• Keine Ergebnisse gefunden

Komplexitätsreduktion in Lehr-Lernarrangements

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 121-126)

Seminarpläne, die Lehrende in bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Studien-gängen den Seminarteilnehmer:innen in Studienportalen zum Download zur Verfü-gung stellen, unterscheiden sich vor und während der Pandemie, sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihrer Funktion. Auf die Unterschiede in den Seminarplänen und damit die (Un-)Möglichkeiten, sich mit wissenschaftlichem Wissen in Muße aus-einanderzusetzen, wird durch eine inhalts- und sodann bildhermeneutische Analyse im Folgenden eingegangen.

Ausgewählt wurden als Kontrastfälle jeweils ein Seminarplan einer Präsenz-(Sommersemester 2019) und einer rein digital sowie teilweise asynchron stattfinden-den Lehrveranstaltung (Sommersemester 2020). Ein weiteres Auswahlkriterium lag in den mit den Lehrveranstaltungen verbundenen Zielsetzungen. Die beiden im Fokus stehenden Seminarveranstaltungen sollen der Entwicklung eines kasuistischen Blickes auf das eigene spätere Berufshandeln dienen. Medium der Einübung ist die Analyse von durch die Studierenden erhobenen Daten mithilfe von Methoden qualita-tiver Sozialforschung und die Einbettung daraus abgeleiteter Befunde in den aktuel-len wissenschaftlichen Diskurs. Solche eigenständigen Forschungsprozesse sind ein Mittel der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens an der Universität und zugleich originärer Bestandteil desselben. Auch sind sie zentraler Bestandteil der Sozialisation und Ausbildung von „Noviz:innen“ im Feld der Wissenschaft. Die Rekonstruktion des Materials erfolgte in zwei Schritten. Zunächst wurden die gewählten Seminarpläne mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2016) anhand von Kategorien ausgewertet, die sich mit den Forschungsfokussen De-sign und Funktion aus den Daten ableiten ließen15. Nach dieser ersten Sondierung des Feldes wurden mittels der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann, 2000; Wernet, 2009) bzw. einer daran orientierten Bildhermeneutik (vgl. Peez, 2006) dem Material inhärente Handlungsanforderungen – mit Blick auf die Funktion – rekonstruiert. Er-gänzend zu den hier dargestellten Befunden einer ersten Analyse wurden Daten wei-terer Lehrveranstaltungen vergleichbarer Formate hinzugezogen.16

15 Hier: Anordnung, Abfolge, Struktur, Schriftgröße, Schriftformat, Markierungen respektive Hervorhebungen, Tabellen und Abbildungen, Detaillierung sowie weitere formale Merkmale.

16 Das hier verwendete Material entstammt eigenen Veranstaltungen der Autorinnen, die sie unabhängig voneinander, das heißt ohne vorherigen Austausch über diese geplant und umgesetzt haben. Interessant ist, dass die miteinander anhand der Merkmale verglichenen Seminarpläne – vor und während der Pandemie – hinsichtlich ihres Designs und ihrer Funk-tion deutliche Ähnlichkeiten aufweisen. Aus Darstellungsgründen wird in diesem Beitrag auf zwei exemplarisch ausge-wählte Seminarpläne eingegangen.

120 Wie in der Lehre durch Komplexitätsreduktion die Muße ausgehebelt wird

Seminarplan 1 zur Präsenz-Lehrveranstaltung im Sommersemester 2019 (eigene, modifizierte Darstellung)Abbildung 1:

