• Keine Ergebnisse gefunden

Universale Verantwortung für Nachhaltigkeit

Im Dokument Diskurs und Nachhaltigkeit (Seite 71-79)

2.4 Diskurstheorie und praktische Vernunft

2.4.3 Universale Verantwortung für Nachhaltigkeit

W. Reese-Schäfer (1994) hat sich um kommunikative Rationalität angesichts der ökologischen Krise bemüht: Er stellt auf fehlende Üblichkeiten im Umgang mit neuen Technologien ab: Da kommunikative Rationalität sowohl für politisch-pragmatische wie für ethische Diskurse bedeutsam sei, müßten der Einführung neuer Technologien aufgrund fehlender Üblichkeiten moralische Diskurse vorausgehen. Dabei stünden ethischer und politisch-pragmatischer Rationalitätstypus im Widerstreit, wozu Reese-Schäfer auf Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik verweist. Die deduktive Rationalität und absolute Verbindlichkeit, wie sie in den klassischen Moraltheorien zu finden sei, stehe nicht mehr zur Verfügung. Statt dessen müsse auf das Rechtssystem und die öffentlich Meinung vertraut werden.

Verantwortungsethische Politik nimmt gegenüber der (moralischen) Gesinnungsethik die abwägendere Position ein. Obwohl Reese-Schäfer keine externen (nicht-anthropozentrischen) Bewertungsstandards hinzuzieht, hält er sein Konzept für praxis-relevant. Es könne Konsequenzen in praktischen Zwangsmaßnahmen haben. Allerdings weise, wie Reese-Schäfer einräumt, die Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik Schwierigkeiten auf, und er hat sich

später weniger überzeugt zu der Fruchtbarkeit dieser Differenzierung geäußert.34 Auch Habermas hat eine solche Differenzierung inzwischen fallen gelassen.

Weitaus grundsätzlicher ist jedoch festzustellen, daß eine Ethik der Technik nicht mit einer Ethik der Nachhaltigkeit zusammenfällt.35 In gewisser Weise könnte einer Ethik der Technik noch ein Fortschrittsparadigma zugrunde liegen, das Verantwortung für Technologien auf den Gefährdungsaspekt reduziert und dabei von den durch Technologien induzierten Energie- und Stoffströmen absieht. Damit wird nicht bestritten, daß eine solche Ethik unmittelbare Relevanz besitzen könnte; es zeigt sich aber bereits in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Technologieforschung eine Vernachlässigung der metabolen Seite von Technologien.

Einen anderen diskursethischen Weg zur Begründung einer ökologischen Ethik, die einer Nachhaltigkeitsethik bisher am nächsten kommt, hat K.-O. Apel beschritten. Auf ihn geht die Ausweitung der Diskursethik zu einer Verantwortungsethik im Sinne der Zukunftsethik H. Jonas' zurück.36 Während das universalpragmatische Universalisierungsprinzip unmittelbar die Berücksichtigung von Handlungsfolgen verlangt, hat Apel eine direkte Folgenberücksichtigung als Überlastung des Universalisierungsprinzips verworfen. Die transzendentalpragmatische Diskursethik differenziert sich statt dessen in einen Begründungsteil (Teil A) und einen verant-wortungsethischen Teil B.

Bereits in seiner ersten Formulierung der Diskursethik hatte Apel zwei regulative Prinzipien angeführt, die jeder philosophischen Argumentation inne seien. "Erstens muß es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommuni-kationsgemeinschaft sicherzustellen, zweitens darum, in der realen, das Überleben der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen. Das erste Ziel ist die notwendige Bedingung des zweiten Ziels; und das zweite Ziel gibt dem ersten seinen Sinn, – den Sinn, der mit jedem Argument schon antizipiert ist." (Apel, 1976, 431) Apel spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die Überlebensstrategie ihren Sinn durch eine langfristige Emanzipationsstrategie erhält. Auf diesen beiden regulativen Prinzipien basiert der verantwortungsethische Teil B der Diskursethik. Teil B umfaßt mehrere Bereiche: So besteht vor allem eine politische Verantwortung zur Herstellung von Verhältnissen, die praktische Diskurse ermöglichen und moralisches Handeln zumutbar machen, dann eine ökonomische Verantwortung die Ökonomik in die Ethik zu integrieren und schließlich eine ökologische Verantwortung.

