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Der historische Stoffstrom des ökonomischen Systems

Im Dokument Diskurs und Nachhaltigkeit (Seite 104-108)

3 Der Metabolismus mit der Natur: das Wirtschaftssystem

3.3 Thermodynamik und die Grenzen der Ökonomie

3.3.3 Der historische Stoffstrom des ökonomischen Systems

Mitte der 80er Jahre wurde aufgrund empirischer Untersuchungen erstmals die These einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch formuliert. Die damalige Studie untersuchte den Verbrauch von Zement, Stahl, Ammoniak, Papier, Chlor, Aluminium und Ethylen in den USA über einen fast 100jährigen Zeitraum. Ähnliche Ergebnisse lieferten Trendanalysen für Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die den Zeitraum seit den 50er Jahren analysierten (Jänicke, 1998, 2).

69 S. Hofmeister, die ein solches produktionstheoretisches Modell vertritt (Hofmeister, 1998), hat darauf hingewiesen, daß Daly Naturkapital als (unproduktive) Bestandsgröße interpretiert und damit über die reproduktiven Eigenschaften sowohl von Natur- als auch Humankapital hinwegsehe (Biesecker, Hofmeister, 2001).

Die beobachtete Entkoppelung ließ sich als inverse U-Kurve beschreiben, die später unter dem Namen ökologische Kuznets-Kurve (ÖKK) firmierte. Die Hypothese lautet, daß in frühen wirtschaftlichen Entwicklungsstadien die Umweltbelastung stärker zunimmt als das Einkommen und daß sich diese Relation abschwächt und ab einem gewissen Punkt eigenständig umkehrt. Die Entwicklung erfolgte demnach unabhängig von (umwelt)politischer Steuerung.70 Eine Reduktion der Materialintensität wurde für ganz verschiedene Materialien (Blei, Kohlenmonoxid, Stickstoffverbindungen, Schwefeldioxid, Oxid, suspended particulate matter, etc.) und für mehrere Länder (OECD-Länder) bekräftigt. Einige Studien zeigten darüber hinaus sogar eine absolute Reduktion des Materialinputs und gingen damit noch über die Hypothese sinkender Materialintensität hinaus. Als Gründe für den Rückgang des Ressourceninputs wurden genannt:

Substitution traditioneller Materialien, höhere Effizienz der Materialien, höhere Effizienz der Produktion und Zunahme dienstleistungsintensiver Güter bei gleichzeitiger Abnahme materialintensiver Güter.

Dagegen haben weitere Studien gezeigt, daß Länder der 3. Welt und des ehemaligen COMECON keine derartige Entkoppelung durchlaufen sind. In diesen Ländern konnte die Ressourcenproduktivität somit nicht gesteigert werden. Auch wurde die ÖKK-Hypothese schon früh mit der Prognose konfrontiert, daß das langfristige Wirtschaftswachstum die Ressourcenproduktivität wieder ausgleichen würde und die ökologische Belastung wieder ansteigen würde (N-Kurve). Als Erklärung für die unterbliebene Entkoppelung in der 3. Welt wurde auf die offene Weltwirtschaft verwiesen. Lediglich in geschlossenen Volkswirtschaften entsprechen sich Ressourceninput und Emissionen und Abfall langfristig. Es könnte bezüglich der 3. Welt ein Phänomen des Umweltbelastungsimports stattgefunden haben. Dem entspricht ein Umweltbelastungsexport seitens der Industrieländer. Während M. Jänicke gegen die These einbringt, daß es bis heute zu keiner relevanten Verlagerung von Grundstoffindustrien in die Entwicklungsländer gekommen sei, sehen S. de Bruyn et al. schwache Indikatoren sowohl für als auch gegen eine solche Annahme (jeweils abhängig vom Stoff und Land) (vgl. Jänicke, 1998, 10;

de Bruyn et al, 1997, 206). Insgesamt sei die Datenlage jedoch zu schlecht, um Verschiebungen der Umweltbelastungen zwischen offenen Volkswirtschaften beurteilen zu können.

Um den empirischen Zusammenhang zwischen Material- und Energieinput und Wirtschafts-wachstum zu bestimmen, haben S. de Bruyn et al. mehrere Modelle entwickelt, von denen das erste eine einfache Korrelation von Wachstum und Materialinput nachstellt, das zweite eine Steigerung der Ressourcenproduktivität annimmt (ÖKK-Hypothese) und das dritte ein sinkendes Materialinput als Funktion des Wirtschaftswachstums und des Einkommensniveaus ansieht. Das Ergebnis bestätigt das dritte Modell, nach welchem die Steigerung der Ressourcenproduktivität durch das Einkommensniveau in wachsenden Volkswirtschaften erklärt wird. Dies bedeutet auch, daß reiche Staaten größere Ressourcenproduktivitätssteigerungsraten erzielen als arme (vgl. de Bruyn, et al.,

70 Als lange Zeit einziges Land verfolgte Japan in den 70er Jahren – als Reaktion auf die Ölkrise – eine Industriepolitik, die für einzelne Branchen präzise Reduktionsziele festlegte. Diese Strukturpolitik hatte eine vielbeachtete Reduktion der Umweltbelastung zur Folge (vgl. G. Foijanty-Jost, 1991).

