2.1 Was ist ein RA-Abstract?
Bei Abstracts handelt es sich im Rahmen des wissenschaftlichen Publikationswesens zunächst um Texte, die zu ganz unterschiedlichen Anlässen erstellt werden, bspw. als erste Strukturierung einer Doktorarbeit über mehrere Seiten, als Ankündigung für einen Vortrag auf einer Fachtagung oder auch als interner Vorschlag in Reaktion auf einen Teilnahmeaufruf für einen Sammelband. Neben diesen Formaten sticht eine Sorte von Abstracts heraus: der research article abstract (kurz: RA-Abstract). Er unter-scheidet sich von den anderen Verwendungsbereichen vor allem durch eine Konven-tion der Zeichenanzahl (vgl. Swales & Feak, 2009, S. XIV–XV) und dass er sich auf einen fertiggestellten wissenschaftlichen Artikel erkennbar bezieht, dessen Inhalt mittels Abstraktion kurz und prägnant dargestellt werden soll (vgl. Huemer et al., 2012, S. 11).
Zur obigen Definition von RA-Abstracts aus den zwei Komponenten „Zeichen-länge“ und „Bezugspunkt“ möchten wir eine inhaltliche Bestimmung von Abstracts allgemein nach Pinto (2006) ergänzen: „Abstracts are reduced, autonomous and pur-poseful textual representations of original texts, above all, representations of the es-sential content of the represented original texts“ (ebd., S. 215). Sie lassen sich somit von Extracts unterscheiden, die lediglich Sätze oder Satzteile des fertigen Textes selek-tieren und neu anordnen (vgl. Stock & Stock, 2008, S. 380 f.). Sie haben nach Pinto vielmehr den Sinn einer eigenständigen Repräsentation. Stock und Stock
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den ferner in ihrer informationswissenschaftlichen Publikation zwischen einem dokumentorientierten Abstract, welches entsprechend einer homomorphen Informa-tionsverdichtung „die relativen Anteile der Themen im Abstract mehr oder minder enthalten [soll]“ (ebd., S. 385), und einem perspektivischen Abstract, welches einem paramorphen Vorgehen folgt, was bedeutet, dass „gewisse Teile der Aboutness der dokumentarischen Bezugseinheit referiert und andere ausgelassen werden, insofern die ausgelassenen Gesichtspunkte für die Zielgruppe irrelevant sind“ (ebd.).
Stock und Stock weisen auf weitere Unterscheidungsebenen hin (vgl. ebd., S. 389 f.): So geht ein indikatives Abstract lediglich in verdichteter Form auf die ver-handelten Sachverhalte eines umfangreichen Textes ein, während in informativen Ab-stracts ein Schwerpunkt darin liegt, die Ergebnisse und ihre Bedeutung darzulegen.
Schließlich kann noch zwischen traditionellen (unstrukturierten) Abstracts unter-schieden werden, die im Rahmen einer Zeichenbegrenzung als Blocktext erscheinen und gewisse Freiheiten zur Abfolge und zum Umfang von Inhalten ermöglichen, und strukturierten Abstracts, in denen vorgegebene Überschriften zur Gliederung und Ordnung genutzt werden (vgl. ebd., S. 390 f.).
Hinsichtlich der inhaltlichen Bestandteile eines RA-Abstracts möchten wir auf zwei Systematisierungsvorschläge hinweisen. So geht es bei der move analysis als Be-standteil der linguistischen Diskursanalyse darum, die Realisierung eines Schemas, wie der I-P-M-Pr-C-Abfolge, zu untersuchen (diese steht für Introduction, Purpose, Method, Product, Conclusion, vgl. Hyland, 2004, S. 67; vgl. Swales & Feak, 2009, S. 5).
Alternativ dazu nehmen Huemer et al. (2012) eine eher wissenschaftstheoretische Per-spektive ein und empfehlen in ihrer Schreibhilfe für wissenschaftliches Arbeiten eine Differenzierung der Textsegmente nach drei Kategorien: Verortung im Forschungs-feld, Aufzeigen einer Forschungsnische, Besetzen der Nische (vgl. ebd., S. 15).
