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Employability zwischen Selbstausbeutung und -verwirklichung

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.2 Die diachrone Perspektive: berufsbiografische GestaltungGestaltung

3.2.4 Lebenslanges Lernen als Bringschuld

3.2.4.4 Employability zwischen Selbstausbeutung und -verwirklichung

Die Zurückhaltung der deutschsprachigen Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit ihrem Verständnis von Beruflichkeit bietet auf europäischer Ebene Raum für das an-gelsächsische Konzept der Employability. Dieses ist vor dem Hintergrund der Bil-dungsidee immer wieder Gegenstand massiver Kritik (vgl. Alheit 2009; Rothe 2011, 40 ff.; 2009; Kraus 2001, 50 ff.; Dietsche/Meyer 2004, 10 ff.; Hendrich 2005; Billett 2001;

Büchter 2019, 13 f.; Kutscha 2019). Im Zentrum steht in unterschiedlicher Nuancie-rung die ökonomische Verkürzung beruflicher Bildung auf die Beschäftigungsfähig-keit und die damit verbundene Verantwortungszuweisung an die Individuen (vgl.

Alheit 2009; Rothe 2009). Backes-Haase/Klinkisch (2015, 15 f.) konstatieren, dass im-plizit eine Interessenharmonie im europäischen Diskurs um kompetenzorientierte Förderung der Beschäftigungsfähigkeit (Employability) vorausgesetzt werde. Der aus der Teilhabe am Erwerbsleben resultierende ökonomische Wohlstand werde mit sub-jektivem Wohlergehen gleichgesetzt. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) ist ausdrücklich nicht als Kompetenzrahmen zu verstehen (vgl. Europäische Kommis-sion 2008, 6). Ziel ist, die Mobilität innerhalb Europas zu fördern. Hier liegt ein auf den Erwerbszweck beschränktes Verwertungsinteresse vor.

Hierfür gibt es neben dem in Kapitel 2 dargestellten Trend zur Ökonomisierung zwei weitere Gründe: Erstens hat die englische Sprache kein dem deutschen Bil-dungsbegriff vergleichbares Konzept. Stattdessen wird der Begriff education verwen-det, der dafür steht, einen jungen Menschen aus der Kindheit herauszuführen.

Zwei-Die diachrone Perspektive: berufsbiografische Gestaltung 159

tens gibt es im angelsächsischen Bereich das Berufsprinzip als berufsbildungspoliti-sches Ordnungsprinzip nicht. Hier dominiert ein Verständnis von Arbeit als job, der primär dem Erwerbszweck dient (vgl. Faulstich 2015; Beck/Brater 1977, 42 ff.). Dies führt zu unterschiedlichen Verständnissen des deutschen Begriffs Kompetenz und der angelsächsischen Begriffe competence und competency (vgl. Kap. 1.4.3). Im DQR wird der Kompetenzbegriff in einem deutlich breiteren Verständnis als im EQR verwendet, um die Qualifikationsniveaus zu beschreiben. Dabei differenziert er in Fachkompe-tenz (unterteilt in Wissen und Fertigkeiten) und PersonalkompeFachkompe-tenz (unterteilt in So-zialkompetenz und Selbstständigkeit) aus (vgl. BIBB 2014, 2016). Trotz dieses umfas-senderen Kompetenzverständnisses ist eine emanzipatorische und kritisch-reflexive Zielsetzung, wie sie noch beim Deutschen Bildungsrat zum Ausdruck kam, nicht aus-zumachen (vgl. Dehnbostel/Ness/Overwien 2009, 57; Büchter 2019, 11 ff.).

Greinert (2008) kritisiert, dass das Employability-Konzept subjektorientierte Ziel-dimensionen konsequent ausblende. Empirische Studien stützen diesen Vorwurf.

Grund für die Bemühungen in Deutschland zur Intensivierung der beruflichen Wei-terbildung (vgl. Kap. 3.2.4.2) waren empirische Erkenntnisse über eine unbefriedi-gende Weiterbildungsbereitschaft Erwerbstätiger, u. a. eine Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) im Auftrag des BMBF (vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 2004). Von der Gesamtheit der Befragten einschließlich der höher Qualifi-zierten zeigte nur ein Viertel ein ausgeprägtes Interesse an der Weiterentwicklung eigener Kompetenzen (vgl. ebd., 51 ff.). Gerade jene Bevölkerungsgruppen, deren Beschäftigungsfähigkeit durch unzureichende Qualifikation bedroht ist, zeigten eine geringe Weiterbildungsneigung und -fähigkeit und verfügten über geringe Lernkom-petenzen (vgl. ebd., 39, 70 ff.). Die Studie hob zudem hervor, dass höhere formale Bil-dungsabschlüsse zwar zu einer höheren Weiterbildungsbereitschaft führten, dieser anfängliche Rückstand geringer Qualifizierter aber durch spätere nonformale Lern-gelegenheiten – z. B. in Form lernförderlicher Arbeitsbedingungen – kompensiert werden könne (vgl. ebd., 62 ff., 82 ff.; Achtenhagen/Lempert 2000, 13, 16 f.). Dies ist bemerkenswert, da arbeitsbegleitendes Lernen von Beschäftigten als besonders lern-intensiv wahrgenommen wird und starke Zusammenhänge zwischen einer lernför-derlichen Arbeitsgestaltung und vorhandenen Lernkompetenzen festgestellt werden konnten (vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 2004, 41 ff., 82 ff.). Auch Bolder/Hendrich (2000) stellten in qualitativen Studien mit Weiterbildungsabstinenten fest, dass die Befragten formale (teils verpflichtende) Weiterbildungsangebote als wenig nutzbrin-gend bewerten und Weiterbildungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz bevorzugen. Hier-bei ist zu bedenken, dass individuelle Lernchancen am ArHier-beitsplatz maßgeblich durch Entscheidungen des Managements bestimmt werden (vgl. Lotter 2015; Billett 2001) und gerade gering Qualifizierte und Arbeitslose diesbezüglich doppelt benach-teiligt sind (vgl. Bolder/Hendrich 2000, 81 f.). Baethge/Baethge-Kinsky (2004, 54 ff.) kommen zu dem Ergebnis, dass nicht finanzielle Aspekte oder fehlende Informatio-nen der Hauptgrund für die geringe Weiterbildungsneigung in Deutschland seien, sondern eher fehlende berufliche Perspektiven und familiäre Verpflichtungen (vgl.

