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1 Vorbemerkungen: Komplexität im Angesicht von Überfluss

Im Dokument GERALD MOLL JULIA SCHÜTZ (HG.) (Seite 53-56)

Die Aufforderung, man möge sich kurzfassen und auf das Wesentliche konzentrie-ren, ist im wissenschaftlichen Publikationswesen allgegenwärtig. Trotz dieser einge-forderten Knappheit übersteigt die reine Menge an wissenschaftlichen Texten bereits in Teildisziplinen jegliche kognitiven und zeitlichen Kapazitäten. Weltweit tragen tau-sende von Wissenschaftler:innen täglich dazu bei, den Korpus wissenschaftlicher Er-kenntnisdokumentationen zu maximieren (vgl. u. a. Larsen & Ins, 2010). Interessan-terweise kommt es aber gerade nicht zu existenziellen Überforderungserscheinungen oder gar einem Produktivitätsstillstand. Entsprechend muss es im Umfeld von Wis-senschaft Strategien geben, Veröffentlichungen zu selektieren, zu sortieren, zu ge-wichten oder zumindest handhabbarer zu machen – andernfalls wären ihre Erkennt-nisgenese und gesellschaftliche Rezeption ein eher zufälliges Phänomen.

In unserem Beitrag nehmen wir zwei dieser Werkzeuge in den Blick, die auf die Absicht zurückzuführen sind, einen produktiven Umgang mit wissenschaftlichen Publikationen sicherzustellen: Abstracts und Pressemitteilungen. Diese Textsorten zeichnen sich dadurch aus, dass sie diesem Bedarf begegnen, indem paradoxerweise noch mehr Text produziert wird, welcher die Originalpublikation ergänzt. Einerseits zielen sie darauf ab, die wesentlichen Gedankengänge der Originalpublikation aufzu-greifen, andererseits helfen sie dabei, in der Menge von wissenschaftlichen Veröffent-lichungen eine Übersicht zu erlangen und bspw. Recherchevorgänge zu erleichtern.

Dieser erste Befund hilft uns, den Blick auf unseren Untersuchungsgegenstand zu schärfen, denn wenn wir im Folgenden über Hilfen oder gar Strategien zur Kom-plexitätsreduktion sprechen, dann geht es immer um diese grundlegende Wechsel-beziehung zwischen den textimmanenten Möglichkeiten zur Komprimierung von geschriebenen Sachverhalten bzw. Gedankengängen und der textexmanenten Anfor-derung1, Praktikabilität zu gewährleisten.

Bevor wir uns der eigentlichen Fragestellung zuwenden, muss an dieser Stelle erläutert werden, weshalb wir nicht über Kommunikation und Wissenschaft sprechen können, ohne den Aspekt des Überflusses adäquat zu beschreiben. Hierfür greifen wir auf die wissenschaftstheoretischen Ausführungen bei Stichweh (2013) zurück, die

1 Es gibt natürlich weitere textexmanente Anforderungen, wir werden darauf zurückkommen. Für diese einleitenden Aus-führungen genügt es, sich zunächst auf den beschriebenen Dualismus zu konzentrieren, der im wissenschaftlichen Publi-kationswesen eingelassen ist.

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wir mithilfe von Abbott (2014) und den von ihm identifizierten Strategien zum Um-gang mit Überfluss einordnen.

Stichweh thematisiert u. a. die Innendifferenzierung des wissenschaftlichen Funktionszusammenhangs (vgl. Stichweh, 2013, S. 15 ff.). Um diese beschreiben zu können, nutzt Stichweh den Begriff der Disziplin. Er versteht darunter „einen hinrei-chend homogenen Kommunikationszusammenhang von Forschern – eine ‚scientific community‘“ (ebd., S. 17), die auf einen gemeinsamen Wissenskanon zurückgreift, problematische Fragestellungen benennt und bearbeitet, einen gemeinsamen Be-stand an Forschungsmethoden nutzt sowie Karrierewege für den eigenen Nachwuchs bereithält (vgl. ebd.). Für Stichweh ist demnach Kommunikation ein konstitutives Ordnungsmerkmal für wissenschaftliches Arbeiten: Die Kommunikationsinhalte und die kommunizierenden Personen geben Hinweise darauf, wie sich die Innendif-ferenzierung der Wissenschaft vollzieht, d. h. was sich als Disziplin beschreiben lässt.

