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Berücksichtigung des Persönlichkeitsprinzips

Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

4.5 Das Curriculum für den Einzelhandel in Hamburg

4.5.2 Berücksichtigung des Persönlichkeitsprinzips

Die Entwicklungsaufgabe Kompetenz, welche im Fokus der KMK-Zielformulierung steht, wird über die Kompetenzdimensionen Rechtliche Normierung, Betriebswirtschaft-liche Problemebenen, Wertschöpfung/Controlling sowie Lern- und Arbeitstechniken abge-deckt. Die Entwicklungsaufgabe Anerkennung wird in den Kompetenzdimensionen Das System Unternehmung und Kommunikation und Kooperation (vgl. Abb. 53) themati-siert. Diese Aspekte stellen zugleich aber auch eine berufsspezifische Fachkompetenz dar (vgl. Seeber/Wittmann 2017).

194 Die Vernachlässigung der Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

Kompetenzdimensionen und Entwicklungsaufgaben im EvaNet-EH-Curriculum (eigene Dar-stellung in Anlehnung an Cohn [1975] und Lotz [2012])

Die Entwicklungsaufgaben Identifikation und Gestaltung werden im Hamburger Ein-zelhandelscurriculum durch die Kompetenzdimension Beruflichkeit abgedeckt (vgl.

Abb. 53). Ihre Leitidee lautet:

„Im Mittelpunkt dieser Kompetenzdimension steht das Verständnis und die Motivation für die aktive, eigenverantwortliche, zielgerichtete und erfolgreiche Gestaltung des eige-nen Berufslebens. Die Schülerineige-nen und Schüler entwickeln zum eieige-nen eine positive Ein-stellung zu ihrem Beruf, zu den Anforderungen, die an sie gestellt werden, und lernen mit typischen ethischen/moralischen Problemen umzugehen. Zum anderen werden die Schüler darin gefördert, ihre eigenen Stärken und Schwächen kennenzulernen, diese aus-bzw. abzubauen, sich ein individuelles Kompetenzprofil anzulegen und dementspre-chende berufliche Ziele zu setzen.“ (Tramm/Hofmeister/Derner 2009, 51)

Hier wird die Notwendigkeit synchroner und diachroner Identitätsarbeit deutlich an-gesprochen. In synchroner Perspektive wird die Identifikation mit dem Beruf (vgl.

Kap. 3.1.3) sowie die Entwicklung eines Berufsethos angestrebt, in diachroner Per-spektive berufsbiografische Gestaltungskompetenz. Das komplexe Ziel wird in vier Subdimensionen ausdifferenziert.

Die Subdimension Berufsethos deckt die persönliche Wertorientierung ab. Sie intendiert die Förderung moralischen Urteilsvermögens – nicht die Vermittlung mo-ralischer Prinzipien. Hierbei werden Normen, über die bereits ein kodifizierter gesell-schaftlicher Konsens besteht, als gesetzt unterstellt. Im Rahmen des EvaNet-EH-Pro-jektes haben sich die Beteiligten übereinstimmend auf eine normative Leitidee geeinigt:

„Den Schülern sind moralische Konflikte zugänglich. Sie können Konflikte erkennen, dif-ferierende Interessen wahrnehmen, diese abwägen und verantwortlich Position beziehen.

Zur Beurteilung moralischer Konflikte können sie eigene Interessen, Interessen des di-Abbildung 53:

Das Curriculum für den Einzelhandel in Hamburg 195

rekten Gegenübers, Interessen aller beteiligten Personen, Gesetze, die Legitimität von Ge-setzen und universelle moralische Prinzipien (i. S. Kohlbergs) berücksichtigen. Je mehr der genannten Aspekte berücksichtigt werden, desto komplexer ist die Argumentation, auch wenn für die Positionsfindung schließlich einige Aspekte bewusst ausgeblendet wer-den (soll heißen, der Schüler ist sich zwar bewusst, dass etwas z. B. nicht wer-den höchsten moralischen Prinzipien gerecht wird, bezieht aber zu Gunsten der Interessen der Beteilig-ten Stellung). Das Ziel in dieser KompeBeteilig-tenzdimension ist nicht die Vermittlung mo-ralischer Prinzipien, sondern die Förderung momo-ralischer Urteilsbildung in zunehmender Tiefe.“ (Tramm/Hofmeister/Derner 2009, 51)

Das für kaufmännische Dienstleistungsarbeit typische Rollenhandeln (vgl. Kap. 3.1.1) wird als wesentlicher Aspekt beruflicher Handlungskompetenz in der Kompetenz-dimension Identität und Berufsrolle adressiert. Die Lernenden sollen zwischen ihrer Person und unterschiedlichen Rollen unterscheiden lernen. Die Leitidee lautet:

„Mit dem Eintritt in die Berufsausbildung müssen die Auszubildenden unterschiedlichen neuen Rollenanforderungen gerecht werden. Sie sind Auszubildende, d. h. sie lernen und sammeln Erfahrungen, sie sind Arbeitnehmer mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten, die sie kennen und übernehmen. Als Verkäufer führen sie Kaufabschlüsse her-bei und als Unternehmensvertreter sind sie in der Lage ihren Ausbildungsbetrieb zu re-präsentieren. In allen Fällen können die Schüler ihre Rollen verstehen und angemessen einnehmen, sich aber auch, falls notwendig, von ihnen distanzieren. Die Schüler erken-nen und reflektieren den eigeerken-nen sozialen Status als Kauffrau/Kaufmann im Einzelhan-del und die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen zukommt. Sie verfügen über posi-tive Leitbilder, können die eigene Berufsausübung wertschätzen und sich selbstbewusst präsentieren.“ (Tramm/Hofmeister/Derner 2009, 54)

Hier wird anders als in der KMK-Zielformulierung keine Anpassungsleistung erwar-tet, sondern ein flexibles Rollenhandeln in balancierender Identität (vgl. Tramm 1996, 23). Mögliche Rollenkonflikte (vgl. Kap. 3.1.2) werden in der Subdimension Gesund-heitsförderung thematisiert. Hierbei sollen individuell authentische Formen der Ba-lance zwischen lebensweltlichen Ansprüchen und ökonomischen Zielsetzungen ge-funden und psychische Abwehrmechanismen – insbesondere Ambiguitätstoleranz (vgl. Krappmann 1975, 150) – gefördert werden. Die Leitidee lautet:

„Um ihren Beruf qualifiziert und zufrieden ausüben zu können, fördern die Schüler aktiv die eigene physische und psychische Gesundheit. Sie können hohes Arbeitsengagement mit dem eigenen Wohlbefinden in Einklang bringen. Dazu gehört zum einen, dass sie aktiv zur Gesundheitsförderung beitragen (dies kann zum Beispiel das Betriebsklima, aber auch die Arbeitsplatzgestaltung betreffen). Zum anderen erkennen und beheben sie der Gesundheit schadende Gegebenheiten. Die Auszubildenden tragen für sich selbst Sorge, indem sie ihre Tätigkeit so gestalten, dass sie weder körperlich noch seelisch in Mitleidenschaft gezogen werden.“(Tramm/Hofmeister/Derner 2009, http://evane teh.ibwhh.de/index.php/curriculare-ergebnisse/kompetenzmatrix/7-be3-gesundheits foerderung.html (11.04.2021))

Hier wird eine aktive, gestaltende Selbstfürsorge postuliert. Dass hierfür eine drin-gende Notwendigkeit besteht, wurde im Kapitel 3.1 bereits dargelegt.

196 Die Vernachlässigung der Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

In der Subdimension Berufsbildung und -perspektiven wird die Verkäuferrolle in Hinblick auf die Entwicklung beruflicher Perspektiven thematisiert:

„Damit sie ihr zukünftiges Berufsleben eigenverantwortlich und zielgerichtet gestalten können, kennen die Schüler ihre beruflichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und setzen sich diesbezüglich realistische Ziele. Sie können die eigenen Kompetenzen ein-schätzen, beurteilen, weiterentwickeln und überzeugend darstellen. Sie verstehen die Ausbildungszeit als eine Phase, die ihnen erlaubt, sich intensiv auf das Erwerbsleben vorzubereiten.“ (Tramm/Hofmeister/Derner 2009, http://evaneteh.ibwhh.de/index.php/

curriculare-ergebnisse/kompetenzmatrix/8-be4-berufsbildung-und-perspektiven.html (11.04.2021))

Flankiert wird die Kompetenzdimension Beruflichkeit von der Kompetenzdimension Kommunikation und Kooperation, über die die Entwicklung notwendiger sozialer Kom-petenzen vorgesehen ist:

„Die Schüler können adressaten- und situationsangemessen kommunizieren und dabei sowohl die Sach- als auch die Beziehungsebene berücksichtigen. Sie erkennen die Motive ihres Gesprächspartners und können diese wertschätzen, sie können aber auch den eige-nen Standpunkt vertreten. In Kommunikationssituatioeige-nen köneige-nen sie die Meinungen ihres Gegenübers akzeptieren, sind sich ihrer eigenen Rolle bewusst und können Kritik annehmen. Sie können kooperativ und konstruktiv auf Gesprächssituationen einwirken sowie Konflikte erkennen und kommunikativ bewältigen.“ (Tramm/Hofmeister/Derner 2009, http://evaneteh.ibwhh.de/index.php/curriculare-ergebnisse/vertikale-kompetenzen/

16/9-koko-kommunikation-und-kooperation.html (11.04.2021))

Alle fünf in Kapitel 1.4.5 genannten Aspekte von Identitätsarbeit sind demnach be-rücksichtigt. Zugleich wird bereits ein Lösungsansatz für den Umgang mit normati-ven Orientierungen entwickelt. Das Prinzip der Arbeits- und Prozessorientierung zur Umsetzung des Situationsprinzips wird jedoch beibehalten. Hierdurch bleiben die Schwächen dieses Ansatzes bestehen und die offenen Fragen hinsichtlich der Indivi-dualisierung der Lernprozesse bleiben unbeantwortet. Im nächsten Schritt wird un-tersucht, ob sich diese theoretisch erarbeiteten Ansprüche und Kritikpunkte aus Sicht der Beteiligten in der Berufsbildungspraxis empirisch bestätigen.

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