34 "Der Fall, daß die Folgen die Gesinnungsethik bestätigen und die Verantwortungsethik widerlegen, ist übrigens nicht so ungewöhnlich, wie man eingeschüchtert durch die volltönende Verantwortungsrethorik – glauben könnte. Die Ungewißheit der Folgen macht nämlich Handlungssituationen überkomplex, wenn man sie jederzeit in wirklich verantwortlicher Weise mitbedenken und einkalkulieren will. Wenn man die Folgen so oder so nicht absehen kann, ist es unter Umständen einfacher, sich gleich an moralische Regeln zu halten." (1996, 116) Moral stellt Reese-Schäfers Ansicht zufolge allgemeine normative Unbestimmtheitspotentiale für jene Themen und Bereiche zur Verfü-gung, "in denen Rechtsnormen und politische Entscheidungen nicht ausreichen, sich festgelaufen haben und sich aus eigener Kraft nicht korrigieren können." (ebd., 120)

35 Keinesfalls entspricht das additive Modell in Wissenschaft und Technik bereits dann einer Verantwortungsethik der Nachhaltigkeit, wenn technologische Innovationen über Diskurse eingeführt wurden. Dies würde den Nachhaltigkeitsdiskurs kognitiv auf einen Risikodiskurs reduzieren, der 'at the end of our days' faktisch mehr Gesinnung als Verantwortung bewiesen haben könnte.

36 Zum besonders im ökologischen Kontext oft verwandten Begriff der Verantwortung vgl. Bayertz, 1995.

Hinsichtlich des ersten regulativen Prinzips Apels fällt sogleich die Ähnlichkeit zu Hans Jonas' kategorischen Imperativ auf, daß eine Menschheit zu sein habe (Jonas, 1979, 90 ff)37 Im Gegensatz zum Prinzip Verantwortung spricht die Diskursethik nicht von einem Imperativ der Menschheitsbewahrung, sondern von der Pflicht zur Erhaltung der realen Argumentations-gemeinschaft. Diese liegt auf der Ebene des Diskursprinzips, womit sich für die Transzenden-talpragmatik die begründungstheoretischen Probleme Jonas' nicht stellen. Aber für die Trans-zendentalpragmatik ergeben sich daraus auch völlig andere Praxisprobleme als für die Jonas'schen Ethik (vgl. Werner, 1994, 319).

Verantwortung für die Biosphäre resultiert in der transzendentalpragmatischen Diskursethik aus der Differenz zwischen idealer und realer Argumentationsgemeinschaft. Jeder Sprecher als Argumentierender gehört demnach gleichzeitig und a priori beiden Argumentationsgemeinschaften an. Diese transzendentale Differenz nennt Apel, den Widerspruch einer noch nicht entschiedenen Geschichtsdialektik, den man aushalten müsse (Apel, 1973, 430). Zwar sei diese Differenz prinzipiell nicht aufhebbar, doch sei – im Sinne einer diskursiven Verantwortungsethik – die ideale Argumentationsgemeinschaft in der realen anzustreben. Die ideale Argumentationsgemeinschaft zeichne sich durch unbegrenzte Argumentation und reversiblen Konsens der Argumentationsgemeinschaft aus. Nach Apel kann nur im Diskurs der idealen Argumenta-tionsgemeinschaft, "der vom geschichtlich-irreversiblen Handeln des Menschen entlastet ist" (Apel, 1988, 127), das Universalisierungsprinzip einer Verantwortungsethik generiert werden. Nicht dagegen auf der Ebene der geschichtsbezogenen Anwendung dieses Prinzips. Apel hat gerade aufgrund der faktischen Unmöglichkeit unbegrenzter Argumentation (in fortschreitender Annäherung an Wahrheit) und der Irreversibilität geschichtlich situierten Handelns Diskursprinzip und Handlungsprinzip unterschieden. Das Handlungsprinzip sei zugleich auch verantwortungsethisch zu verstehen. Es umfaßt eine ökologische Verantwortung für die Biosphäre.

