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Unsicherheit im Recht

Im Dokument Diskurs und Nachhaltigkeit (Seite 155-159)

3 Der Metabolismus mit der Natur: das Wirtschaftssystem

4.2 Die Entwicklung des Umweltrechts aus der Gefahrenabwehr

4.2.2 Unsicherheit im Recht

Auf dem vermeintlich sicheren epistemischen Grund des Gefahrenmodells konnte das Rechts-system Unsicherheit noch als eine Möglichkeit mit geringer Wahrscheinlichkeit behandeln (vgl.

Kloepfer, 1993). Die modernen Risiken jenseits der Lebenserfahrung gehen jedoch über den Gefahrenverdacht hinaus, gleichviel ob dieser dogmatisch der Gefahrenabwehr oder der Vorsorge zugerechnet wird. Dies gilt selbst für die vergleichsweise trivialen Bereiche des Technikrechts (vgl.

Wahl, Appel, 1995, 92 f.). In komplexeren Bereichen geht das Rechtssystem von der individuell zurechenbaren und begrifflich bestimmbaren Gefahrenabwehr zu einer sozialgestaltenden Risikovorsorge über, welches (epistemisch überholte) Kausalitätsanforderungen durch theoretisch konstruierte, hypothetische Ereignisabläufe ersetzen muß (vgl. Teubner, 1997). Parallel dazu findet eine Ausweitung der Schutzgüter etwa im Pflanzenschutzgesetz (§15 Abs. 1 Nr. 3b) oder im Gentechnikgesetz (§ 1) statt,121 was für das Rechtssystem das gravierende Problem mit sich führt, Tatbestände und Grenzen der Vorsorge zu bestimmen.

K. H. Ladeur hat aus systemtheoretischer Sicht die damit verbundenen rechtsimmanenten Herausforderungen des Umweltrechts zu bewältigen versucht. Zentral wird in Ladeurs rechtstheoretischer Staatskonstruktion Ungewißheit, die zunächst einmal allgemeines Kennzeichen der gesellschaftlichen Evolution sei: Sie sei ebenso Teil des wirtschaftlichen Subsystems wie des Subsystems 'Recht'. Ladeur möchte ein relationales Paradigma prozeduraler Rationalität etablieren, welches Ungewißheit als grundlegende Tatsache der Gesellschaft akzeptiert und "eine neue Allgemeinheit nur noch in einer Metaregel der Erhaltung der Selbstmodifikationsfähigkeit der pluralen Gesellschaft" findet (Ladeur, 1990, 205). Dabei hypostasiert Ladeur jedoch Unsicherheit dergestalt, daß sie einen ontologischen Status erhält. Eine unmittelbare Folge davon ist, daß Ungewißheit politische Steuerung erübrigt. Politik müsse durch eine Steigerung der Interdependenzoptionen (Relationierung) zwischen gesellschaftlichen Systemen ersetzt werden. Der Staat habe lediglich dezentral verteiltes Wissen (von Individuen) so zu verknüpfen, daß es in und durch Organisationen behandelt werden könne, d.h. der Staat solle Informationen der internen und externen Umwelt von Organisationen relationieren. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die ökologische Krise: "Es wäre zu fragen, ob und wie das in Organisationen produzierte Wissen stärker durchlässig gemacht werden kann für die Vermeidung von nichtintendierten kollektiven negativen Effekten." (Ladeur, 1990, 207)

121 Hier wird der 'Naturhaushalt' (PflSchG) oder 'die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge' (GenTG) zum Schutzgut der Rechtsordnung.

Der Staat könne nicht mehr auf substantielle, ergebnisorientierte Rationalität zurückgreifen;

Unsicherheit, die sowohl in den sozialen Umwelten als auch in der nichtmenschlichen Umwelt zu beobachten sei, schränke jedes planerische Entscheiden ein. Deshalb sollten sich administrative Entscheidungen an Organisationen orientieren, deren Beziehungsnetzwerke in rechtlichen Abwägungsprozessen abzubilden seien. Die Bildung der Kategorie des Normalzustands erfolge über soziale Konventionen. Als solche bezeichnet Ladeur so grundverschiedene Güter wie Eigentum und Gesundheit etc., die sowohl privatrechtlich wie öffentlich-rechtlich definiert sind.

Auf derartigen Konventionen will Ladeur dann seine Rechtsregeln aufbauen. Er knüpft dabei an Hayek an: Eigentum und Patentrechte erlaubten eine hierarchische Gestaltung der Gesellschaft bei gleichzeitig dezentral organisierter Produktion und Innovation (Ladeur, 1995, 45 ff). 122 Das Rechtssystem solle sich laut Ladeur über Eigentumsrechte und nicht über Verträge auf Netzwerke beziehen, denn Eigentumsrechte würden ein statisches Element in einer für das Rechtssystem ansonsten zu dynamischen Wirtschaft etablieren (Ladeur, 1994, 316).