Miriam Hörnlein & Janine Kuhnt-Rose 121

Im Seminarplan zur analogen Lehrveranstaltung fällt bezogen auf das Design zu-nächst die starke Schematisierung auf, die in ihrer Monotonie an einen Bauplan erin-nert. Im Zentrum steht eine Tabelle, in der in drei Spalten die Nummer, das Datum und das Thema des Termins benannt werden. Die einzige optische Hervorhebung findet sich in der Literaturliste und verweist auf die stärkere Gewichtung eines der in der Liste angeführten Texte. Dessen Lektüre wird als einzige auch als Aufgabe in die Liste der Themen eingebunden, während die Funktion und Bedeutung der anderen Texte unklar bleibt. Die Literaturliste verweist somit implizit auf weitere mögliche Quellen. Der vorliegende Plan bedarf der Kommentierung durch die Lehrenden, denn die aufgelisteten Themen geben kaum Aufschluss über konkreten Inhalt, Aus-gestaltung, Ziele oder Erwartungshorizont des Seminars. Diese bedürfen einer dis-kursiven Aushandlung und Klärung. Die hermeneutische Rekonstruktion verdeut-licht, dass durch die expliziten Themensetzungen und die nur in der Modulordnung sichtbare Leistungsfestlegung die tatsächliche inhaltliche Ausgestaltung des Semi-nars zunächst begrenzt wird. Implizit wird allerdings über weitgehend unsichtbare Aufgaben – den nicht benannten Erwartungshorizont und die offene Literaturliste – Freiheit bei der Auseinandersetzung mit dem Seminarthema eröffnet, die in einer ersten inhaltlichen Besprechung durchaus Modifikationen und Neuausrichtungen möglich erscheinen lässt. Die angebotene Struktur bietet also (Frei-)Räume für Muße im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit vorgegebenen Rahmen-Inhalten. Dem Plan ist eine Einladung zur individuellen Ausgestaltung inhärent, die zugleich eine voraussetzungsreiche Anforderung zu selbstgesteuertem Lernen beinhaltet. Der übersichtliche Plan vermittelt trotz der eigentlich hoch komplexen Handlungsanfor-derung den Eindruck, dass die Aufgabe, sich vertiefend – auch selbstgesteuert – mit Themenstellungen im Seminar zu befassen, zu managen sei. Sie schafft so potenziell Vertrauen17darin, dass für die Bewältigung der Studienanforderung relevantes wissen-schaftliches Wissen und Fähigkeiten, sich mit diesem analytisch auseinanderzuset-zen, im Seminar erworben werden können. Das notwendige Vertrauen unter Unge-wissheitsbedingungen kann hier als Potenzial für die Eröffnung von (Frei-)Räumen in Bildungsprozessen gedeutet werden.

17 Die Perspektive der Studierenden, die Vertrauen unter Ungewissheitsbedingungen ausbilden, ist eine, die im Anschluss an diesen Beitrag erfasst und analysiert werden könnte.

122 Wie in der Lehre durch Komplexitätsreduktion die Muße ausgehebelt wird

Seminarplan 2 zur online und asynchron durchgeführten Lehrveranstaltung im Sommersemester 2020 (eigene, modifizierte Darstellung)Abbildung 2:

Miriam Hörnlein & Janine Kuhnt-Rose 123

Die analytische Erschließung des Seminarplanes für die digitale Lehrveranstaltung zeigt auf der Ebene des Designs die starke Schematisierung als eine Parallele der bei-den Pläne. Auch hier ist die zentrale Struktur eine Tabelle, die aber deutlich umfang-reicher und mit mehr Textinhalt versehen ist. Durch die Fülle innerhalb der einzelnen Spalten – teilweise finden sich bis zu vier Unterpunkte oder auch inhaltliche Über-schneidungen zwischen den Punkten Zeit und Ort als auch Aufgaben und Themen sowie Zielen – erscheint die Tabelle nur auf den ersten Blick als hilfreiche Strukturie-rung. Auch die Literaturverweise gestalten sich in beiden Plänen identisch, werden aber durch den schieren Umfang des Plans und der Positionierung am Ende der drit-ten Seite in ihrer Bedeutung für das Seminar im Sommer 2020 zurückgesetzt. Aller-dings sind sie hier in der Tabelle in konkrete Aufgabenstellungen eingebunden. Der für jeden Termin formulierte Erwartungshorizont ist neben Ort und technischen Hin-weisen ein neues Merkmal dieses Ablaufplans und ein deutlicher Unterschied zum analogen Seminarplan. Der Ablaufplan bedarf aufgrund der Ausführlichkeit eigent-lich keiner Kommentierung, denn die Angaben der Tabelle verweisen relativ deuteigent-lich und kleinschrittig auf den konkreten Inhalt und die erwartete Arbeitsleistung zum jeweiligen Termin. Allerdings erzeugt die dadurch entstehende Fülle an Text zugleich wieder Unübersichtlichkeit, die Erläuterung erzwingt. Der Versuch, organisationale Fragen in ein Schriftformat zu binden, erzeugt also ebenso Kommunikationsbedarf, der hier jedoch durch das hohe Maß an Detaillierung eher in Richtung einer formalen Klärung, denn in Richtung einer individuellen Ausgestaltung des zu erwartenden Ver-mittlungsangebotes lenkt. Es wird durch das Design eine starke Steuerung der Hand-lungspraxis angelegt, die die individuelle formale und inhaltliche Ausgestaltung weit-gehend eingrenzt. Potenziell ist inhaltliche Freiheit in der Auseinandersetzung mit der vermittelten Forschungsmethode möglich, da der Erwartungshorizont hier im-mer noch viel Deutungsfreiheit lässt. Die Asynchronität des Angebotes erzeugt aber im Hinblick auf die Modulleistung den Zwang zur Schließung, um zu signalisieren, dass das Seminar auf die entsprechende Leistung vorbereitet.