Apel führt nicht aus, inwieweit menschliches Handeln (phänomenologisch) als irreversibel zu qualifizieren ist.

Apels ökologische Verantwortung geht über unmittelbar zurechenbare Handlungsverantwortung einzelner Subjekte, Staaten oder Generationen hinaus. Es bestehe eine prinzipielle, allgemeine Verantwortung für die natürliche Umwelt. Diese sei beteiligungsoffen und nicht teilbar. Eine enge Interpretation von Verantwortung lasse in der Ex-Post-Perspektive zwar einen teleologischen Handlungsbegriff zu. Verantwortung könne jedoch nicht teleologisch – als Ex-Ante-Perspektive – begründet werden, wie dies etwa konsequentialistische Zukunftsethiken versuchen (vgl. Birnbacher,

37 Allerdings hat Jonas diesen Imperativ mit naturphilosophischen und ontologisch-metaphysischen Argumenten begründet. Und auch wenn sich diese noch quasi-intuitionistisch verstehen ließen – wenn Jonas nämlich in bezug auf die Verantwortung, die der Atmen eines Neugeborenen seiner Umwelt auferlegt, von einem ontischen Paradigma spricht (Jonas, 1979, 234 f) – begeht Jonas dennoch in beiden Fällen einen logischen bzw. naturalistischen Fehlschluß, den er wiederum erstens durch Anzweifeln dieses Prinzips relativiert und zweitens indem er den normativ-ethischen Anspruch seiner Theorie abzuschwächen scheint. So spricht er davon, daß seine Verantwor-tungsethik eine Art 'Notstandsethik' oder 'Vermeidungsethik' sei, die Verantwortung nicht in den Mittelpunkt der Moraltheorie rücken wolle, sondern diese zu ergänzen beabsichtige (vgl. zur Auseinandersetzung der Diskursethik mit Jonas die Beiträge in Böhler, 1994).

1988). Bereits die Ex-post-Perspektive zeige, daß nicht jede kausal zuordbare Handlung auch verantwortbar gewesen sein muß. Um von Verantwortung sprechen zu können, müßten gemäß dieser Theorien alle Folgen einer Handlung kausal intendiert sein. Somit erwiesen sich konsequentialistische oder teleologische Handlungstheorien aufgrund eines zu engen Verantwortungsbegriffs als ungeeignet, normative Theorien zu begründen.

Während Verantwortung im herkömmlichen Sinne an intentionales Handeln gebunden sei, bestünde die Pointe einer Verantwortungsethik wie Jonas' Prinzip Verantwortung oder Apels Diskursethik gerade darin, daß Verantwortung sich ganz prinzipiell auf Natur erstrecke.38 Eine ökologische Verantwortungsethik, die nicht hinter Jonas' Prinzip Verantwortung zurückfallen wolle, könne sich deshalb nicht auf die intendierten ökologischen Folgen unseres Handelns beschränken, sondern müsse so gefaßt sein, daß im praktischen Diskurs näher zu bestimmende Folgen menschlichen Handelns in der Natur ausgeschlossen werden könnten. Dabei müsse kognitives Lernen aus Rückwirkungen der Natur möglich bleiben. Dergestalt könnte sich die ökologische Krise als ein rekursiver Prozeß von sozial geltenden ökologischen Normen, widerständiger Realität und Neubegründung ökologischer Normen bewältigen lassen. Ganz ähnlich charakterisiert Habermas eine rationale Lebensweise als rekursiven Lernprozeß (vgl. Habermas, 1999, 132 f). Eine derartige Vorstellung der Normenbegründung im ökologischen Kontext kann jedoch nicht mit einer 'additiven' Sichtweise begründen werden, die vom Paradigma der Irreversibilität zurückgewiesen wird. Irreversibilität verweist auf den nicht-additiven Charakter von Ökosystemen.

M. Kettner hat unter Verweis auf moralische Lernprozesse die im additiven Modell implizierte rekursive Begründung ökologischer Normen abgelehnt.39 Seine Ablehnung richtet sich insbesondere gegen (ökologische) Klugheitsethiken: "Die ökologische Modernisierung von Klugheitsdispositiven [...] läßt sich nicht einfachhin, als ein moralischer Lernprozeß abhandeln."

