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1 Einleitung oder: was die künstlerische mit der akademischen Freiheit zu tun hat

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 113-117)

Was verbindet Design und Studium und welche Chancen und Risiken liegen, unter Berücksichtigung der Komplexität wissenschaftlichen Wissens und universitärer Lehre, in deren Verbindung? Dies ist die Ausgangsfrage der nachfolgenden Gedan-kengänge, in denen versucht wird, organisationspädagogische und bildungswissen-schaftliche Perspektiven zu verknüpfen. Zunächst einmal vereinen beide die Prämis-sen „Freiheit“ und „Funktion“. Design ist Ausdruck künstlerischer Freiheit und zugleich immer auch auf die Erfüllung einer Funktion1 ausgerichtet. In der künstlerischen Frei-heit begründet, mag ein Produkt in den unterschiedlichsten Formen, Farben etc. ge-staltet sein; diese Gestaltung folgt aber immer dessen Funktion. Zugleich gilt:

„And: design is apriori social because it has to be used and only exists when it is used.

Design is, however, not always able to control or prescribe the ways in which people will use it. [...] What is designed is open to all kinds of changes” (Erlhoff, 2018, S. 7).

Das Design eines Gegenstandes gewährt somit nicht, dass Zugriff nehmende Perso-nen dies entsprechend der Intention der Designer:inPerso-nen tun. Weitergedacht ist be-reits das Design einer Sache eine Interpretation der Funktion eines Gegenstandes und somit bereits ein erster deutender handlungspraktischer Bezug. Die Funktion eines Studiums ist, so ein Gründungsgedanke der modernen Universität, eine Inten-tion, wenn man so will, auf der Prämisse akademischer Freiheit, d. h. der Freiheit von

1 „It is the pervading law of all things organic and inorganic, of all things physical and metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, of the soul, that the life is recognizable in its expression, that form ever follows function. This is the law.“ (Sullivan, 1896, S. 408; Hervorhebung: d. V.)

112 Wie in der Lehre durch Komplexitätsreduktion die Muße ausgehebelt wird

Forschung und Lehre, darauf ausgerichtet, zu bilden. Dabei ist universitäre Bildung traditionell am

„[...] Postulat der Einheit von Lehre und Forschung, dem Betriebsgeheimnis einer über das Phantasma bloßer Wissensvermittlung hinausgehenden geistigen Anstrengung, von der eine intellektuelle und individuelle Reifung überhaupt erst ihren Ausgang nimmt[, orien-tiert; d. V.]“ (Haß, 2008, S. 108).

Weiterhin soll das Studium der Qualifizierung und Rekrutierung neuer Wissenschaft-ler:innen dienen und muss entsprechende Rahmenbedingungen für Bildungspro-zesse der Noviz:innen bereits in der Studienzeit zur Verfügung stellen (vgl. Stichweh, 2016, 2013). Es lässt sich anhand dieser Paradigmen ableiten, dass sich das Design von universitären Bildungsangeboten an den funktionalen Anforderungen der Komplexi-tät wissenschaftlichen Wissens orientieren muss. Zugleich wird aber auch deutlich, dass bereits in einem ersten Schritt die Deutung der Lehrenden, was die gegenstands-angemessene didaktische Aufbereitung desselben sei, das Design eines Vermittlungs-angebotes präformiert. In einem zweiten Schritt nehmen Studierende in ihrer eben-falls individuellen Interpretation der Ansprüche eines Bildungsgegenstandes darauf Bezug, wobei sie darauf verwiesen sind, sich an der didaktischen Überformung der Sache durch die Lehrenden zu orientieren. Wissenschaftliches Wissen ist somit an dieser Stelle bereits zweimal durch Zugriffe der Akteur:innen gedeutet worden und immer dem Risiko einer komplexitätsreduzierenden Deutung ausgesetzt. Hier zeigen sich die hohen Anforderungen, die mit einer komplexitätserhaltenden Vermittlung und Aneignung wissenschaftlichen Wissens einhergehen, welche zusätzlich durch den strukturellen Wandel der Handlungsrahmen universitärer Lehre eine weitere Steigerung erfährt. Eine erste erfährt diese traditionelle Vorstellung der Aneignung wissenschaftlichen Wissens mit der grundlegenden Umstrukturierung universitärer Studiengänge als Ergebnis des Bologna-Prozesses. Studieninhalte und Abschlüsse sollen innerhalb des Europäischen Hochschulraumes vergleichbar sein und sowohl auf der Organisations- als auch der Subjektebene Employability und Wettbewerbsfä-higkeit generieren (vgl. Pohlenz, 2018). Folgen auf der Handlungsebene, wie die Mo-dularisierung von Studiengängen und die Einführung von Creditpoints, durch die Studieninhalte und der damit verknüpfte Stundenaufwand transparent gemacht und zugleich normiert werden, lassen sich polemisch mit dem Begriff „Verschulung“