2.2 RA-Abstracts als Untersuchungsgegenstand: Ein Literaturüberblick Wissenschaftliche Untersuchungen und Einschätzungen zur Textsorte des RA-Ab-stracts haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Konjunktur erfahren. Dies dürfte einerseits mit der unproblematischen Zugänglichkeit dieser Texte in bereits sortierten digitalen Datenbanken zusammenhängen; andererseits lässt sich mit Blick auf Aussa-gen, wie „I routinely advise people to ‚spend as much time on your title and abstract as you spend on the rest of the paper‘“ (Eva, 2012, S. 40) konstatieren, dass RA-Abstracts im wissenschaftlichen Publikationswesen eine weitreichende Bedeutung zugemes-sen wird.
Wir konnten bei unserer Literaturrecherche mehrere Reflexionsräume zu Ab-stracts identifizieren, die teils aufeinander Bezug nehmen, teils weitgehend unabhän-gig geführt werden. Der folgende Überblick kann somit als Aktualisierung des Syste-matisierungsversuchs bei Kretzenbacher (1998) verstanden werden. So gibt es linguis-tische Untersuchungen in der Tradition der move analysis nach Swales und Feak (2009), die sich der Abfolge bestimmter rhetorischer Mittel in RA-Abstracts widmen (siehe bspw. Khany & Malmir, 2020). Auf die Thematisierung von RA-Abstracts in der Informations- und Bibliothekswissenschaft wurde bereits hingewiesen (Stock & Stock, 56 Das täglich Brot akademischer Komplexitätsreduktion in Pressemitteilungen und Journal-Abstracts
2008, s. o.). Möglichkeiten der automatisierten Erstellung von Abstracts werden in der Informatik thematisiert (siehe bspw. Saggion, 2008). Darüber hinaus finden auch dis-ziplinspezifische Diskurse statt, die sich vor allem mit der Frage der Optimierung beschäftigen (allgemein Hartley, 1994; exemplarisch zum Diskurs in der Medizin:
Vrijhoef & Steuten, 2007; Eva 2012). Abstracts als Möglichkeit, inhaltliche Analysen über ein bestimmtes Forschungsfeld durchzuführen, finden sich bspw. bei Kessler et al. (2020). Hier werden Abstracts genutzt, um die Disziplingenese zu beschreiben.
Schließlich können Abstracts auch für vergleichende Analysen genutzt werden, bspw.
hinsichtlich der Übersetzungen in andere Sprachen (Müller, 2008).
Parallel dazu finden sich Ratgeber für wissenschaftliches Arbeiten und Schrei-ben, die die Erstellung von RA-Abstracts thematisieren, indem sie Konventionen ex-plizieren und Anleitungen zur Entwicklung handwerklicher Fähigkeiten mitliefern (bspw. Swales & Feak, 2009; Huemer et al., 2012). Teilweise werden diese auch von Lehrstühlen reformuliert und sind als Handreichung im Internet öffentlich auffind-bar. Hinzu kommen natürlich noch die Vorgaben der Verlage, die die Gestalt(ung) von RA-Abstracts selbstredend beeinflussen (eine Linksammlung für medizinische Jour-nale etwa bei Eva, 2012, S. 34).
Wir können auf diese Literatur insofern zurückgreifen, als dass wir die expliziten Verfahrensanweisungen für das Verfassen dieser Textsorten dahingehend prüfen können, ob diese hilfreiche Strategien zur Komplexitätsreduktion beinhalten. Damit möchten wir einen weiteren Reflexionsraum eröffnen, der ergänzend zur referierten Literatur RA-Abstracts als Variante von WK aufgreift und sich mit Fragen der Abstrak-tion und Vernetzung wissenschaftlicher Erkenntnis im Angesicht von Überfluss be-schäftigt.