(Kettner, 1995, 304) Jede ökologische Ethik müsse zumindest gewährleisten, daß Lernprozesse möglich seien. Zugleich muß sie allerdings auch offenlassen, was die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen voraussetzt. Auch Apel hat darauf verwiesen, daß im Rahmen der Diskursethik ökologische Normen Gegenstand einer situativen Güterabwägung bleiben müßten (Apel, 1994, 398 f). Kurzum: die transzendentalpragmatische Diskursethik beansprucht eine bereichspezifische Relevanz für den ökologischen Kontext, in welchem reversible Handlungsnormen Lernprozesse ermöglichen soll. Die äußerst relevanten Probleme ökologischer Abwägung bzw. Anwendung können im folgenden nur angedeutet werden. Folgt man – mit Habermas – Günthers' Differenzierung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen, kann sich die Universalpragmatik relativ unproblematisch diese theoretischen Auffassungen der Transzendentalpragmatik zueigen machen.

38 Vgl. Apels allgemeine Begründung für seine Verantwortungsethik unter Bezugnahme auf intentionalistische Handlungstheorien über die eine prinzipiengeleitete Ethik hinausgehen müsse (Apel, 1988, 132) und eine spezifisch ökologische Verantwortungsethik (ebd., 179 ff; ders., 1994).

39 D. Böhler (1994, 262f) hat an der moralischen Zulässigkeit eines 'additiven Modells' mit Blick auf die Gentechnik gravierende Zweifel geäußert.

Das hier vertretene koevolutionäre Verständnis von Natur und Anthroposphäre schließt ein 'additives Modell' von Natur aus. Naturprozesse reproduzieren sich selbstständig. Anthropogene Entwicklungsprozesse sind über eine konstante Energie- und Materialbilanz metabolisch mit den evolutionären Naturprozessen verbunden und beeinflussen diese. Nur in dieser gemeinsamen Koevolution von Mensch und Natur sind daher moralische Lernprozesse zu realisieren. Der Diskursethik zufolge müssen Normen, die Veränderungen von Naturprozessen durch den Menschen für zulässig erklären, reversibel bleiben. Nur durch moralische Lernprozesse, die (irreversible) Veränderungen der Natur kognitiv zugänglich machen, werden derartige Veränderungen im Zaum eines schwachen Naturalismus (Habermas, 1999) gehalten. Die Bestimmung irreversibler Veränderungen bedarf unter Umständen einer erheblichen naturwissenschaftlichen und phänomenologischen Rekonstruktionsarbeit durch die Philosophie. Irreversible Naturfolgen könnten ein Unterlassen von Handlungen zwingend gebieten. Allerdings erweist sich die moralische Bewertung irreversibler Veränderungen in ökologischer und sozialer Hinsicht als überaus komplex.40 Dies zeigt sich schon bei Versuchen der ethischen Bewertung von Stoff- und Energieströmen (vgl. Birnbacher, 1988, 70 ff, 208 ff).

Die ökologische Abwägung sollte deshalb anthroporelational bei möglichen Handlungsfolgen ansetzen.41 Handlungsfolgen unterliegen in zukunftsbezogener, koevolutionärer Perspektive wie gezeigt prognostischer und epistemischer Unsicherheit. D. v. d. Pfordten hat für diesen Kontext ein Kriterium der Nichtintervention in die Natur formuliert: "Die Nichtintervention in alle gegenwärtig bestehenden natürlichen Verhältnisse dient dem Menschen im Fall von Unsicherheit und Risiko alles in allem mehr als jede Intervention." (v. d. Pfordten, 1996, 260) Dabei richtet sich das Kriterium auf die Veränderung und nicht auf den Erhalt der Natur, so daß es nicht den gegenwärtigen nicht-nachhaltigen Status Quo auszeichnet. Aus dem Nichtinterventionsprinzip folgt nach v. d. Pfordten das Gebot der Nachhaltigkeit, das er allerdings nicht näher ausführt. In Verbindung mit der gebotenen Nichtverletzung anderer menschlicher Interessen an einer unveränderten Umwelt ergebe sich aus der gebotenen Nichtintervention unter Unsicherheit die Umkehr der Beweislast für potentiell umweltrelevante Handlungen. Umweltrelevante Handlungen seien grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig (ebd., 262). Da das Universalisierungsprinzip der Diskursethik (Habermas) direkt menschliche Bedürfnisinterpretationen einschließt, folgt es der Beweislastumkehr im Sinne v. d. Pfordtens.42