(Winter, 2009, S. 46) zusammenfassen. Leistungen aufseiten von Studierenden und Lehrenden werden vergleich- und messbar gemacht, was sich auch in der Strukturie-rung und Aufbereitung des angebotenen Wissens manifestiert und ein Risiko zur Komplexitätsreduktion desselben darstellt (vgl. ebd.).

Miriam Hörnlein & Janine Kuhnt-Rose 113

Nun stehen die Hochschulen mit SARS-CoV-22 vor einer Herausforderung, die eine adäquate Anpassung universitärer Lehr- und Lernsettings notwendig macht. Um eine weitgehende Teilhabe aller Studierenden zu ermöglichen, wird die bisher vor allem in Präsenz stattfindende Lehre in den digitalen Raum verlegt. Aufgrund der veränderten Handlungsanforderungen innerhalb digitaler Lernsettings – etwa der Be-reitstellung asynchroner Angebote oder der durch technische Grenzen notwendigen Anpassungen der Diskursorganisation in synchronen Seminarphasen – erscheint eine Komplexitätsreduktion wissenschaftlichen Wissens pragmatisch notwendig. In der Bilanzierung des ersten digitalen Semesters wird von Funktionsträgern in deut-schen Hochschulen resümiert, dass Lehrende und Studierende gemeinsam Wege gefunden hätten, das Semester erfolgreich zu gestalten (vgl. u. a. Winkler, 2020) und somit auch große Chancen für die Hochschulentwicklung in diesem Format steckten, was eine Verstetigung digitaler Angebote als Erweiterung universitärer Lehre wahr-scheinlich erscheinen lässt.

Überdies kann die Frage nach der Verbindung von Design und Studium damit beantwortet werden, dass im elementaren Werkzeug universitärer Lehre – und als solches lässt sich der Seminarplan verstehen – Design und Studium eng verzahnt sind.

Dabei ist die Funktion eines Seminarplans auf die Präsentation einer Idee der Vermitt-lung und Aneignung bestimmter Wissensbestände gerichtet. Im Seminarplan, als einer aus akademischer und künstlerischer Freiheit geronnenen präsentierten Idee von intendierten Prozessen hochschulischen Wissenstransfers, äußern sich die aufseiten Lehrender bestehenden Ansprüche, (1) Orientierung bezüglich der zu erwartenden Wissensinhalte zu schaffen und zugleich (2) (Frei-)Räume für Bildungsprozesse zu eröffnen. Mit der präsentierten Idee werden Erwartungen3 formuliert und mitunter auch erst geweckt. Ebenso wird ein studentischer Vertrauensvorschuss auf die Erfül-lung der formulierten Erwartungen im Rahmen des Seminars und nach dessen Been-digung impliziert. Wenn für den Seminarplan als Präsentation einer Idee gilt, dass dessen Form seiner Funktion folgt, dann wäre dieser so zu gestalten, dass in ihm gra-fisch formiert und textlich formuliert wird4, was inhaltlich als Gegenstand verhandelt, vermittelt und angeeignet werden soll. Auch wäre er so zu gestalten, dass er über die grafische Form und die textliche Formulierung im Sinne universitären Wissenstrans-fers Bildungsprozesse eröffnet. Grafische Formierung und textliche Formulierung können so als Bildungsanlässe verstanden werden. Dabei stehen die Funktionen,

2 „SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) ist ein neues Beta-Coronavirus, das Anfang 2020 als Auslöser von COVID-19 identifiziert wurde. [...] Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Auf-nahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehen. [...] Bei längerem Aufent-halt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 m erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt, sich längere Zeit in dem Raum aufhält und exponierte Personen besonders tief oder häufig einatmen.“ (Robert KochInstitut 2020, o. S.; Auslassungen: d. V.). Um eine Übertragung des Virus im Zuge der Anwesen-heit mehrerer Personen in Seminarräumen zu verhindern, wurden Präsenzlehrveranstaltungen in „digitale Räume“ ver-legt.