1997, 210 ff). Unter Verwendung des dritten Modells prüfen die Autoren schließlich die Möglichkeit nachhaltiger Entwicklung, d.h. eines konstanten Materialinputs (als Annäherung an Nachhaltigkeit). Sie kommen zu dem Ergebnis, daß Wachstumsraten von 3 %, wie sie die Brundtland-Kommission für die entwickelten Länder als nachhaltig annahm, in Wahrheit nicht nachhaltig sind.71 Nun ist das Modell rein deskriptiv und untersucht beispielsweise nicht den Einfluß von Umweltpolitik.72 Es legt aber dringend nahe, daß ein autonomer technischer und struktureller Wandel sich nicht nachhaltig entwickeln wird.

Alle jüngeren Studien, die im Ergebnis die Kuznets-Kurven-Hypothese bestätigen, beziehen ihren methodologischen Ansatz auf ausgewählte Stoffe, nehmen diese als Indikatoren für Umweltbelastungen und korrelieren sie mit der jeweiligen Einkommensentwicklung. Dies gilt auch für die letztgenannte Studie. De Bruyn et al. haben in einem weiteren Aufsatz bemängeln, daß die Ergebnisse der optimistischen ÖKK-Studien nicht nur von den zugrunde gelegten Stoffen abhingen, sondern auch von den zugrunde gelegten Modellen (de Bruyn et al., 1998). So habe der gewählte Zeitraum einen erheblichen Einfluß auf das Ergebnis. Die inverse U-Kurve könnte sich bei längerem Untersuchungszeitraum als N-Kurve darstellen, d.h. die Ressourcenproduktivität wieder gesunken sein.73 Eine derartige N-Kurve scheint auch ihre Untersuchung der Schadstoffe CO2 , NOX und SO2 nahezulegen. De Bruyn hat diese N-Kurve evolutionsökonomisch erklärt.74 "The environmental implication is that the often promoted argument that economic growth can be beneficial to environmental quality is probably invalid. If the N-shaped figure holds for aggregated material input, a similar development should be traced for aggregated environmentally relevant output (emissions and waste) by virtue of the mass balance principle" (de Bruyn, 1999, 17)

Für eine umfassende Politik der Dematerialisierung ist der Nachweis von Reduktionspotentialen einiger Stoffe weder ausreichend noch notwendig zielführend. Vielmehr ist für eine Dematerialisierungspolitik der Nachhaltigkeit Wissen über den gesamten, aggregierten Materialaufwand einer Wirtschaftsregion bzw. Volkswirtschaft erforderlich. Dieses ist erstmals in einer Studie von A. Adriaanse et al. bereitgestellt worden, die für Deutschland, Japan, die Niederlande und die USA den Globalen Materialaufwand (GMA) in den Jahren von 1975 bis 1995 ermittelt hat (Adriaanse et al., 1998). Das Maß des Globalen Materialaufwands bezeichnet die Summe der natürlichen stofflichen Ressourcen, die jährlich für die wirtschaftliche Aktivität eines Landes in Anspruch genommen werden. Im Gegensatz zur VGR erfaßt es auch jene ökologische relevanten Aktivitäten der Ressourcenmodifikation, die keine Warenform annehmen oder nicht gehandelt werden, da sie etwa noch nicht als Materialinputs dienen oder als freie Güter behandelt

71 In ihrer späteren Studien geben die Autoren die Rate nachhaltigen Wachstums in Relation zu CO2 Emissionen wie folgt an: NL 1,8 %, UK 1,8 %, USA 0.3 %, BRD 2.9 % beim zugrundegelegten Einkommensniveau des Jahres 1990;

de Bruyn et al., 1998, 172.

72 Außerdem trifft es diese Aussagen auch nur auf der Basis dreier Inputs, wobei allerdings mit Energie zumindest das ökologisch und ökonomisch wichtigste Input erfaßt wurde. (Die beiden anderen sind Stahl und Zement.)

73 Auch M. Jänicke bestätigt eine N-Kurven-Entwicklung des ökonomischen Stoffstroms; Jänicke, 1998, 10.

74 Der Prozeß technischen Wandels erfolge nicht gleichmäßig, sondern durch ein Disequilibrium und einen evo-lutionären Lern- und Selektionspfad. Dagegen folge in Gleichgewichtsphasen die Entwicklung des Ressourceninput dem Wachstum. Der inversen U-Kurven-Entwicklung folgt, so die Hypothese, eine weitere Phase der Rematerialisierung.

werden. Diese nichtmonetarisierten Materialströme werden auch als 'ökologische Rucksäcke' bezeichnet und machen in den untersuchten Ländern 55 -75 Prozent des GMA aus. Nur der restliche Prozentsatz des GMA geht überhaupt als Direktes Materialinput (DMI) in die Produktion ein. Der GMA ist als ökologischer Indikator deshalb interessant, weil er nicht auf die Substitution der heimischen Güter durch importierte Güter reagiert und die Substitution unterschiedlichster Materialien gegeneinander ermöglicht.75

