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Typische Rollenkonflikte in der Dienstleistungstriade

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.2 Typische Rollenkonflikte in der Dienstleistungstriade

Einzelhandelskaufleute nehmen eine Rolle wahr, mit der seitens Kundschaft, Ge-schäftsleitung und Rolleninhaber widersprüchliche Erwartungen verbunden sind.

Zugleich nehmen sie im Rahmen der delegierten Aufgaben in Personalunion die Rolle des/-r Arbeitnehmer/-in und des Arbeitgebers wahr. Da diese nicht nur gleich-gerichtete, sondern auch gegenläufige Interessen haben, sind hiermit Paradoxe ver-bunden (vgl. Tafner 2015, 473 ff.; Beck/Brater 1977, 47; Voswinkel/Korzekwa 2005, 180 ff.). Dies wird nachfolgend mit Hilfe des Rollenkonzepts und der Dienstleistungstri-ade erläutert. Rollenkonflikte stellen immer auch Identitätskonflikte dar.

Mit einer sozialen Rolle sind Einstellungen, Werte, Handlungsmuster und Verhal-tensnormen gemeint, welche mit dem Innehaben eines bestimmten Platzes in der gesellschaftlichen Ordnung – z. B. eines Berufes oder Arbeitsplatzes – verbunden sind (vgl. Linton 1945/1973; Miebach 2014, 39 ff.). Der Rollenbegriff entfachte in der Sozio-logie den Streit zwischen dem strukturfunktionalistischen und dem interpretativen Paradigma. Hierbei geht es um die sozialisationstheoretische Frage, ob Rollen gesell-schaftlich determiniert sind und im Sinne des Sozialisationsverständnisses Durk-100 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

heims (1922/1972) internalisiert werden müssen oder ob sie vom Individuum gestalt-bar sind (vgl. Schimank 2010, 58 ff.; Miebach 2014, 49 ff.). Der Rollenbegriff ist ein aus dem Theater entlehnter Begriff. Eine Person spielt die Rolle, indem sie ein den Erwar-tungen entsprechendes Rollenverhalten zeigt. Dabei kann sie sich mit ihr identifizie-ren, sie kann die Rolle aber auch trotz mangelnder Identifikation spielen, z. B. weil sie in der Erwerbstätigenrolle auf ihr Einkommen angewiesen ist und keine Alternative hat (vgl. Goffman 1959; Schimank 2010, 59 ff.). Unabhängig von der Frage der Identifi-kation ist jede Person Träger mehrerer Rollen, die sich widersprechen können (Inter-rollenkonflikt, vgl. Miebach 2014, 41; Schimank 2010, 68 ff.). Widersprüchliche Erwar-tungen verschiedener Bezugspersonen an eine Rolle (Rollenset) werden als Intrarol-lenkonflikt bezeichnet (vgl. Miebach 2014, 43; Nerdinger 2011, 43; Merton 1973).

Diese Konstellation kann als Dienstleistungstriade (vgl. Abb. 27) beschrieben wer-den. Die Dienstleistenden stehen hierbei in einer triadischen Beziehung zur Kund-schaft und ihrem Arbeitgeber (vgl. Nerdinger 2011, 141 ff.; Voswinkel/Korzekwa 2005, 43; Birken/Dunkel 2013, 47 f.), wobei in der Regel nur die jeweilige dyadische Bezie-hung aktualisiert wird. Hierbei kann nach Goffman (1959) zwischen einer Vorderbühne (direkter Kundenkontakt) und einer Hinterbühne (Gespräche mit Kolleg/-innen und Vorgesetzten) unterschieden werden (vgl. Nerdinger 2011, 41; Voswinkel/Korzekwa 2005, 42 ff.). Aber auch das Dienstleistungsunternehmen steht in Kontakt mit der Kundschaft (z. B. Zufriedenheitsbefragungen, Informationen aus Kundenkarten und Warenwirtschaftssystem, Werbemaßnahmen, Onlineshop), ohne die Beschäftigten zu beteiligen (vgl. Voswinkel/Korzekwa 2005, 37 ff.).

