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Individuelle Entwicklungskonstellationen

Belastungsprobe für die berufliche Identität der Beschäftigten im Einzelhandel

2.4 Auswirkungen auf die Auszubildenden im Einzelhandel

2.4.2 Entwicklungsaufgaben während der Berufsausbildung

2.4.2.4 Individuelle Entwicklungskonstellationen

Die Einzelfallanalysen offenbaren, dass sich hinter diesen Gemeinsamkeiten sehr unterschiedliche Konstellationen der Entwicklungsaufgaben verbergen. Diese kön-nen im Modell der Themenzentrierten Interaktion visualisiert werden (vgl. Abb. 23;

Kap. 2.4.2.1). Entlang der Schenkel des Dreiecks können drei Entwicklungsaufgaben verortet werden: Einerseits gilt es, das Verhältnis zwischen Beruf und der Person zu bestimmen: hier geht es um die Identifikation (= subjektiver Sinn) mit dem zu erler-nenden Beruf (vgl. Kap. 3.1.3). Des Weiteren gilt es im Verhältnis zwischen ICH und WIR, im Beruf Anerkennung durch die dort handelnden Akteur/-innen zu gewinnen (vgl. Kap. 3.1.5). Hierzu ist diesen Personen Kompetenz durch die Übernahme der Be-rufsrolle nachzuweisen (vgl. Kap. 3.1.2). Üblicherweise wird im TZI-Dreieck der die Umwelt darstellende GLOBE als feste Größe angenommen. Mit Bezug auf Giddens (1984/2017, 1991; vgl. Kap. 6.2.2.3) wird hier jedoch unterstellt, dass er durch das Han-deln der Akteur/-innen veränderbar ist, sodass das berufliche Profil als individuelles reflexives Projekt gestaltet werden kann. Die Entwicklungsaufgabe, die Möglichkeit

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zur Veränderung der Umwelt zu erkennen und wahrzunehmen, wird im Modell Ge-staltung genannt. Wie sich diese Entwicklungsaufgaben zueinander verhalten kön-nen, wird nun anhand dreier Beispiele skizziert. Die Ausführungen beziehen sich auf die Ausgangslage im Erstgespräch.

Entwicklungsaufgaben in beruflichen Bildungsgängen (eigene Darstellung in Anlehnung an Cohn 1975 und Lotz 2012)

Ciara (vgl. Abb. 24) ist direkt nach der Schule ohne besondere Vorerfahrungen in die Ausbildung eingetreten. Bei der Berufswahl verließ sie sich auf Empfehlungen Drit-ter. Sie nimmt den Beruf als außerordentlich anspruchsvoll wahr. Die fachlichen An-forderungen kann sie mit dem Ausbildungsstand entsprechender Unterstützung meistens erfüllen. Besonderen Wert legt sie auf kritisch-konstruktives Feedback. Von der Kundschaft erhält sie viel Anerkennung für ihr einfühlsames Verhalten. Sie selbst nimmt sich jedoch überhaupt nicht als kontaktfreudig wahr. Hinsichtlich der meisten Selbstkonzeptskalen schätzt sie sich extrem schlecht ein, bezüglich der emotionalen Kompetenz dagegen überdurchschnittlich. Ciara leidet unter der großen Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild und kann sich diese nicht erklären. Sie fühlt sich im Vergleich zu anderen Auszubildenden sehr unerfahren. Daher schätzt sie die struktu-rierte Ausbildungsorganisation ihres Betriebes, ohne die sie sich die Ausbildung nicht zutrauen würde. Zu ihren beruflichen Zielen und Wünschen hat sie keine konkrete Vorstellung und möchte wie bisher auf Empfehlungen Dritter vertrauen. In der Bio-grafie lassen sich deutliche Hinweise auf mögliche Ursachen für Ciaras Entfremdung finden, jedoch scheint sie hier keine Zusammenhänge zu erkennen.

Abbildung 23:

Auswirkungen auf die Auszubildenden im Einzelhandel 91

Ciaras Entwicklungsaufgaben

Hinter Ciaras unauffälliger sympathischer Erscheinung verbergen sich schwerwie-gende Entwicklungsaufgaben: Sie hat keinen Zugang zu sich selbst und kann daher nicht für sich einstehen und auch keine Gestaltungspläne für die eigene Berufsbio-grafie entwickeln (rot gekennzeichnete Entwicklungsaufgaben). Sie ist auf ein wohl-wollendes Umfeld angewiesen. Dies ist in der modernen Arbeitswelt jedoch – wie sie selbst durch Vergleich mit anderen Ausbildungsbetrieben feststellt – alles andere als selbstverständlich. Die Schule ist durch soziale Vergleiche mit anderen Lernenden, die Multiperspektivität und Feedbackstrukturen eine entwicklungsförderliche Umge-bung.