Insgesamt vermittelt das hohe Maß an Strukturierung den Anschein, dass Aufga-benstellungen und Erwartungshaltungen, welche im analogen Seminarplan allenfalls implizit deutlich werden, im digitalen Seminar kaum zu bewältigen seien. Als erster Eindruck für Seminarteilnehmer:innen lässt sich rekonstruieren, dass hier hochkom-plexe inhaltliche Anforderungen bestehen. Eine analytische Betrachtung zeigt jedoch, dass hier in erster Linie Handlungsanleitungen in den Vordergrund treten, während mögliche zeitentlastete Zugänge zu wissenschaftlichem Wissen wegreduziert werden.

Die Formulierung von Aufgaben und Zielen suggeriert ein hohes Maß an Verpflich-tung, weshalb es hier des Mutes bedürfte, sich zu verweigern und auf (Frei-)Räume im Studium zu pochen.

Einzelne hausinterne Evaluationen des ersten digitalen Semesters verdeutlichen bereits, dass die Studierenden grundsätzlich ein höheres Arbeitspensum wahrneh-men. Ein zusätzlicher Zeitaufwand liegt zum Beispiel in der permanenten Dokumen-tation der eigenen Arbeitsleistung, um diese für die Lehrenden sichtbar zu machen, also in erster Linie eine Orientierung auf Produkte und die Sichtbarmachung von 124 Wie in der Lehre durch Komplexitätsreduktion die Muße ausgehebelt wird

Aktivität (vgl. Breidenstein, 2006). Es ist anzunehmen, dass dies die Orientierung auf als zu bewältigende wahrgenommene Angebote verstärkt, um insgesamt die Arbeits-anforderungen bedienen zu können. Die im einzelnen Seminarplan angelegte Reduk-tion von Komplexität wissenschaftlichen Wissens könnte sich also durch diese Rah-menbedingungen grundsätzlich als für Studierende tragfähiges Konzept der Bewälti-gung der Studienanforderungen bewähren.

Wenn die Lehre „[...] als Leistungsbereich konstituiert [wird; d. V.], wobei die kon-kreten Bedingungen einer gelingenden Leistung jedoch nicht eindeutig bestimmt sind“ (Schröder et al., 2018, S. 352), dann kann für Lehre unter Pandemiebedingun-gen festgestellt werden, dass ein GelinPandemiebedingun-gen auf das Erreichen vorab formulierter Ergeb-niserwartungen beschränkt wird. Unter Pandemiebedingungen wird der Seminarplan zu einem (Kommunikations-)Medium, in dem die Komplexität durch Hinzufügen von Handlungsanleitungen gesteigert, jedoch gleichzeitig die Komplexität der zu stu-dierenden wissenschaftlichen Wissensbestände geschmälert wird. Der Fokus der Lehre und – so ist anzunehmen – auch des Lernens wird auf das Erreichen formulier-ter Ergebniserwartungen gerichtet und weniger auf die Eröffnung von Freiräumen für Bildungsprozesse sowie auf Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen in Muße. Es wird „geleistet“, d. h. sich angeeignet und reproduziert, was als formierte und formulierte Idee der Lehre und des Lernens erwartet wird.

Es verbirgt sich das Risiko, dass Studierende ihren Job im Sinne des Erfolges bei der Bewältigung von Leistungsanforderungen ökonomisch an Kosten und Nutzen ausrichten und ein universitärer Wissenstransfer – wie ihn ein freies selbstverant-wortetes und selbst gestaltetes Studium ermöglicht – in den Hintergrund tritt. Das Studium stände dann in der Gefahr, zu der Fortsetzung eines stark gesteuerten, insti-tutionalisierten und an vergleichbaren Leistungsnachweisen ausgerichteten schu-lischen Lernens zu werden. Eine Fortsetzung der Komplexitätsreduktion wissen-schaftlichen Wissens wäre eine mögliche handlungspragmatisch erzwungene Folge der Digitalisierung von universitärer Lehre. Aufschlussreich und interessant er-scheint nach einer ersten Analyse die Suche nach anderen digitalen Seminarkonzep-ten, die implizit offenere Handlungsanforderungen transportieren sowie auf einer weiteren Ebene die Rekonstruktion von ethnografisch erhobenen studentischen Handlungspraktiken, die hier allenfalls als Hypothesen, basierend auf Erkenntnissen der Schulforschung, formuliert werden können.

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 121-126)