In seiner weiteren Argumentation nennt er zwei Bedingungen für eine selbst-erhaltende Ordnung der Wissenschaft als eigenständiges, innergesellschaftliches Sys-tem: einerseits die Nutzung gesellschaftlicher Ordnungsvorgaben, welche Kontakte zu anderen Teilsystemen grundsätzlich ermöglichen, aber kommunikativ zu spezifi-zieren sind, und andererseits die Notwendigkeit, dass ein disziplinär organisierter Kommunikationszusammenhang tatsächlich angemessene Termini enthält, um den eigenen Erkenntnisgegenstand hinreichend beschreiben zu können (vgl. ebd., S. 56).

Zur Plausibilisierung seiner Argumentation zeigt er anschließend anhand der Text-sorte der wissenschaftlichen Publikation und der dortigen Zitierweise, wie sich die genannten Bedingungen in autopoietischer Form vollziehen.

Es ist nicht unser Anliegen, das Für und Wider dieser systemtheoretischen Aus-führungen darzulegen. Stichwehs Überlegungen sind aber ein hilfreicher Ausgangs-punkt. Wir folgen ihm darin, dass die im wissenschaftlichen Publikationswesen ver-wendete Sprache als Spezifikation basaler Kommunikationsformen verstanden werden kann. Allerdings geht Stichweh kaum auf den Aspekt des Überflusses ein: Er vertraut darauf, dass die Restriktionen und Anforderungen zur Veröffentlichung bspw. eines Journal-Artikels die Kommunikation so hinreichend spezifizieren, dass sie von anderen Wissenschaftler:innen erwidert wird und mittels einer Zitation darauf Bezug genommen werden kann (vgl. ebd., S. 61). Findet diese Erwiderung nicht statt, habe die Publikation nicht zur Erkenntnisgenese der Disziplin beitragen können (vgl.

ebd., S. 56). Dieser Zusammenhang greift unserer Ansicht nach zu kurz, da die hohe Qualität und Anschlussfähigkeit wissenschaftlicher Publikationen kein Kriterium dafür sein können, Überfluss zu begrenzen.

An dieser Stelle möchten wir den von Abbott (2014) vorgelegten Überblick zu Strategien des Umgangs mit Überfluss nutzen, um die Mechanismen zu verstehen, die die globale wissenschaftliche Kommunikation dennoch ermöglichen bzw. diese produktiv halten. Abbott wendet sich in seinem Aufsatz gegen das Knappheitspostulat vieler sozialwissenschaftlicher Theorien und betont stattdessen die Herausforderung moderner Gesellschaften, sich mit Überfluss auf individueller wie sozialer Ebene zu befassen. Er identifiziert vier Strategien, mit denen die Handhabe von Überfluss

Arne Arend & Liska Niederschuh 53

gelingt: „the two reduction strategies of defense and reaction and the two rescaling strategies of creativity and adaptation“ (ebd., S. 16).

Dabei versteht er unter der defensiven Strategie, den Überfluss zu ignorieren, u.a. mithilfe von Gewohnheitsakten, Zufallsauswahlen oder indem man sich zu den Entscheidungsmustern anderer ins Verhältnis setzt. Insbesondere dem tradierten Handeln widmet sich Abbott, welches er explizit in die Nähe wissenschaftlichen Ar-beitens rückt. Da dies aber auf individuelle Orientierungen zurückzuführen ist, wer-den wir diesen Aspekt nicht verfolgen. Aus demselben Grund können wir auch nicht die sogenannten kreative Strategien aufgreifen, die sich mit Zeitkontingenten abseits von Lohnarbeit beschäftigen.