40 Vgl. zu entsprechenden Ansätzen: Birnbacher, 1988.

41 Im ökologischen Kontext bedingt Habermas' moralisches Universalisierungsprinzip U unmittelbar, daß nur jene Handlungen zulässig sind, deren ökologische Folgen und Nebenwirkungen abgeschätzt werden können.

42 Allerdings wäre für den ökologischen Kontext generell zu prüfen, ob daß Universalisierungsprinzip nicht aufgrund seiner Referenz auf die unmittelbare Berücksichtigung von potentiellen Folgen und Interessen (Inklusion in den praktischen Diskurs) Moralität und Sittlichkeit kurzschließt, wie dies Apel bereits vermutet hat (1988, 1989). Bei Habermas lassen sich Interessen zukünftiger Personen in praktischen Diskursen allenfalls advokatorisch berücksichtigen. Der Umstand, daß die Unbegrenztheit der idealen Argumentationsgemeinschaft bei Apel im Prinzip auch kommende Generationen umfaßt, ist nicht so mißzuverstehen, daß dies bereits Normen zum Verhältnis zwischen Generationen konstituieren würde. Die ideale Argumentationsgemeinschaft – in ihrer Relation zur realen Argumentationsgemeinschaft – konstituiert nur das Diskursprinzip D. Daran schließt die Verantwortungsethik an.

Konkrete Normen folgen aber erst aus praktischen Diskursen (vgl. auch Brumlik, 1986, 265 ff.). Die der ökologischen Krise zugrundeliegende soziale Komplexität, könnte zwar – im Sinne Habermas' – für die These einer

Von der Pfordtens Kriterium der Nichtintervention erweist sich als relativ starkes Kriterium, das zwar bei epistemischer Unsicherheit größte Konsensfähigkeit besitzen dürfte, doch bei prognostischer Unsicherheit auf Einwände stoßen könnte: Das Kriterium würde nahezu alle umweltrelevanten Handlungen verbieten, da aufgrund der konstanten Energie- und Materialbilanz und der Offenheit des Handlungsraums 'Natur' prognostische Unsicherheit über zukünftige Folgen anthropogener Handlungen den Normalfall der Abwägung darstellt. Die diskurstheoretische Unterscheidung zwischen epistemologischer und ökologischer Unsicherheit würde gegenüber einem solchen generellen Kriterium der Nichtintervention in die Natur eine präzisere Differenzierung ermöglichen: Epistemologische Unsicherheit verbietet Handlungen generell. Unter prognostischer Unsicherheit aber wird der Situationskontextes für die ökologische Abwägung relevant, da dieser die Abschließbarkeit eines Handlungsraums bestimmt. Im Situationskontext der Abwägung sind Irreversibilität, Nicht-Intentionalität und konkrete ökologische Güter als Kriterien zu berücksichtigen.

Hinsichtlich einer nachhaltigen, koevolutionären Entwicklung erweist sich der gegenwärtige Steady-State von Ökosystemen als entscheidendes ökologisches Gut.43 Diese Bezugnahme auf den Steady State von Ökosystemen schließt irreversible Veränderung nicht prinzipiell aus, sondern verweist auf die Notwendigkeit einer anwendungsbezogenen Güterabwägung: In die eine Richtung wird der Situationskontext durch die objektivierte Welt gegeben, wobei Irreversibilität und Unsicherheit moralisch zu berücksichtigen sind; in die andere Richtung wird der Situationskontext durch die moralische Beachtung von Kontingenz in der Annahme einer prinzipiellen Unverfügbarkeit der Welt bestimmt. Nur so erscheinen nichtnaturalistische, moralische Lern-prozesse denkbar, und die reflexhafte Anpassungen der Gesellschaft an anthropogene Umwelt-veränderungen vermeidbar.