Dienstleistungstriade (eigene Darstellung nach Lotz 2012; Voswinkel/Korzekwa 2005, 42 ff.;

Nerdinger 2011, 141 ff.)

3.1.2.1 Beziehung Dienstleistungsunternehmen – Dienstleistende

Empirische Studien belegen, dass eine Identifikation der Dienstleistenden mit ihrer Rolle vielfältige Vorteile hat (vgl. Kap. 3.1.3). Diese kann jedoch durch Inter- und Intra-rollenkonflikte erschwert sein. Prominentes Beispiel für InterIntra-rollenkonflikte sind

Be-Abbildung 27:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 101

einträchtigungen des Privatlebens durch die Berufstätigkeit. Dies trifft im Einzelhan-del vor allem auf die stark ausgedehnten Arbeitszeiten in den Abendstunden und am Wochenende zu, welche Familienleben und private Hobbies beeinträchtigen (vgl.

Voss-Dahm/Lehndorf 2003; Zülch/Stock 2003; Kutscha/Debie/Besener 2009, 62 ff.).

Weitere Konflikte sind zu erwarten, wenn Dienstleistende eine Familie ernähren müs-sen, da dies aufgrund des niedrigen Einkommensniveaus zu finanziellen Einschrän-kungen im Privatleben führt (vgl. Schäfer/Schmidt 2016, 44 ff.; Kap. 2.2.3). Mehrere Studien belegen, dass die Work-Life-Balance neben dem Einkommen für Beschäftigte einer der wichtigsten Faktoren bei der Wahl eines Arbeitsplatzes ist und eine fehlende Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben ein erheblicher Stressfaktor mit gesund-heitlichen Gefahren darstellt (vgl. Nübling/Schröder/Gerlach 2015, 50 ff., 105 f.). Um-gekehrt führt eine familienfreundliche Unternehmenskultur nachweislich zu einer wechselseitigen Bereicherung beider Bereiche (vgl. Hummel 2010; Wayne/Randal/

Stevens 2006).

Die Doppelrolle kaufmännischer Angestellter als Arbeitnehmer/-in und Vertre-ter/-in der Geschäftsleitung führt zu einem systematischen Intrarollenkonflikt. Das in der Unternehmerrolle zu verfolgende ökonomische Prinzip kann sich gegen die Be-schäftigten selbst richten. So sind regelmäßige unbezahlte Überstunden aus Unter-nehmenssicht wünschenswert, aus Arbeitnehmersicht stellen sie eine Selbstausbeu-tung dar. Dasselbe gilt für eine dauerhaft hohe ArbeitsbelasSelbstausbeu-tung oder gesundheitsge-fährdende Arbeitsbedingungen (vgl. Tafner 2015, 473 ff.).

Es sind auch ethisch-moralische Konflikte denkbar, wenn Werte der Arbeitgeber und der Beschäftigten nicht übereinstimmen. So steht z. B. der Textileinzelhandel im-mer wieder in der Kritik für die durch den ausgeübten Kostendruck bedingten schlechten Produktionsbedingungen und Kinderarbeit. Weitere Beispiele sind unlau-terer Wettbewerb (z. B. Preisdumping) oder das Verschweigen von Produktmängeln (z. B. mit Giften belastetes Kinderspielzeug) in Verkaufsgesprächen. Als Repräsentan-ten des Unternehmens müssen Angestellte die Geschäftspolitik ihrer Arbeitgeber nach außen und gegenüber ihren eigenen Wertvorstellungen vertreten können (vgl.

Tafner 2015; Beck 2003; Zabeck 2002; Lempert 2003; Minnameier 2005, 2016).