Unter einer reaktiven Strategie fasst Abbott hingegen die Orientierung hin zum

„top end of the hierarchy“ (ebd., S. 18). Er sieht in hierarchischen Ordnungsformen, wie bspw. Ratings oder Reviews, den Vorzug, sich auf wenige bestplatzierte Vor-schläge beschränken zu können, während die weiteren Einträge (bspw. einer Liste) ignoriert werden können. Dieses Vorgehen ist in der Wissenschaft allgegenwärtig:

Verschiedene Indexierungen ermöglichen es mittlerweile, eine wissenschaftliche Re-levanz von Veröffentlichungen zu bestimmen und durch diese Ordnung Aufmerk-samkeit zu lenken. Sicherlich geht es hierbei auch um ein besonders hohes Maß an Qualität, aber es handelt sich eben auch um eine Hierarchisierung, die einen hilfrei-chen Überblick verschafft. Wie wir noch zeigen werden, lassen sich auch Pressemit-teilungen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen dieser Kategorie zuordnen, da sie u. a. darauf hinweisen, dass es Wissenschaftler:innen schaffen, sich in diesen Hie-rarchien des wissenschaftlichen Publikationswesens zu bewähren und dass diese Strukturen durch die Anerkennungsvergabe in Form der Pressemitteilung implizit reproduziert werden.

Bei den adaptiven Strategien sieht Abbott allerdings einen anderen Handlungs-modus: „adaptive strategies focus less on ignoring or reducing excess than on finding it more desirable and less disturbing. They rescale excess“ (ebd., S. 20). Demzufolge geht es bei dieser Art des Umgangs mit Überfluss darum, Analogien auszumachen und eigentlich getrennte Wissensdomänen miteinander zu verbinden. Stichwehs Beobachtung der nach innen gerichteten Referenzialität wissenschaftlicher Publika-tionen ist genau an diesem Punkt zu verorten. Die Komplexität des Verweisens auf weitere wissenschaftliche Schriften, dieses Netzwerk an Zitationen erschwert den Überblick und erweitert die Komplexität bspw. eines Artikels in einer wissenschaft-lichen Zeitschrift. Gleichzeitig ermögwissenschaft-lichen diese Verweise mittels Kozitationsanaly-sen ein Abbild eines Diskurses zu modellieren und somit eine Disziplinordnung dar-zustellen (vgl. Stichweh, 2013, S. 59 f.). Wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden, beziehen sich Abstracts auf diese Mechanismen, da sie eine Publikation sozusagen zitationsfähig machen: Autor:innen legen mittels Abstracts ein Angebot vor, worin aus ihrer Sicht die Essenz ihrer Erkenntnisdokumentation liegt.

Mit der von Abbott vorgelegten Theorie zu Strategien des Umgangs mit Überfluss lässt sich die Notwendigkeit von Abstracts und Pressemitteilungen besser verstehen:

Sie sind Bestandteile eines Sets von Möglichkeiten, wie dem Überfluss im wissen-54 Das täglich Brot akademischer Komplexitätsreduktion in Pressemitteilungen und Journal-Abstracts

schaftlichen Publikationswesen begegnet werden kann. Damit wird die gemeinsame Bearbeitung dieser Textsorten in unserem Beitrag verständlich, da sie gleichzeitig 1. auf den Überfluss an Publikationen insgesamt referenzieren (s. o.), 2. als Bestand-teile von Wissenschaftskommunikation (kurz: WK) verstanden werden können sowie 3. die Komplexität einer einzelnen Publikation zu fassen versuchen. Den zweiten und dritten Aspekt wollen wir aufgreifen. Uns interessiert die Frage, inwiefern Strategien zur Reduktion von Komplexität einer Originalpublikation in Schriften interner wie externer WK zur Anwendung kommen. Diesem Forschungsinteresse möchten wir nachgehen, indem wir von in wissenschaftlichen Journalen publizierten Artikeln als Originalpublikation ausgehen, um dann das dazugehörige Abstract als interne und eine dazugehörige Pressemitteilung der Stammuniversität als externe WK zu spezifi-zieren.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden in Kapitel 2 und 3 die Textsorten Abstract und Pressemitteilung als Formate von Wissenschaftskommunikation näher be-trachtet und die vorliegende Literatur dahingehend befragt, wie die Reduktion der Komplexität der Originalpublikation gelingen kann. Entsprechende Hinweise werden in Kapitel 4 zu einer Heuristik verdichtet, die in einer ersten kursorischen Begegnung mit empirischem Material detailliert und differenziert wird. In Kapitel 5 wird schließ-lich ein Ausblick zur Einordung und Weiterführung dieser Gedankengänge gegeben.

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