Bewertungsunsicherheit, resultierend aus der Prognoseunsicherheit in offenen Systeme, verbleibt aber selbst in diesen Fällen bestehen, obgleich die epistemische Sicherheit theoretisch-empirischer Diskurse vorliegt. Mithin können gravierende Schwierigkeiten bei praktischen, umweltpolitischen Abwägungen bestehen (vgl. Wätzold, Simonis, 1997). Prognostische Unsicherheit kann schließlich die Möglichkeit, überhaupt legale, systemische Handlungsbereiche zu konstituieren, in Frage stellen. Auch eine ökosystemische Umweltbeobachtung kann – bei umzukehrender Beweislast – nur Gefährdungsstrategien erschließen, die sich am potentiellen Schadensmaß orientieren und sozialer Komplexität gerecht zu werden versuchen. Ökologisch vermeintlich abgeschlossene

sozialen Evolution praktischer Vernunft sprechen, bei der sich das Verhältnis zwischen den pragmatischen, den ethischen und den moralischen Aspekten praktischer Vernunft wandelt (vgl. Eder, 1988), doch muß sich diese Evolution praktischer Vernunft weiterhin an Lernfähigkeit orientieren und diese dürfte in der ethischen und pragmatischen Dimension stark eingeschränkt sein.

43 Der Begriff des Steady State kommt aus der thermodynamischen Ökosystemtheorie, welche gegenüber der kybernetischen Ökosystemtheorie vor allem dynamische Instabilitäten, Bifurkationen und Entwicklungsaspekte untersucht. Dem homoeostatischen Gleichgewicht der Kybernetik wird hier ein Fließgleichgewichtszustand (steady state) gegenübergestellt, das auf der Geschichtlichkeit eines Ökosystems beruht (vgl. dazu Müller, 1997). Die Annahme starker Kausalität innerhalb eines geschlossenen, kybernetischen Systems wird fallen gelassen.

Entstehende Eigenschaften von Ökosystemen werden als nicht-addierbare Ergebnisse funktionaler Interaktion und nicht als einfach-lineare Effekte bestehender Strukturen erklärt. Sie sind deshalb auch nicht vorhersagbar.

Handlungsräume können sich ex-post doch als offene Handlungsräume erweisen und naturalistisch auf die Gesellschaft zurückwirken ohne daß u. U. noch Lernprozesse ausgelöst werden könnten.

Koevolutionäre Kontingenz impliziert, daß die Unverfügbarkeit der Welt nur ex-post erkannt werden kann. Koevolutionäre Kontingenz erscheint zwar im Horizont praktischer Vernunft; sie läßt sich jedoch nicht eindeutig eingrenzen. Kontingenz bleibt vermutlich immer sowohl betreffend der Art als auch des Ausmaßes potentieller Gefährdung bestehen.44 Irreversible Gefahren und Irreversibilität erscheinen lediglich als besonderes Schadensmaß, da sie die menschliche Freiheit aller zukünftigen Generationen einschränken.

Die Diskursethik rechtfertigt Nachhaltigkeit somit als globales Moralprinzip der Vermeidung irreversibler Veränderungen der Biosphäre im gegenwärtigen Steady State. Die diskursethische Begründung zielt auf die Prävention katastrophaler sozialer Entwicklungen in der Koevolution von Gesellschaft und Natur. Sie besagt nicht, daß der gegenwärtige Steady-State nicht bereits durch extensive Stoff- und Energieströme gefährdet ist. Diese auf den Steady State und Irreversibilität in der Biosphäre verweisende Begründungsstruktur gewährleistet die Unverfügbarkeit der Natur gegenüber der Verfügbarkeit einer objektivierten Natur, d. h. Nachhaltigkeit wird von einer seienden – unter dem Paradigma von Irreversibilität eigentlich: werdenden – Natur her angegangen, die letztlich immer den Menschen einschließt, obwohl umweltgefährdende Handlungen des Menschen die koevolutionäre Zukunft von Mensch und gegenwärtiger Natur bedrohen. Natur bleibt auf den Menschen und seine Bedürfnisse bezogen. In der angewandten Ethik hat sich A. Leist (1996) mit Ansätzen zu Nachhaltigkeit auseinandergesetzt. Er unterscheidet vier Definitionen (vgl., ebd., 434 ff):

1. Eine Wirtschaftsart ist nachhaltig, wenn sie die Funktionskreisläufe der Natur nicht zerstört, sondern ihren anhaltenden Bestand sichert.