Dienstleistende sind zudem mehr als die Summe ihrer Rollen. Auch rollenunab-hängige Aspekte der Gesamtpersönlichkeit können in Konflikt zur Dienstleisterrolle stehen (vgl. Schimank 2010, 73 ff.). So kann eine Person z. B. besonders ehrgeizig sein oder über ein hohes moralisches Verantwortungsbewusstsein verfügen (vgl. Nerdin-ger 2011, 44). Für leistungsorientierte Beschäftigte können Unterforderungen hin-sichtlich der Qualifikation sowie fehlende Karriere- und Einkommensperspektiven die Identifikation erschweren und zu fehlender Anerkennung seitens des privaten Umfeldes führen (vgl. Voss-Dahm 2009). Konflikte dieser Art sind im Einzelhandel vermehrt zu erwarten, da die Beschäftigten tendenziell überqualifiziert und niedrig entlohnt sind und Aufstiegschancen fehlen (vgl. Kap. 2.3.4).

Die in Kapitel 2.1.2 beschriebenen Trends der McDonaldization (vgl. Ritzer 1993) und Disneyization (vgl. Bryman 1999) führen zudem dazu, dass ein dem Image des Arbeitgebers konformes Rollenspiel erwartet wird und die individuelle Authentizität 102 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

der Dienstleistenden nicht mehr erwünscht ist. Die Befolgung der geforderten Hand-lungsskripte führt dazu, eigenes Unwohlsein, Sorgen oder Ärger nicht zeigen zu dür-fen, was eine innere emotionale Dissonanz erzeugen kann (vgl. Birken/Dunkel 2013, 34 ff.; Hochschild 1983). Zudem betont Böhle (vgl. 2003; ders. et al. 2011), dass subjekti-vierendes Arbeitshandeln trotz dieser Objektivierungsbemühungen zur Bewältigung des Unvorhersehbaren unverzichtbar sei (vgl. Kap. 2.3.1). Da es in den formalen Pro-zessen jedoch nicht vorgesehen ist, wird es auch keine Anerkennung erfahren.

Eine extreme Form fehlender Stimmigkeit zwischen der Gesamtpersönlichkeit und der Berufsrolle stellt das Mobbing dar. Mobbing ist die gezielte Vorenthaltung von Anerkennung durch Dritte. Dies manifestiert sich in Verhaltensmustern, welche die gemobbte Person entwürdigen und ausgrenzen. Da eine stimmige Identität Anerken-nung durch das soziale Umfeld voraussetzt, führt Mobbing zu Selbstzweifeln und damit zu einer Identitätskrise (vgl. Gross 2005).

3.1.2.2 Konflikte zwischen Kundschaft und Dienstleistenden

Auch die Ziele der Kund/-innen und der Dienstleistenden haben eine grundsätzlich widersprüchliche und paradoxe Natur (vgl. Birken 2012, 5; Voswinkel/Korzekwa 2005, 52 ff.). Die dienstleistende Person verfolgt einen Erwerbszweck, der mit einem be-grenzten Aufwand erzielt werden soll. Beschäftigte haben daher ein Interesse, dass sich Kund/-innen problemlos in die vorgesehenen Geschäftsprozesse einfügen. Diese wünschen hingegen eine möglichst reibungslose Lösung ihres Problems. In einer erzwungenen Ko-Produktion (s. o.) sehen sie nicht zwingend einen Nutzen. Zudem können Sonderwünsche Abweichungen vom normalen Geschäftsprozess erforderlich machen.

Weiteres Konfliktpotenzial beinhaltet die Haltung der Kundschaft den Dienstleis-tenden gegenüber. Ein geringes Sozialprestige des Dienstleistungsberufs und damit ver-bundene geringe Wertschätzung kann sich negativ auf das Selbstwertgefühl der Be-schäftigten auswirken und die Arbeitszufriedenheit beeinträchtigen (vgl. Nerdinger 2011, 44; Voswinkel/Korzekwa 2005, 285 ff.; Birken 2012; Holtgrewe 2003).

Auch der Umgang mit schwierigen Kund/-innen kann zu Konflikten führen (vgl.

