erwartungshaltungen an die Beteiligten einhergehen.

Im Vergleich von Seminarplänen vor und während der Pandemie werden diese neuen/anderen (Un-)Möglichkeiten deutlich, auf die im Fortgang eingegangen wird.

14 Unter Quasi-Präsenz wird die Inszenierung der vor dem Bildschirm Sitzenden verstanden, deren Präsenz für die anderen an einer Sitzung Teilnehmenden nicht sichtbar sein muss. Sichtbar wird aus der Perspektive der anderen nur jener Aus-schnitt, den die Kamera des Endgerätes einfängt. Die vor dem Bildschirm Sitzenden haben die Möglichkeit, sich jederzeit einer Präsenz und direkten Adressierung (durch Augenkontakt, Aufzeigen etc.) zu entziehen, indem sie sich für andere nicht sichtbar und hörbar machen (Stummschaltung des Mikrofons, Ausschalten der Bildschirmkamera).

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Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 118-121)