Ahmet (vgl. Abb. 25) wurde mit seiner Handlungsproblematik bereits in Kap. 2.4.2.3 vorgestellt. Er kann sich mit seiner Ausbildung an der Tankstelle überra-schend gut identifizieren, da sie ihm ermöglicht, nach dem lebenslangen Beziehen von Sozialleistungen erstmals sein eigenes Geld zu verdienen. Er sieht in seiner Ausbil-dung eine gute Basis für seine weitere persönliche Entwicklung (Gestaltung) bis hin zu einem Studium. Seine Selbsteinschätzungen hinsichtlich wichtiger für Identitäts-arbeit relevanter Fähigkeiten liegen im Mittelfeld. Nur bezüglich seiner Problemlöse-fähigkeit sieht er Entwicklungsbedarf. Die Selbsteinschätzung erscheint vor dem Hin-tergrund seiner Schilderungen zutreffend. Ein aus Sicht einer Lehrkraft eher proble-matischer Schüler ist hinsichtlich seiner Identitätsbalance gut aufgestellt und folglich trotz großer Herausforderungen zufrieden und ehrgeizig. Durch gezielte Unterstüt-zung bezüglich der Entwicklungsaufgabe Anerkennung könnte Ahmets Ausbildungs-situation erheblich verbessert werden, indem er mit entwicklungsförderlicheren Auf-gaben betreut wird (Kompetenz).

Abbildung 24:

92 Subjektivierung und Entgrenzung

Ahmets Entwicklungsaufgaben

Alina (vgl. Abb. 26) hat vor der Ausbildung drei Jahre lang studiert und ist bereits Mitte zwanzig. Sie ist eine sehr gute Schülerin. Auch von ihrem Ausbilder erhält sie viel Anerkennung. Mit ihrem Ausbildungsbetrieb ist sie wegen der strukturierten Or-ganisation hoch zufrieden. Auch das private Umfeld ist harmonisch. Sie schätzt sich hinsichtlich der identitätsrelevanten Fähigkeiten durchweg positiv ein, was vor dem Hintergrund ihrer Schilderungen plausibel erscheint. Auffällig ist, dass die Verkaufs-tätigkeit in ihrer Erzählung von untergeordneter Bedeutung ist und sie vorrangig die Rahmenbedingungen thematisiert. Aufgrund der betrieblichen Ausbildungsstruktu-ren hat sie noch keine selbstständigen Kundengespräche fühAusbildungsstruktu-ren müssen. Den be-trieblichen „Welpenschutz“ wertschätzt sie, da sie das vorangegangene Studium als sehr unstrukturiert erlebt hat. Hauptmotiv für den Wechsel in die Ausbildung war die Erkenntnis, dass ihr Studienfach mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Freiberuf-lichkeit hinausgelaufen wäre, was sie wegen ihres Sicherheitsbedürfnisses ausdrück-lich ablehnt. Gleichwohl empfindet sie die Rolle als Auszubildende gegenüber ihren jüngeren Kolleg/-innen als unangenehm.

Abbildung 25:

Auswirkungen auf die Auszubildenden im Einzelhandel 93

Alinas Entwicklungsaufgaben

Alina sucht nach Nischen, in denen sie von den Bedingungen der modernen Arbeits-welt verschont bleibt. Angesichts des dynamischen Wandels ist jedoch damit zu rech-nen, dass sie früher oder später wieder damit konfrontiert wird. Zur Förderung ihrer Resilienz müsste ihr Gelegenheit gegeben werden, Herausforderungen (ggf. auch mit Unterstützung) zu bewältigen und ihnen nicht nur auszuweichen (vgl. Nöker/Peter-mann 2008; Wunsch 2013, 99 ff.; WustNöker/Peter-mann 2005).

An den drei Beispielen zeigt sich, dass bestimmte persönliche Schlüsselpro-bleme vorliegen, welche die weitere Entwicklung erheblich hemmen können. Im Falle einer Lösung dieser Schlüsselprobleme erscheinen im Umkehrschluss erhebliche Entwicklungsschübe wahrscheinlich (vgl. Kap. 6.2.3.1).

2.5 Fazit: keine berufliche Handlungskompetenz ohne

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