Walter/Müller 2014; Klement/Schaeper/Witzel 2004). Eine Studie des IAB (Osiander/

160 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Stephan 2018) resümiert, dass Erwerbstätige sich vor allem dann weiterbilden, wenn Investitionen in Zeit und Geld vom Arbeitgeber übernommen werden und im An-schluss konkrete Vorteile zu erwarten sind. Die Ergebnisse der zitierten deutschen Studien konnten in einer Studie des European Centre for the Development of Voca-tional Training (Cedefop) auf europäischer Ebene weitgehend repliziert werden. Es plädiert daher für arbeitsplatznahe Weiterbildungsangebote mit unmittelbarem Nut-zen für die Betroffenen. Wichtig sei hierbei, die Selbstbestimmung der Lernenden zu respektieren und die individuelle Lebenslage und Wünsche zu berücksichtigen (vgl.

Abb. 48; Cedefop 2016, 13 f.) Angesichts der genannten Befunde erscheint die Stoß-richtung der Bundesregierung wenig Erfolg versprechend, da sie wesentliche Ursa-chen für die geringe Weiterbildungsaktivität ignoriert und weiterhin auf finanzielle Anreize, Appelle und institutionelle Rahmung setzt (vgl. Walter/Müller 2014).

Hinderungsgründe für die Teilnahmen an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, 2011 (in %) Quelle: Eurostat 2017 (trng_aes_176)

Ein weiteres Indiz für die Ausblendung subjektorientierter Zieldimensionen sind normative Kataloge für personale Kompetenzen. Ein Beispiel hierfür ist die Ausbil-dungsreife – ein auf Expertenbefragung beruhendes Anforderungspaket, welches die Bundesagentur für Arbeit (2009) stellvertretend für die Ausbildungsbetriebe an poten-zielle Auszubildende und das Bildungssystem richtet (vgl. Prandini 2001, 78; KMK 2004/2016; Reetz/Kuhlmeier 2013a). Hier kommt ein Interesse an ökonomischer

Ver-Abbildung 48:

Die diachrone Perspektive: berufsbiografische Gestaltung 161

wertbarkeit zum Ausdruck, wie sie gemäß der Bildungsidee über Persönlichkeitsent-wicklung gerade verhindert werden soll (vgl. Kap. 1.4.2). Mangels einer Instanz, die in einer pluralen Gesellschaft legitimiert wäre, wünschenswerte Persönlichkeitsmerk-male festzulegen, können nur solche Einwirkungen als legitim angesehen werden, welche der Einhaltung rechtlich kodifizierter Wertmaßstäbe wie Religionsfreiheit oder der Wahrung der Persönlichkeitsrechte anderer dienen (vgl. Biela 2014, 134 ff.).

Dieser kleinste gemeinsame Nenner wird aber in aller Regel nicht reichen, eine Teil-habe am Beschäftigungssystem zu ermöglichen. Es gibt eine Schulpflicht, aber keine Pflicht, aktiv im Unterricht mitzuarbeiten und Lernangebote zu nutzen.

Die Ausführungen zu den Rahmenbedingungen im Einzelhandel in Kapitel 2 haben zudem gezeigt, dass einer Anpassungsstrategie im Sinne des Employability-Konzepts durch die physische und psychische Belastbarkeit von Beschäftigten klare Grenzen gesetzt sind. Interessengleichheit von Erwerbstätigen und Arbeitgebern ist wegen der zunehmenden Externalisierung des Transformationsproblems häufig nicht gegeben (vgl. Kap. 2.3 und 3.1.2). Auch Lösungen für große gesellschaftliche Probleme wie Ressourcenknappheit, Klimawandel, Hungersnöte, Pandemien etc.

sind durch Individuallösungen im Sinne des Employability-Konzepts nicht zu erwar-ten. Der Aktionsrat Bildung (vgl. Blossfeld et al. 2015) weist in seinem Gutachten darauf hin, dass ein erhebliches Defizit in Hinblick auf Persönlichkeitsentwicklung entstanden sei und liefert wissenschaftliche Evidenz für ein enges positives Wechsel-wirkungsverhältnis zwischen Persönlichkeit und fachlicher Kompetenzentwicklung (vgl. ebd., 37 ff.; ebenso Kap. 3.1.3). Diese Koinzidenz ökonomischer und pädagogi-scher Vernunft (vgl. Achtenhagen/Bendorf 2005; Heid 1999) darf aber nicht mit einer Interessenharmonie verwechselt werden. Eine Auflösung der skizzierten Spannungs-felder ist in einem ökonomisierten Umfeld nicht zu erwarten. Der Grat zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung bleibt für die Erwerbstätigen sehr schmal. Letztlich ist diese Balance immer von jedem Einzelnen zu erbringen. Die Befähigung hierzu ist vom formalen Bildungssystem einschließlich der beruflichen Bildung zu leisten.

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