Im öffentlichen Recht blieben Konventionen dagegen meist unausgesprochen, da das Konzept 'Sicherheit' dem Staat ein Monopol (in der Gefahrenabwehr) zuschreibe, in welches das Privatrecht (und auch das Individualschutzrecht) faktisch nicht eindringen könne. Auch das Gefahrenmodell baue auf diesen sozialen Konventionen auf, indem etwa das Polizeirecht Eingriffsnormen vorschreibt, die sich auf Eigentum, Gefahr im Verzug (Bayes-Kriterium) etc. beziehen. Auch im Technikrecht wurde die Bezugnahme auf soziale Normen angestrebt, weil sie die Erzeugung von Erfahrung (als induktive und deduktive Varianten von Wissen) ermöglichten.

Auf der Suche nach Sicherheit müsse die Generierung von Wissen die soziale Akzeptanz von Risiken beachten und Stoppregeln einführen, die das Gefahrenmaß reduzieren. Diese Stoppregeln sollten jedoch nicht Individual- oder Grundrechten folgen, so Ladeur, sondern die lernende Generierung von Wissen ermöglichen. Pragmatische Stoppregeln seien notwendig, um Gefährdungen bei der Suche nach Sicherheit zu begrenzen und große Gefahrenpotentiale in kleine zu zerlegen (z. B. durch die räumliche Diffusion der Risiken). Risiken könnten nicht gegen ein einzelnes, rechtlich geschütztes Gut abgewogen werden, egal wie gründlich und weit die Risiken verteilt werden würden. Denn Risiken hätten eine naturalistische Dimension, die das Rechtssystem zu zivilisieren versuche, die aber letztlich doch der Natur zugeschrieben würden. "This spontaneously generated strategy for the avoidance of risks is also transferred back to nature."

(Ladeur, 1994, 309)123 Unter der Hand verwandelt Ladeur den systemtheoretischen Naturalismus 2.

Ordnung in einen Naturalismus (1. Ordnung) und hebt damit zugleich den Rexflexivitätsanspuch der Systemtheorie auf.

122 Ladeur lehnt in diesem Zusammenhang zudem explizit marktkonforme wie auch ordnungsrechtliche Instrumente als nicht ausreichend komplex ab.

123 Ladeur spricht in diesem Zusammenhang von einer unvermeidlichen Erzeugung von Entropie, die Ökosysteme durch Disturbationen belaste und erkennt die Gefahr an, die sich aus Akkumulationsschäden in der Umwelt ergeben können. Diese seien potentiell in der Lage, die Grenzen des generierten Risikos zu durchbrechen und würden so zu epistemischen Risiken anwachsen.

Ein solcher Naturalismus lehnt die Schließung der Lücken zwischen Rechtssystem und Entscheidungsrationalität(en) kategorisch ab: soziale Akzeptanz ist allein schon demokratie-theoretisch ein höchst problematischer Begriff. Die Systemtheorie folgt mit dem Verweis auf die Akzeptanz von Risiken der kulturalistischen Risikoforschung, welche in den objektiv erhöhten Gefahrendimensionen der Moderne bisher nichts generell Neues zu erblicken vermag (vgl. Kerwer, 1997, 253 f). Für die Systemtheorie ist die Übernahme des Akzeptanzbegriffs aus theorieinternen Gründen indes mit der Notwendigkeit verbunden, 'soziale Akzeptanz' differenzierungstheoretisch auszuformulieren. Die soziale Akzeptanz technologischen Fortschritts würde dabei wesentlich durch die Autorität der Wissenschaft hergestellt. Sie trifft dabei aber auf das Problem, daß im Zuge der Ausdifferenzierung in der Moderne wissenschaftliches Wissen selbst unsicher wird, da Wissenschaft nicht mehr als neutrale kognitive Operation konstruiert werden kann. Ladeur versucht genau diesem Problem dadurch zu entgehen, daß er das administrative Handeln auf Organisationen und Netzwerke bezieht.

Für den Staat sollen Markt und Organisationen die Fähigkeit zur politischen Selbst- und Fremdbeobachtung erhöhen. Die interne Umwelt des Staates werde wiederum von der Ver-waltungsorganisation determiniert.124 "Für den Staat ergibt sich daraus [aus der Wissens-bereitstellung durch Markt und Organisationen] die Notwendigkeit, seine eigene interne Umwelt bei der Formulierung von Aufgaben und vor allem die der (ihrerseits überwiegend) organisierten Adressaten von Programmen mit zu berücksichtigen." (Ladeur, 1990, 208) Denn das staatliche Wissen sei immer unvollständig; es sei der "Distribution über Netzwerke geschuldet" (Ladeur, 1995, 132).

