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5 Studium als Aneignungs- und Reproduktionsjob oder

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 126-132)

„Anlass, zu antworten“?

In der Pandemie wird die Muße ausgehebelt, wenn Lehren und Lernen rein zweckge-bunden erfolgt: Auf den Zweck ausgerichtet, vorab formulierte Ergebniserwartungen zu erfüllen, die eine Aneignung und Reproduktion komprimierter, zur Verfügung ge-stellter wissenschaftlicher Wissensbestände umfassen sowie Handlungsanweisungen über die erwartete Form Ihrer Erbringung. Ein entsprechendes didaktisches Design

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richtet seine Form nicht an der tatsächlichen Funktion universitärer Vermittlungsan-gebote aus und schränkt die deutenden Bezugnahmen der Akteur:innen auf eine Er-gebnis- bzw. Produktorientierung ein.

Verstehen wir Studium als Zeit für Muße, so stellen wir im Angesicht von Lehre unter Pandemiebedingungen fest, dass diese weitgehend ausgehebelt wird:

1. Durch räumlich-örtliche Beschränkungen werden Orte des Lesens und Denkens (öffentliche Bibliotheken) auf die eigenen vier Wände und/oder digitale Daten-banken begrenzt.

2. Der Diskurs verlagert sich in digitale Räume, die zum einen spezifischer Zu-gänge bedürfen und zum anderen über Bildschirme vermittelt, synchron oder asynchron stattfinden, sodass Antworten verzögert, verzerrt, nicht unmittelbar begreifbar werden.

3. Wenngleich mit dem Modus des Arbeitens von zu Hause Zeit nicht unmittelbar weniger verfügbar ist (sich vielmehr Zeitressourcen neu eröffnen, wenn etwa Ar-beitswege wegfallen), so verändern sich doch die Optionen, Zeiträume zu gestal-ten. Lehrende planen vorausschauend und in abschätzender Wahrscheinlichkeit, wie hoch der Workload für das Studieren der online zur Verfügung gestellten Wissensbestände sein mag, und veranlassen Studierende, ihren Workload und ihre Produktivität unter Bedingungen sozialer Distanz selbstständig zu managen.

Das heißt, verfügbare Zeit so zu investieren, dass die zu erwartenden, da im Se-minarplan formulierten (Teil-)Ergebnisse zufriedenstellend erreicht werden.

4. Die Pandemie wirkt daher wie ein Verstärker für das Regime „unternehmerische Hochschule“, innerhalb dessen Bildung „[...] zur ‚Investitionszeit‘ [wird; d. V.], die effektiv und zweckmäßig zu sein hat, weshalb die Produktion von Lernergeb-nissen und die Zufriedenstellung (der Studierenden) im Sinne einer Maximie-rung von (individuellen) Lernzuwächsen immer stärker beschleunigt werden. […]

Damit einher geht die ständige Angst, Zeit zu verlieren und nicht produktiv zu sein“ (Masschelein, 2016, S. 48 f.).

Anstatt die Muße auszuhebeln, könnte eine erziehungswissenschaftliche Position zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage, was überhaupt unter einem Studium zu verstehen ist und an welchen Formen und Praktiken der Wissensbildung dies orien-tiert ist, lauten: unter Pandemiebedingungen Zeit für Bildungs- als Denkanlässe zu geben, die weniger auf die Reproduktion in ihrer Komplexität reduzierter, vorselek-tierter Wissensbestände ausgerichtet sind, als vielmehr auf den Selbstzweck der Wis-sensaneignung im ursprünglichen universitären Sinn. Die Mußezeit schließt über-dies die Auseinandersetzung der am Seminar beteiligten Akteur:innen mit den Anlässen zur Bildung, hier am (designten) Seminarplan expliziert, ein – denn: „What is designed is open to all kinds of changes” (Erlhoff, 2018, S. 7) – und lädt daher grund-sätzlich dazu ein, dass die Beteiligten die in ihm liegenden (Frei-)Räume für sich deu-ten und sich (ggf. in verändernder Absicht) zu diesem verhaldeu-ten.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Seminarplan 1 zur Präsenz-Lehrveranstaltung im Sommersemester 2019 . . . . . 121 Abb. 2 Seminarplan 2 zur online und asynchron durchgeführten Lehrveranstaltung

im Sommersemester 2020 . . . .123

Über die Autorinnen

Dr.in Miriam Hörnlein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpäda-gogik und Grundschuldidaktik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Professionsforschung und Bildungsfor-schung.

Kontakt: miriam.hoernlein@paedagogik.uni-halle.de

Janine Kuhnt-Rose, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erzie-hungswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungs-schwerpunkte sind u. a. Engagement-/Dritter Sektor-/Zivilgesellschaftsforschung und Organisationspädagogik.

Kontakt: janine.kuhnt@uni-jena.de

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Einfachheit in didaktischer Form – Erkenntnis

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