Nerdinger 2011, 127 ff.; Voswinkel/Korzekwa 2005, 145 ff.). Die Rolle erfordert es, die Kundenbeziehung unter ökonomischen Aspekten zu beurteilen und bis zu einem ge-wissen Grad Verhalten zu akzeptieren, welches für die Dienstleistenden im privaten Bereich ein Ausschlusskriterium wäre. Ein Beispiel hierfür sind anspruchsvolle, ge-ringschätzige Stammkund/-innen. Dies erfordert, gehegte negative Gefühle wie Er-niedrigung, Wut und Ekel zu regulieren, um ein der Geschäftsbeziehung dienliches Auftreten zeigen zu können.

3.1.2.3 Beziehung Dienstleistungsunternehmen – Kundschaft

Auch widersprüchliche Interessenlagen zwischen Dienstleistungsunternehmen und Kundschaft wirken sich auf die Dienstleistenden aus, da diese das Unternehmen nach außen vertreten. Da die Einzelhandelsbranche die Verfügbarkeit des Personals an der Toleranzschwelle der Kundschaft ausrichtet, muss sich diese weitgehend ohne

perso-Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 103

nelle Unterstützung orientieren (vgl. Kap. 2.1.2). Es soll aber verhindert werden, dass Kund/-innen aus Unzufriedenheit zum Wettbewerber wechseln. Verkaufsaktivitäten werden an Umsatzzielen ausgerichtet, was eine bedarfsgerechte Beratung erschwert (vgl. Voswinkel/Korzekwa 2005, 180 ff.). Durch die dem Dienstleistungskonzept im-manenten Widersprüche verursacht die Geschäftsleitung eine Rollenambiguität, die ihre Angestellten verunsichert (vgl. Nerdinger 2011, 44).

Selbst wenn die Geschäftsleitung eindeutige Prioritäten formuliert, steht das Be-dürfnis der Kundschaft nach persönlicher Ansprache oder individuellem Service die-sen oft entgegen. Es entsteht ein Intrarollenkonflikt bzw. ein Two-Bosses-Dilemma, wel-ches mit dem Dienstleistungsverständnis der Beschäftigten in Einklang zu bringen ist (vgl. Nerdinger 2011, 44; Voswinkel/Korzekwa 2005, 42). Durch die Zentralisierung der Geschäftsprozesse sind die Handlungsspielräume jedoch eingeengt (vgl. Kap. 2.3), sodass die Handlungsoptionen zum Umgang mit dem Dilemma begrenzt sind.

3.1.2.4 Zwischenfazit

An dieser Stelle soll eine erste Antwort auf die Frage gegeben werden, warum es in synchroner Perspektive notwendig ist, berufliche Identitätsarbeit in beruflichen Bil-dungsprozessen zu fördern (Forschungsfrage 3.1). Das weite Spektrum möglicher Konfliktkonstellationen zeigt, dass eine erfolgreiche Wahrnehmung der Berufsrolle ohne die Fähigkeit zur Konfliktbewältigung und die Fähigkeit zum Umgang mit Di-lemmata und Ambiguitäten nicht denkbar ist. Sie kann sogar als ein Kern kaufmänni-scher Beruflichkeit in der interaktiven Dienstleistungsarbeit angesehen werden (vgl.

Baethge 2014). Wenn es Ziel beruflicher Bildung ist, berufliche Handlungskompetenz zu fördern, schließt dies berufliche Identitätsarbeit demnach notwendig ein.

Um beruflich kompetent sein zu können, muss das Ausmaß dieser Identitäts-konflikte in einem ausgewogenen Verhältnis zu den individuellen Bewältigungsmög-lichkeiten der Beschäftigten bleiben. Ist dies nicht der Fall, droht Überforderung.

Dienstleistende können dann ihrem persönlichen Anspruch gegenüber Dritten und sich selbst nicht mehr gerecht werden. Eine Identifikation mit der Berufsrolle wirkt sich dagegen nicht nur positiv auf das Wohlbefinden der Angestellten, sondern auch auf Arbeitsleistung, Kundenzufriedenheit und Betriebsklima aus. Nachfolgend wer-den empirische Befunde zu diesen Zusammenhängen vorgestellt.

3.1.3 Vorteile von Identifikation, Commitment und Engagement

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