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Die Bedeutung von Anerkennung für Identifikation und Identität

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.5 Der Kampf um Anerkennung im Einzelhandel

3.1.5.1 Die Bedeutung von Anerkennung für Identifikation und Identität

Eine Studie des BIBB zur Qualität der Ausbildung aus Sicht der Auszubildenden (vgl.

Ebbinghaus/Krewerth 2010; Ebbinghaus/Krewerth/Loter 2010; Krewerth 2010) stützt die Einschätzung, dass die Entwicklung beruflicher Identität einer besonderen Förde-rung durch berufliche Schulen bedarf. Sie zeigt, dass ca. 1/3 der Auszubildenden im Verlauf der Ausbildung schwerwiegende Konflikte – meist mit Vorgesetzten – zu lö-sen haben (vgl. Abb. 37). Diese sind aus identitätstheoretischer Sicht Situationen mit erheblichem Entwicklungspotenzial im Falle einer positiven Bewältigung. Ca. 2/3 der betroffenen Auszubildenden suchen Rat, um diese Konflikte zu lösen. Wiederum in 2/3 der Fälle wenden sich die jungen Menschen an Freunde und/oder die Familie.

Wenn sie professionelle Unterstützung annehmen, suchen sie diese in 1/3 der Fälle bei Kolleg/-innen oder Ausbilder/-innen, aber nur in 15 % der Fälle bei der Berufs-schule. Diese Häufigkeit ist etwa gleichauf mit der Konsultation von Ausbildungsbe-ratern der Kammern oder Ärzten und Psychologen, obwohl ein regelmäßiger Kontakt zwischen Lehrkräften und Auszubildenden besteht (vgl. Abb. 38). Berufliche Schulen werden offenbar nicht immer als kompetente Ansprechpartner für identitätsrelevante Themen wahrgenommen.

124 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Anteil der Auszubildenden, welche schwerwiegende Konflikte erleben (Krewerth 2010, 11)

Anteil der Auszubildenden, welche Hilfe bei anderen Personen suchen (Krewerth 2010, 16)

Konflikte stellen immer auch einen Kampf um Anerkennung dar (vgl. Honneth 2014).

Anerkennung ist ein kognitiver Prozess, welcher in sozialer Interaktion zwischen zwei Beteiligten stattfindet. Hierbei gibt eine Person über einen Aspekt der anderen Person – z. B. eine Leistung, einen Rechtsanspruch, eine Eigenschaft – eine

Bewer-Abbildung 37:

Abbildung 38:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 125

tung ab – z. B. in Form eines Lobs, einer Entlohnung, eines Lächelns, aber auch von Kritik. Hierdurch erhält die Person eine Rückmeldung über sich selbst, was Voraus-setzung für die Entstehung von Identität ist (vgl. Baruch/Cohen 2007, 254). Soziale Konflikte deuten auf Kohärenzdefizite zwischen innerer und äußerer Realität der be-teiligten Personen hin und stellen damit Identitätskonflikte dar. In dem Maße, wie eine Person ihre innere Realität zur Geltung bringen möchte, ist sie – um Kohärenz herstellen zu können – auf deren Anerkennung durch ihr soziales Umfeld angewie-sen. Unterbleibt die Anerkennung, muss diese in Konflikten eingefordert werden (vgl. Sichler 2010, 4 ff.). Eine Person kann sich aber auch selbst aufgrund ihrer vorhan-denen Identität trotz unterlassener Wertschätzung Anerkennung zollen (vgl. ebd., 29 ff.).

Die wünschenswerte Identifikation mit Arbeit, Beruf und Unternehmen (vgl.

Kap. 3.1.3) ist nur möglich, wenn dies gelingt (vgl. Holtgrewe 2003, 212; Baethge 2014).