2.3 RA-Abstracts als Format interner Wissenschaftskommunikation
Ziel dieses Unterkapitels ist es, die Textsorte der RA-Abstracts über deren Reformulie-rung als Format interner WK mit den wissenschaftstheoretischen Vorbemerkungen aus Kapitel 1 zu verknüpfen. Dies gelingt, indem das RA-Abstract als Bestandteil der
„scholary communication” (Lüthje, 2017, S. 110 – Herv. i. Orig.) verstanden wird, d. h. als eine Möglichkeit der wissenschaftlichen Kommunikation, sich über gemeinsame Fra-gestellungen und Forschungsergebnisse auszutauschen, wie es nach Stichweh für Disziplinen konstitutiv ist.
Interne WK wird durch die Normierung der Kommunikation charakterisiert,
„wobei alle Regeln wissenschaftsintern erzeugt, historisch gewachsen und gleichzei-tig prinzipiell wandelbar sind durch die Interaktion von wissenschaftlichen Feldre-geln und individuellem Habitus“ (Lüthje, 2017, S. 110). RA-Abstracts können der for-malen internen WK zugeordnet werden, da sie sich als begleitende Praktik der Textsorte „Zeitschriftenartikel“ zählen lässt (vgl. ebd., S. 111). Es handelt sich damit um ein Konstrukt, welches seine formale Gestalt dadurch erlangt, dass es beständig im wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang reproduziert wird, womit sich ein reziprokes Verhältnis von Erwartungen an die Textgestaltung einstellt, wel-ches sich aus dem Lesen anderer und dem Schreiben eigener Abstracts speist. RA-Abstracts sind eng mit der Originalpublikation, auf die sie verweisen, verknüpft.
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Damit gilt auch für sie, dass sie „sich an einen nicht spezifizierten, personell poten-tiell unbeschränkten Adressatenkreis“ (Taubert, 2017, S. 126) richten, was dadurch nochmals gesteigert wird, dass RA-Abstracts im Internet – im Gegensatz zu den Arti-keln selbst – meist öffentlich und kostenlos angeboten werden. Insofern weist die Bezeichnung „intern“ weniger auf den öffentlichen Zugang hin, sondern markiert den Bedarf an Fachkompetenz, um an dieser Kommunikation teilnehmen zu können (vgl. ebd.) – also kurz: technische Zugänglichkeit ungleich inhaltliche Zugänglichkeit.
Die nach Stichweh erforderlichen Termini zur Beschreibung des Erkenntnisgegen-standes werden daher wie selbstverständlich in RA-Abstracts referiert (vgl. Stichweh, 2013, S. 56), da die Autor:innen nicht erwarten müssen, an dieser Stelle den Kontakt zu einem anderen gesellschaftlichen Teilsystem zu bewältigen.
Wir hatten in den Vorbemerkungen bereits darauf verwiesen, dass Stichweh das Zitieren in wissenschaftlichen Publikationen als zentrales Kriterium ansieht, um die moderne Wissenschaft als autopoietisches System zu verstehen. Der Publikationsver-weis als Akt „extreme[r] Reduktion“ (Stichweh, 2013, S. 60) kann realisiert werden, da sich auf den Kern des vorausgegangenen Erkenntnisgewinns konzentriert wird. RA-Abstracts unterstützen diese Praxis: weniger als Formulierungsvorschlag, sondern eher in der Konkretisierung des wissenschaftlichen Mehrwerts, d. h. als explizierte Vorstellung der Autor:innen, wie sie in der Community rezipiert werden möchten2 sowie der selbstbewussten Behauptung, sich für den jeweiligen Diskurszusammen-hang einer Disziplin qualifiziert zu haben und anschlussfähig (d. h. zitationsfähig) zu sein. Damit ergänzen wir gängige Funktionssammlungen, wie etwa bei Swales und Feak (2009), um eine neue Komponente. Wird Komplexitätsreduktion in RA-Abstracts betrieben, geschieht dies nicht als reiner Selbstzweck, da es sich in den meisten Fällen um ein perspektivisches, informatives Kurzreferat handelt (s. o.), welches in einer hochformalisierten und erwartungsgetriebenen Umgebung die genannten Funktio-nen interner WK zu erfüllen hat.