Zur Generierung umweltrechtlich relevanten Wissens spricht sich Ladeur für eine Proze-duralisierung und Flexibilisierung der Netzwerke aus, sofern dadurch nicht Firmen hierarchisch reguliert werden würden, so daß sie ihre Eigendynamik einbüßten. Statt dessen solle man über rechtliche Normen firmeninterne Umweltmanagementsysteme errichten, die Informationen über Risiken bereitstellten oder firmenexterne, privatwirtschaftliche Umweltberatung vorschrieben.

Ladeur sieht nämlich ein Paradox der bisherigen umweltpolitischen Regulierung darin, daß diese, ohne selbst Wissen zu produzieren, betriebsinternes Wissen unterdrücken habe. Wissen müsse demgegenüber als öffentliches Gut angesehen werden, das Firmen und Staat durch gegenseitigen Tausch erst bereitstellen würden.125 Ähnlich hat auch Willke argumentiert (1992, 200; 1995, 105).

Beide übersehen die Bedeutung des Informationsdilemmas für das Verhältnis zwischen politischen-administrativem und ökonomischem System. Sie ignorieren, dass es in bestimmten Situationen auch rational ist, Informationen zu verbergen (vgl. Keck, 1987, 142 ff).

Selbstorganisiertes Wissen über Stoffströme hat, einmal öffentlich gemacht, empirisch den Charakter eines kollektiven Gutes, dessen Bereitstellung ein Motivationsproblem

124 Hier erliegt auch Ladeur der bereits erwähnten systemtheorischen Aporie, das Informationsgefälle (Komplexität) von der nichtmenschlichen Umwelt zum sozialen System auf eine antropozentrische 'interne Umwelt' umzumünzen, deren Komplexität sich koevolutionär mit der Systemkomplexität entwickeln soll – aber nicht kann.

125 Dieses Wissen bezieht sich scheinbar überwiegend auf Stoffe; aber Ladeur verweist auch auf gentechnisch veränderte Lebewesen.

genendilemma) in sich birgt: Dieses wird insbesondere bei Wissen über negative Wirkungen und Gefahrenpotentiale deutlich. Privates Wissen bildet dann u.U. gar kein öffentliches Gut aus. Zu einem öffentlichen Gut wird Stoffwissen, wenn es unmittelbar zur Kostenminimierung beiträgt und mit geringen Transaktionskosten bereitgestellt werden kann. Dies kann sicher teilweise für das Leitbild der Dematerialisierung erwartet werden, da sich First-mover-Vorteile von Unternehmen und makroökonomische Leitbilder durch gleiche stoffliche Indikatoren decken. Hinsichtlich dieses Indikatorensystems ist das zugrunde gelegte Wissen ein öffentliches Gut und vollständig gesellschaftsweit präsent. Es ist ein öffentliches Informationssystem das von Netzwerken in Anspruch genommen werden kann. Es ist nicht, wie Ladeur es seiner Systemtheorie des Rechts zugrunde legt, ein beschränktes kollektives Gut mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsgraden, das überhaupt nur von Netzwerken generiert werden könnte.

Die Ladeurs Konzeption zugrundeliegenden Abwägungen im Rechtssystems treffen überdies auf die Schwierigkeit, technisch-wissenschaftlichen Sachverstand anrufen und diesen in bezug auf die Subsysteme angemessen anwenden zu müssen. Dabei wären Risikoanalysen anzustellen, die sektorale, wirtschaftliche Ansprüche mit- oder gegeneinander abwägen müßten. Ladeur nennt als Beispiel die (umweltpolitische) Abwägung zwischen den Stoffströmen der Chemieindustrie und der Landwirtschaft. Weshalb jedoch eine derartige rechtliche Abwägung mit ihren tiefgreifenden politischen Implikationen nicht die Autonomie des Wirtschaftssystems bedrohen soll, wäre, da Ladeur keine integrativen Indikatoren nennt, erst noch systemtheoretisch auszuführen.