Anhand des Verhältnisses von GMA zum BIP bestimmen Adriaanse et al. die Materialintensität bzw. die Ökoeffizienz der Volkswirtschaft. Der Indikator zeigt ein Absinken der Materialintensität für alle vier Volkswirtschaften, d.h. einen Anstieg der Ökoeffizienz. Dies scheint eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Materialbewegung nahezulegen. Die traditionelle Kennzahl für Ökoeffizienz, das Verhältnis von DMI zum BIP, relativiert diese Aussage jedoch teilweise.76 Zwar läßt sich für den gesamten Zeitraum noch immer ein deutlicher Rückgang der Materialintensität der direkten Inputs belegen, doch entwickeln sich Wirtschaftswachstum und Ressourceninput in allen Ländern über Phasen von 5 - 10 Jahren hinweg praktisch konstant.

Demnach scheinen, so das Fazit der Autoren, technischer Fortschritt und ökologischer Strukturwandel in ausgesprochenen Schüben zu erfolgen.77

Die Analyse des Stoffstroms des ökonomischen Systems ist Grundlage für eine erfolgreiche Stoffstrompolitik. Sie ist aber gleichzeitig limitiert. So können nur für einige Stoffe überhaupt entsprechend lange Datenreihen zusammengetragen werden. Die ökonomische Relevanz der untersuchten Stoffe, ihre Substitutionselastizität, ist aufgrund der qualitativen Lückenhaftigkeit der Daten nur sehr schwer zu disaggregieren. Die Analyse des Stoffstroms bietet dennoch die Möglichkeit, die Produktionsfunktionen, mit denen in allen ökonomischen Ansätzen von der Neoklassik bis zur Stoffstromökonomik modelliert wird, gegebenenfalls zu revidieren und auf eine empirische Basis zu stellen (van den Bergh, 1999). Dies kann auch bei der Beantwortung der Frage nach Substituierbarkeit und Komplementarität von Naturkapital und produziertem Kapitalbestand hilfreich sein. Gleichzeitig muß betont werden, daß die Analyse des Stoffstroms nicht normative Voraussetzung einer Nachhaltigkeitspolitik ist. Denn die Diskussion über realistische Substitutionspotentiale und empirisch-naturwissenschaftlich fundierte Produktionsfunktionen steht nicht immer in direktem Zusammenhang mit den gegenwärtigen ökologischen Problemen. Diese besitzen, wie etwa im Fall von Ozonloch und Treibhauseffekt, eine Objektivitätsstruktur, die sie kausal an Stoffströme rückkoppelt, doch ihnen ist auch ein Problemdruck inne, der eine Reduktion der verursachenden Stoffe zwingend erfordert. Dieses Ziel einer Reduktion von CO2 und FCKWs besagt aber wenig über die ökonomischen Charakteristika dieser Stoffe (einschließlich ihrer Substitutionselastizitäten). Diese Stoffe mögen sogar Eigenschaften aufweisen, angesichts derer

75 So erlaubt der Indikator auch die Substitution von endlichen durch nachwachsende Ressourcen. Gleichwohl ist der GMA als Indikator von Nachhaltigkeit noch immer stärker als das Kriterium schwacher Nachhaltigkeit der Londoner Schule, da es bei der Nutzung von Naturkapital nicht die Komplementarität übergeht (so Bartelmus, Vesper, 2000, 19 f).

76 Adriaanse et al. (1998, 35) interpretieren das Verhältnis von DMI zum BIP als Indikator für "den Einfluß des technischen Fortschritts, der betrieblichen Praxis und des Strukturwandels auf die Effizienz der Materialnutzung."

77 Damit wird die These einer post-materialistischen Gesellschaft (Ingelhart) stark relativiert.

sich ökonomische Instrumente als ineffektiv erweisen, so daß umweltpolitische Steuerung zwingend auf ordnungsrechtliche Instrumente (Verbot) zurückgreifen muß. Van der Voet et al.

haben dies etwa in bezug auf Cadmium, Stickstoff- und Chlorverbindungen sowie fossile Brennstoffe festgestellt (van der Voet et al., 1995). Dabei schließen die Autoren für Stoffe mit den Produktionscharakteristika von Cadmium und Chlorverbindungen jede Form ökonomischer Instrumente aus.78 Die Singularität durchbricht die ökonomische Modellierung und widerlegt daraus abgeleitete sozioökonomische Prognosen. Aggregierende Produktions- und Wohlfahrtsfunktionen können immer von der harten, singulären Realität stofflicher Wirkungen in der natürlichen Umwelt widerlegt werden. Sicherheit ist in diesem Sinne für die Risikogesellschaft nicht mehr zu haben – Vorsorge mittels (hoch)aggregierter ökologischer Indikatoren jedoch schon.

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