2. Eine Wirtschaftsweise ist nachhaltig, wenn sie die heute noch bestehende Natur (Funktions-kreisläufe, Rohstoffe) in ihrer Existenzweise bewahrt.

3. Eine Wirtschaftsweise ist nachhaltig, wenn sie die Bedürfnisse der zukünftigen Generationen nicht gefährdet.

4. Eine Wirtschaftsart ist nachhaltig, wenn sie die Chancen der Naturnutzung der zukünftigen Generationen gegenüber den heutigen nicht verringert.

Während 1. als eine rein empirische Definition unbrauchbar sei und als anthropozentrische Wertauffassungen das Defizit aufweise, endliche Ressourcen nicht zu berücksichtigen, stelle 2. die

44 Bereits Jonas wies nachdrücklich darauf hin, daß 'Verantwortung' eine epistemologische Basis benötigt. Obwohl dieser Forderung hier gefolgt wird, ist doch festzustellen, daß die Bedeutung der Epistemologie für die Sozialphilosophie aufgrund potentiell nicht-intendierter ökologischer Handlungsfolgen immer begrenzt ist. Zwar hat Jonas die zweischneidige Rolle der Wissenschaften als Wegbereiter und Schreckensverbreiter des Fortschritts durchaus gesehen und angesichts einer limitierten Prognosefähigkeit der Wissenschaften für eine 'Heuristik der Furcht' plädiert, doch kann Jonas diese 'Heuristik der Furcht' nicht durch Verweis auf eine Zukunftsethik rechtfertigen, deren Wissensbasis die Selbstgefährdung der Menschheit ausschließen soll (Jonas, 1984, 61 ff). Die von Jonas im Gegensatz zu vielen heutigen Autoren der Nachhaltigkeit erkannten Schwierigkeit intertemporaler Kommensurabilität (Jonas, 1984, 40f), läßt sich jedoch nicht durch dieses zirkuläre Argument überwinden. Es verleitet ihn schließlich sogar dazu, autoritäre Staatsformen in Betracht zu ziehen und so einen 'katastrophischen Fehlschluß' (Reese-Schäfer) zu begehen. Es sei darauf verwiesen, daß Apel die schleichende ökologische Veränderung der conditio humana als Herausforderung der Menschheit als Selbstbehauptungssystem (Apel, 1988, 193) ansieht, ohne einen solchen Fehlschluß zu begehen.

willkürliche Wahl eines Ist-Zustandes der Natur dar und zeige, daß aus inhaltlichen Gründen die Bezugnahme auf menschliche Interessen oder Bedürfnisse nötig sei. Die Definitionen 3. und 4.

implizierten eine intergenerationell gerechte Entwicklung, ihre zweckrationale Operationalisierung sei aber problematisch. Leist schlägt deshalb folgende Definition von Nachhaltigkeit vor, die sowohl die zukünftige als auch die gegenwärtige Nutzung der natürlichen Umwelt einschränkt und so v. d. Pfordtens Nichtinterventionsprinzip material anwendbar macht (vgl., ebd., 436 ff):

5. Eine Wirtschaftsweise ist nachhaltig, wenn sie die Chancen der Naturnutzung nicht einseitig (etwa sogar exponentiell) zu Lasten der zukünftigen Generationen einschränkt, sondern langfristige intergenerationelle Gleichheit auf einem realisierbaren Niveau

5. Eine Wirtschaftsweise ist nachhaltig, wenn sie die Chancen der Naturnutzung nicht einseitig (etwa sogar exponentiell) zu Lasten der zukünftigen Generationen einschränkt, sondern langfristige intergenerationelle Gleichheit auf einem realisierbaren Niveau

Im Dokument Diskurs und Nachhaltigkeit (Seite 71-79)