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Entgrenzungsphänomene als Ressource und Quelle von Belastung Die dargestellten Umstrukturierungen führen für die Erwerbstätigen in mehrfacher

Belastungsprobe für die berufliche Identität der Beschäftigten im Einzelhandel

2.3 Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Beschäftigten im Einzelhandelim Einzelhandel

2.3.3 Entgrenzungsphänomene als Ressource und Quelle von Belastung Die dargestellten Umstrukturierungen führen für die Erwerbstätigen in mehrfacher

Hinsicht zu Entgrenzungsphänomenen (vgl. Krotz 2017, 30 f.; Unger 2007, 145 f.; Sen-nett 2000).

Durch die Heterogenität der Qualifikationsprofile ist mit der Benennung eines Berufes keineswegs eindeutig geklärt, worin die Tätigkeit eines Beschäftigten besteht.

Darüber hinaus sind in zunehmendem Maße Kompetenzen erforderlich, welche es ermöglichen, über das eigene Berufsfeld hinaus zu kooperieren, wie z. B. System-und Prozesswissen oder kommunikative Kompetenzen (vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 1998, 466).

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In zeitlicher Perspektive werden Arbeitszeiten zunehmend flexibilisiert (vgl. Sen-nett 2000, 57 ff.). Neben verbindlichen Kernzeiten sind flexible Randzeiten, Früh- und Spätschichten oder Bereitschaftszeiten üblich, um möglichst lange Öffnungszeiten zu gewährleisten. Durch den Einsatz moderner Medien ist die Grenze zwischen Ar-beitszeit und Privatleben oft nicht mehr trennscharf auszumachen, weil Angestellte auch zu Hause per E-Mail oder Handy erreichbar sind oder den Arbeitsweg bereits zum Arbeiten nutzen (vgl. Arnold/Steffes/Wolter 2015, 11 f.). Häufig ensteht das Er-fordernis, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten (Multitasking; vgl. Baethge/

BaethKinsky 1998, 465, 467). Zülch/Stock (2003) betonen, dass die Wahl eines ge-eigneten Arbeitszeitmodells von zentraler personalpolitischer Bedeutung ist, da es Belastungen und Ressourcen der Beschäftigten dauerhaft beeinflusst.

Hiermit entsteht auch eine räumliche Entgrenzung. Die Arbeitstätigkeit ist nicht mehr auf den offiziellen Arbeitsplatz beschränkt (vgl. Krotz 2017, 30). Durch die ge-stiegenen Kooperationserfordernisse und internationale Kundschaft findet Kommu-nikation immer häufiger medienvermittelt über räumliche Grenzen hinweg statt (vgl.

Baethge/Baethge-Kinsky 1998, 467). Diese Möglichkeiten können auch gezielt genutzt werden, um die Balance zwischen Privat- und Arbeitsleben zu verbessern, z. B. durch die Einrichtung eines Homeoffice. Dieses erfordert es jedoch, zu Hause Grenzen zwi-schen Privat- und Arbeitsleben zu definieren (vgl. Arnold/Steffes/Wolter 2015; Bell-mann/Sliwka/Steffes 2014, 137 ff.).

Mit der Einrichtung eines Homeoffice oder mit medienvermittelter Kommunika-tion sind soziale Entgrenzungsprozesse verbunden. Informelle Kontakte entfallen.

Durch die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse ist die Zugehörigkeit zu einem Un-ternehmen nicht mehr eindeutig (vgl. Unger 2007, 141 f.). Viele Erwerbstätige arbeiten auch für mehrere Unternehmen. Durch häufige Wechsel des Arbeitgebers entfällt die soziale Sicherheit (z. B. in Form von Kündigungsschutz), den lange Betriebszugehö-rigkeiten früher boten (vgl. Baethge/Baethge-Kinsky 2006).

Durch die Pluralisierung der Lebensstile, interkulturelle Kontakte und die Priva-tisierung von Lebensbereichen, welche zuvor explizit nicht ökonomischen Zwängen unterworfen waren (z. B. Bildung, Verkehr, Sozialwesen, Gesundheit), kommt es letzt-lich zu ethischen und normativen Entgrenzungserscheinungen (vgl. Sennett 2000, 15 ff.). Moralische Vorstellungen haben sich durch schwindenden Einfluss der christ-lichen Kirchen, zunehmende Einflüsse anderer Religionen und die Allgegenwärtig-keit ökonomischer Zwänge verändert. Die im Arbeitsleben herrschende Wettbewerbs-ordnung und die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse führen tendenziell zu einer Entsolidarisierung (vgl. Honneth 2002).