Anderenfalls ist das innere Kohärenzerleben empfindlich gestört, was psychische Be-schwerden nach sich zieht (vgl. Kap. 3.1.6). Auch das Bedürfnis nach sozialer Verbun-denheit (vgl. Deci/Ryan 1993; Kap. 3.1.4.1) kann nur befriedigt werden, wenn eine wechselseitige Anerkennung der Beteiligten erfolgt.

Holtgrewe (2003) beschreibt am Beispiel zweier Citibank-Callcenter die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Anerkennungs- und Missachtungsverhältnisse im Dienstleistungsgeschäft. Diese multiplizieren sich durch divergierende Interessen in der Dienstleistungstriade (vgl. Kap. 3.1.2). Durch die technisch vorstrukturierten stan-dardisierten Arbeitsabläufe im Callcenter erfahren Kund/-innen die Missachtung ihrer individuellen Anliegen, für die wiederum Callcenter-Angestellte stellvertretend für das Unternehmen Kritik erfahren. Die Arbeitsprozesse stehen in einem dilemma-tischen Verhältnis zur Forderung der Unternehmensleitung, dem Anspruch der Be-legschaft und der Kundenerwartung, individuelle Problemlösungen zu erarbeiten.

Durch die niedrige hierarchische Stellung der Beschäftigten unterbleibt eine Würdi-gung ihrer zentralen Bedeutung für den Unternehmenserfolg. Dabei bewegen sich die Anerkennungsmechanismen auf unterschiedlichen qualitativen Niveaus. Hon-neth (2014) unterscheidet drei Typen von Anerkennung:

Liebe: Diese Form der Anerkennung wird vorrangig in Familie und Partnerschaft praktiziert. Sie ist in dem Sinne bedingungslos, als sie nicht an bestimmte Leistungen gebunden ist. Sie verleiht Menschen „ein grundlegendes Selbstvertrauen in die Au-thentizität und Legitimität ihrer Bedürfnisse und Gefühle“ (Holtgrewe 2003, 212).

Recht: Diese Anerkennungsform verleiht Individuen legitime Ansprüche an die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Sie basiert auf einer wechselseitigen Achtung dieser Rechte.

Solidarität: Sie knüpft Anerkennung auf Basis einer Werte- und Solidargemein-schaft an einen – den jeweiligen Möglichkeiten der Individuen angemessenen – Bei-trag zu den Zielen der Gesellschaft. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist das Leis-tungsprinzip von herausragender Bedeutung. Ein geringes Sozialprestige eines Berufs und eine niedrige Entlohnung deuten darauf hin, dass der Wert des Beitrags einer Tätigkeit gering eingestuft wird (vgl. Sichler 2010, 20 ff.).

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Holtgrewe (2003, 213 ff.) macht darauf aufmerksam, dass dennoch alle drei der Anerkennungsformen eine Rolle spielen. So appelliert der Versuch, Kund/-innen zur Identifikation mit dem Dienstleistungsunternehmen zu animieren, an die Anerken-nungsform Liebe. Auch in der direkten Beziehung zwischen Kund/-in und Mitarbei-ter/-in kann diese aufgrund wechselseitiger Sympathie oder gemeinsamer Interessen eine Rolle spielen. Beschäftigte haben darüber hinaus in Abhängigkeit von ihrem Sta-tus gewisse Rechte – wie z. B. Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall –, welche in Anerkennungskämpfen errungen wurden. Diese würdigen einerseits die tägliche Mühe für langfristige Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, basieren ande-rerseits auch auf der Idee des Solidarprinzips. Holtgrewe (2003) betont zudem, dass (ent)subjektivierte und entgrenzte Arbeitsbedingungen den Beschäftigten auch neu-artige Handlungsoptionen zur Wahrung der eigenen Subjektivität eröffnen. Im Ar-beitskampf um die Schließung des besagten Callcenters hatten Beschäftigte ein neues Unternehmen eröffnet und sich nicht mit Streiks und Abfindungen begnügt. Dies war ihnen allerdings nur aufgrund von außerberuflich erworbenen Kompetenzen möglich.

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