3 So z. B. die Erwartung, die mit der Zielstellung verbunden ist, welche auf Seminarplänen formuliert wird (exemplarisch):

„Im Rahmen des Seminars werden Sie sich mit Theorien von Bildung und Erziehung auseinandersetzen...“; im Fortgang dieses Beitrags werden ausgewählte Seminarpläne hinsichtlich ihrer präsentierten Ideen zur Vermittlung und Aneignung bestimmter Wissensbestände – vor und während der Pandemie – miteinander verglichen.

4 Wenn man so will, emergieren hier künstlerische und akademische Freiheit.

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Orientierung hinsichtlich der zu erwartenden Gegenstände zu geben und Freiräume für Bildungsprozesse zu schaffen, in einem Spannungsverhältnis, das nicht einseitig auflösbar ist. So geht Orientierung mit einer (Vorab-)Festlegung dessen einher, was seitens der Lehrenden erwartet wird und seitens der Studierenden erwartet werden kann. Dies kann zur Folge haben, dass potenzielle Aneignungsprozesse enggeführt – als Idee präformiert und präformuliert – werden und die Freiheit der individuellen studentischen Bezugnahme so beschränkt wird. Zugleich liegt in der Präformierung und -formulierung der Idee, wenn sie als offene, von außen irritierbare präsentiert wird, eine Möglichkeit, sich mit wissenschaftlichem Wissen in Muße auseinanderzu-setzen, in dem Vertrauen, dass auch unter den gegebenen Bedingungen ein erfolgrei-ches Studieren möglich ist. Muße wird dabei verstanden „[...] als Zeit für Studium, Übung und Denken – Zeit, die befreit ist von jeglicher unmittelbar produktiven Be-schäftigung und Zweckbindung, Zeit, die nicht von (direkten) ökonomischen, politi-schen und ideologipoliti-schen Interessen in Beschlag genommen wird“ (Masschelein, 2016, S. 39). Erfolg wäre dann nicht daran zu messen, dass die im Seminarplan prä-sentierte Idee erfolgreich vermittelt, konsumiert und reproduziert werden konnte und sich dieser Erfolg in einer möglichst guten Leistungsbewertung spiegelt, sondern da-ran, dass unter den Pandemiebedingungen, in deren Rahmen Freiheit begrenzt ist5, Muße zur Aneignung wissenschaftlichen Wissens dennoch möglich wird.

In diesem Beitrag wird daher die Annahme erörtert, dass ein Studium unter Pan-demiebedingungen die durch Bologna eingeleiteten Risiken einer Selektion von Wis-sensbeständen und die Komplexitätsreduktion der zu studierenden Inhalte weiter verschärft. Die digitale Verfügbarmachung wissenschaftlichen Wissens könnte das Konsumieren von Lehre als Dienstleistung und Wissen als Produkt begünstigen und so ein Studieren in Muße im Sinne akademischer Freiheit und hochschulischem Wis-senstransfer weiter erschweren. Hier lässt sich der Gedanke der Verschulung mit Blick auf Studien der praxeologischen Bildungsforschung (vgl. Breidenstein, 2006) noch schärfen, hin zu einem Didaktisierungsjob bzw. Studierendenjob der Akteur:in-nen universitärer Lehre. Aufschluss über diese Annahme sollen eine empirische Be-trachtung der (Vor-)Leistungserbringung von Lehrenden6 sowie auf Erkenntnissen der Schulforschung basierende Annahmen über nicht-intendierte Effekte derselben auf studentische Lernpraktiken geben. Die Diskussion wird durch eine organisations-pädagogische Perspektive auf die Universität und die Erwartungshaltungen an ihre Mitglieder respektive ihr Verhalten gerahmt. Es wird angenommen, dass die Erwar-tungen auch die Gestaltung von Lehr-Lernarrangements beeinflussen, was sich im Medium „Seminarplan“ als präsentierte, konkret grafisch formierter und textlich for-mulierter Idee davon, was Lehrende und Studierende erwarten (können), zeigt.

5 Begrenzt werden z. B. der Zugang zu Bibliotheksbeständen, die unmittelbare Interaktion, in der (auch spontane) Reaktio-nen und Diskurse anders möglich sind als in durch Bildschirme vermittelten InteraktioReaktio-nen oder didaktische Möglichkei-ten des Wissensaustausches.

6 Gegenstand der Analysen sind zwei Seminarpläne von inhaltlich identischen Lehrveranstaltungen die in bildungswissen-schaftlichen/erziehungswissenschaftlichen Studiengängen im Sommersemester 2019 in Präsenz und im Sommersemes-ter 2020 unSommersemes-ter Pandemiebedingungen digital stattgefunden haben.

Miriam Hörnlein & Janine Kuhnt-Rose 115

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 113-117)