Durch den Wettbewerb um attraktive Positionen, die Angst um den Arbeitsplatz, ein hohes Verantwortungsgefühl oder leistungsorientierte Persönlichkeitsmerkmale stehen Erwerbstätige in der Gefahr, sich selbst auszubeuten (vgl. Sennett 2000). Ent-grenzungsphänomene können jedoch auch für eigene Interessen und Ziele genutzt werden (vgl. Kap: 1.4.1). Daher ist es erforderlich, dass Erwerbstätige selbst Grenzen ziehen und Vorkehrungen zu deren Einhaltung treffen (vgl. Unger 2007, 144 ff.). Sie müssen z. B. entscheiden,

Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Beschäftigten im Einzelhandel 75

• ob sie sich weitere Qualifikationen aneignen möchten,

• ab wann sie fachliche Unterstützung von Kolleg/-innen hinzuziehen wollen,

• welche Arbeitszeitmodelle für sie akzeptabel sind,

• ob und in welchem Ausmaß sie die vereinbarte Arbeitszeit regelmäßig über-schreiten wollen,

• inwieweit sie sich eine Privatsphäre sichern wollen,

• ob sie weite Anfahrtswege in Kauf nehmen wollen, um den persönlichen Kontakt zu Kolleg/-innen und Kund/-innen zu pflegen,

• inwieweit sie für die berufliche Weiterentwicklung räumlich und zeitlich mobil sein wollen,

• welche ethischen Maßstäbe ihrem Handeln zugrunde liegen sollen.

Vorliegende Studien zeigen, dass dies den Beschäftigten im Einzelhandel nicht aus-reichend gelingt. Bezüglich typischer Belastungsfaktoren – z. B. Zeitdruck, Störungen, belastende Konflikte – schneidet der Einzelhandel im Vergleich zu anderen Branchen zwar geringfügig besser ab (vgl. Schäfer/Schmidt 2016, 69 ff.; BIBB/BAuA 2012; Mar-schall/Barthelmes 2016). Voss-Dahm (2009, 2003), Voswinkel/Korzekwa (2005), die DAK und die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW; vgl. Mar-schall/Barthelmes 2016) sowie der BAuA (vgl. ebd. 2003; BIBB/BAuA 2012) zeigen jedoch, dass durch die Anforderungen der Kundeninteraktionsarbeit erhebliche Be-lastungen bestehen, die durch herkömmliche Instrumente nicht erfasst werden.

Wichtige Belastungsfaktoren sind hierbei Rollenkonflikte, fehlende Anerkennung und die hierfür erforderliche Gefühlsarbeit (vgl. Brucks/Plesner/Schmidt 2003; Ner-dinger 2003; Zülch/Stock 2003; Birken/Dunkel 2013, 34 ff.; Richter 2003; Schäfer/

Schmidt 2016, 70 f.; Voswinkel/Korzekwa 2005, 44 ff, 180 ff.; Kap. 3.1.2 und 3.1.5). Dies hatte die BAuA im Jahr 2003 veranlasst, geeignete Instrumente zur Gefährdungsbeur-teilung der psychischen Belastungen im Einzelhandel zu entwickeln (BAuA 2003;

Musslick et al. 2012).

Als weitere Belastungsfaktoren sind atypische Arbeitszeiten, geringe Tätigkeits-spielräume, Multitasking und einfache monotone Tätigkeiten, wie sie bei einer funk-tionalen Differenzierung gehäuft auftreten, zu nennen (vgl. Rothe et al. 2017, 24 ff.;

BIBB/BAuA 2012). Kennzeichnend sind häufiges sehr schnelles Arbeiten und ständig wiederkehrende Aufgaben (vgl. Abb. 17). Nur 44 % der im Lebensmitteleinzelhandel Tätigen bzw. 55 % im sonstigen Einzelhandel können ihre Arbeit selbst planen und einteilen gegenüber 69 % in anderen Branchen (vgl. BIBB/BAuA 2012). Besonders Kassierer/-innen sind hiervon betroffen (vgl. Langmann 2003; Zülch/Stock 2003;

Marschall/Barthelmes 2016, 85 ff.). Die Arbeit ist zudem durch häufiges Stehen, schweres Heben und ungünstige klimatische Bedingungen geprägt, wobei der Le-bensmitteleinzelhandel von den Belastungsfaktoren am stärksten betroffen ist (vgl.