Mittels des Begriffs epistemischen Risikos verknüpft Ladeur Rechtssystem und Wissenschaft (Ladeur, 1994, 309 ff). Das Faktum technischen Risikos wird dabei von Ladeur zu einer Norm erklärt. Epistemisches Risiko sei als eigenständiger Normentypus zu sehen, der notwendig aus der Komplexität von Technologien resultiere. Ladeur gelingt es so, Forsthoffs fatalistische Affirmation der Technik noch zu überbieten. Um sich als eigenständiges Subsystem weiterhin reproduzieren zu können, sei das Wissenschaftssystem auf experimentelle Netzwerke angewiesen, die Risiken zulassen müßten, auch wenn deren Ausmaß erst zu einem späteren Zeitpunkt genau zu bestimmten seien. Nur so sei die Wahrheitsfunktion von Wissenschaft zu sichern und Unsicherheit zu bewältigen. Auch könne das Wissenschaftssystem so gegen eine Blockade durch soziale Werte gesichert werden. In ihren technischen Dimensionen seien Stoppregeln dann wieder pragmatisch zu bestimmen (Ladeur, 1994, 311; vgl. auch ders., 1995, 84 ff).

Ladeur erblickt die Lösung des Problems riskanter Wissensgenerierung im Wissenschaftssystem selbst, nämlich in der Risikoforschung, welche die epistemischen Risiken richtigerweise als Unsicherheit in der Wissenschaft thematisieren würde. Gegen epistemische Risiken dürften aber (soziale) Werte nicht mehr geltend gemacht werden, da ansonsten das Wissenssystem der Gesellschaft beschädigt werden könnte. An die Wissenschaft, als Wissenssystem, schließe das Rechtssystem, als Handlungssystem, pragmatisch mit Stoppregeln an, die das generierte Wissen durch Prozedursalisierung harmonisieren würden (Ladeur, 1994, 311). Stoppregeln, die scheinbar durchweg technischer Natur sind, könnten dabei sowohl besser an technische Innovationen anknüpfen als auch allgemein das Unerwartete besser akkommodieren. Staatliche Risikopolitik

sollte nicht von Fall zu Fall oder – wie im Chemikalienrecht – von Stoff zu Stoff operieren, "rather in each case the possibility of revision and reversibility and the extend of increasingly expenditure of diversity and variety in the environment would be taken into account as a criteria." (Ladeur, 1994, 312)

Die Stoppregeln, welche das Schadenspotential von offenen Experimenten begrenzen sollen, sollen nicht additiv – von Fall zu Fall oder von Substanz zu Substanz – orientiert sein, sondern Reversibilität als Kriterium beinhalten und so irreversible Schäden für Mensch und Natur verhindern.126 Offensichtlich nimmt die Stoppregel hier ethischen Gehalt auf, den sie aber weder begründet noch kognitiv expliziert. Die so zwischen vermeintlicher sozialer Akzeptanz und rechtlichen Stoppregeln hin und her lavierende Theorie kaschiert die kommunikationstheoretische Differenz zwischen epistemologischer und prognostischer Unsicherheit und Risiken. Die Stoppregeln werden nicht innerhalb des Wissenschaftssystems gefunden – beziehungsweise erscheinen nicht als möglicher Konsens eines theoretischen Diskurses zur Epistemologie –, sondern werden extern aus der Beobachterperspektive eines Systemtheoretikers des Rechts vorgelegt. Ein solches Recht bzw. die Praxis eines solchen Rechtssystems aber verdeckt Unsicherheit (vgl. Smith, 1994) und transformiert vielmehr auch das Wissenschaftssystem von einem Wissens- in ein Handlungssystem. Ladeur entwirft hier in der Konsequenz eine Selbstversuchsgesellschaft, die Experimente vom geschlossenen Labor in die offene Natur und Gesellschaft überführt.

Nach Ladeur verweist der Begriff prozeduraler Rationalität auf eine 'nichtallgemeine, heterarchische Vernunft', welche die verschiedenen teilsystemischen Rationalitäten über die prozedurale Rationalität des Rechtssystems systemtheoretisch integrieren soll. Prozeduraler Rationalität komme es demnach zu, Subsysteme bzw. deren Organisationen zu verbinden. Ladeurs Version prozeduralen Recht soll autopoietisch aus dem modernen Rechtssystem emergieren. Dabei macht der Ansatz offensichtlich Anleihen bei der libertären Theorie. Doch im Unterschied zu dieser erfolgt die Staatswerdung trotz der prominenten Rolle des Eigentums in dieser Rechtstheorie (vgl.

Ladeur, 1995, 45 ff) nicht aus dem Geist ökonomischer Rationalität, sondern aus der Akteurswerdung der Subsysteme. Die ökonomische Rationalität wird fragmentarisch in eine systemische transformiert, die sich am Marktmodell orientiert und über Organisationen prozessiert werden soll. Diese Akteurswerdung bleibt indes auf das ökonomische Subsystem und die Verwaltung beschränkt und schließt zivilgesellschaftliche Akteure beinahe vollständig aus. Ladeurs Modell eines prozeduralen, rationalen Rechtssystems ist nicht hinriechend sozialwissenschaftlich informiert und deshalb unterkomplex.

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