Abb. 18; Langmann 2003).

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Arbeitsbedingungen im Einzelhandel (BIBB/BAuA 2012, 2)

Arbeitsbedingungen im Einzelhandel – Fortsetzung (BIBB/BAuA 2012, 1)

Hinzu kommen arbeitszeitbedingte Vereinbarkeitsprobleme zwischen Beruf und Pri-vatleben. Hiervon berichten 41 % der Beschäftigten – besonders vollzeitbeschäftigte Frauen (vgl. Marschall/Barthelmes 2016, 72 f., 92 ff.). Laut BIBB/BAuA-Erwerbstäti-genbefragung (2012) arbeiten 36 % der Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel außerhalb der Normalarbeitszeit von 7–19 Uhr – im übrigen Einzelhandel bzw. ande-ren Branchen sind es 21 % bzw. 22 %.

Im Bereich Gesundheit liegt der Einzelhandel laut Expertise des IW Köln gleich-auf mit anderen Branchen (vgl. Schäfer/Schmidt 2016, 74 ff.). Laut BIBB/BAuA-Er-werbstätigenbefragung (2012) geben jedoch zwei Drittel der Beschäftigten zwei und mehr Muskel-Skelett-Beschwerden an, während dies nur die Hälfte der Beschäftigten in anderen Branchen betrifft (vgl. Abb. 19; Langmann 2003). Die Studie der DAK/

BGHW (vgl. Marschall/Barthelmes 2016, 11 f.) betont, dass Gesundheitsschutz und Sicherheit häufig nachrangig zu Kundeninteressen und ökonomischen Zielen be-rücksichtigt werden, z. B. können die Beschäftigten Pausen wegen hoher Kundenfre-quenz nicht nach Bedarf nehmen (vgl. ebd., 59 f.). Ein Drittel der Beschäftigten gibt an, häufig an der Grenze der Leistungsfähigkeit zu arbeiten, wobei diese Nennung mit der Intensität des Kundenkontaktes korreliert (vgl. ebd., 71 ff.). Psychische

Erkran-Abbildung 17:

Abbildung 18:

Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Beschäftigten im Einzelhandel 77

kungen sind im Einzelhandel sowohl bei Männen als auch Frauen bereits die zweit-häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitszeiten (vgl. ebd., 135 f.). Depressive Episo-den sind die häufigste Einzeldiagnose (vgl. ebd., 124).

Gesundheitliche Beschwerden im Branchenvergleich (BIBB/BAuA 2012, 2)

Die Fehlzeiten liegen mit durchschnittlich 9,7 Tagen pro Jahr im Einzelhandel etwas niedriger als in anderen Branchen, die Zahl der Krankheitstage steigt jedoch seit 2006 deutlich. Positiv fällt auf, dass die Hälfte der Beschäftigten im Einzelhandel gar keine Fehlzeiten aufweist (im Durchschnitt anderer Branchen nur 37 %, vgl. Schäfer/

Schmidt 2016, 88). Die größeren Sorgen um den Arbeitsplatz könnten diesen Befund erklären. Laut Studie der DAK/BGHW (vgl. Marschall/Barthelmes 2016, 75 ff.) geben zwei Drittel der Beschäftigten an, in den letzten 12 Monaten trotz Krankheit zur Arbeit gegangen zu sein. Auch der hohe Teilzeitanteil verzerrt das Bild, da Teilzeitbeschäf-tigte seltener arbeitsunfähig sind als VollzeitbeschäfTeilzeitbeschäf-tigte (vgl. Hanssen-Pannhausen 2003, 72). Wegen dieser methodischen Gründe ist davon auszugehen, dass das Belas-tungsniveau vieler Vollzeitbeschäftigter in den Statistiken nicht vollends sichtbar wird (vgl. Nübling/Schröder/Gerlach 2015, 130 f.).

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