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Eigenverantwortung und Aufholbedarf in Deutschland

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.2 Die diachrone Perspektive: berufsbiografische GestaltungGestaltung

3.2.4 Lebenslanges Lernen als Bringschuld

3.2.4.2 Eigenverantwortung und Aufholbedarf in Deutschland

In Deutschland wird die Umsetzung durch drei Dokumente flankiert. 1996 veröffent-lichte das BMBF das Gutachten Das lebenslange Lernen - Leitlinien einer modernen Bil-dungspolitik (Dohmen 1996). Es bescheinigt Deutschland eine unzureichend entwi-ckelte Kultur lebenslangen Lernens und betont die Notwendigkeit, nicht institutio-nalisierte, selbstgesteuerte kompetenzentwickelnde Formen des Lernens zu fördern.

Sie relativiert damit die Rolle formaler Bildungsinstitutionen und sieht die Aufgabe der Schule vor allem darin, die Bereitschaft und Fähigkeit zum selbstgesteuerten, lebenslangen Lernen zu entwickeln. 1998 schrieb die Bund-Länder-Kommission For-schungsgelder für Modellversuche zum Lebenslangen Lernen aus. Hierbei wurden Vertreter der Erwachsenenbildung und der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zuei-nander in Wettbewerb gesetzt. Damit wurde ein dem Forschungsgegenstand ange-messener lebensphasenübergreifender interdisziplinärer Ansatz von vornherein un-möglich. Den Zuschlag erhielt die Erwachsenenbildung, welche eine Reihe von Mo-dellversuchen durchführte (vgl. Krug/Apel 2006; Aisenbrey et al. 2005; Kap. 6.2.6.3).

Zentrale Ziele waren die Förderung der Selbstlernfähigkeit sowie die Vernetzung re-gionaler Bildungsanbieter. Das von der Berufs- und Wirtschaftspädagogik vorbereitete Reform- und Forschungsprogramm konnte dagegen nicht umgesetzt werden (vgl.

Achtenhagen/Lempert 2000; Kap. 6.2.6.3).

2004 formulierte die Bund-Länder-Kommission eine Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland (BLK 2004). Diese hatte aufgrund der för-deralen Struktur des Bildungssystems jedoch nur Empfehlungscharakter. Während die Bundesländer für Reformen in Kindergärten, den allgemein- und berufsbildenden Schulen verantwortlich sind, ist die Bundesregierung für den betrieblichen Teil der Erstausbildung sowie die berufliche Weiterbildung zuständig (vgl. ebd., 11 ff.). Das Dokument enthält eine exemplarische Sammlung schon durchgeführter Maßnah-men zur Förderung Lebenslangen Lernens (vgl. ebd., 75 ff.). Lernen wird hierbei verstanden als „konstruktives Verarbeiten von Informationen und Erfahrungen zu Kenntnissen, Einsichten und Kompetenzen“ (ebd., 13) und umfasst die gesamte Le-bensspanne. Dieser Lernbegriff umfasst auch biografisches Lernen. Die Strategie orientiert sich an einzelnen Stationen von Bildungsbiografien, um den jeweiligen Handlungsbedarf zu analysieren (vgl. ebd., 17 ff.). Lernen sei ein selbst verantworteter Prozess. Dem Staat komme die Aufgabe zu, die Zugänglichkeit zu Lernmöglichkeiten und eine kompetente Lernberatung zu gewährleisten. Die Strategie umfasst folgende Entwicklungsschwerpunkte (vgl. ebd., 14 ff.):

a) Einbeziehung informellen Lernens,

b) Selbststeuerung des Lernens durch die Lernenden,

c) Selbstständige Kompetenzentwicklung durch die Lernenden,

Die diachrone Perspektive: berufsbiografische Gestaltung 153

d) Vernetzung bestehender Bildungsinstitutionen, e) Modularisierung von Lernangeboten,

f) Lernberatung,

g) Popularisierung des Lernens,

h) Chancengerechter Zugang zu Lernmöglichkeiten auch bildungsfernerer Men-schen.

Für die Zielgruppe der Jugendlichen, welche für diese Arbeit von besonderer Relevanz ist, wird der hohe Anteil fremdgesteuerten Lernens in formalen Bildungsinstitutio-nen sowie ein geringer Berufs- und Praxisbezug kritisiert, dem es durch innovative Lernmethoden zu begegnen gelte (vgl. ebd., 20 ff.). Wichtige Basiskompetenzen müssten in der schulischen Grundbildung entwickelt werden. Genannt werden Lern-kompetenz, HandlungsLern-kompetenz, SozialLern-kompetenz, personale Kompetenzen und Teamfähigkeit, Fachkompetenzen sowie der Umgang mit IT-Technologien. Zudem seien flankierende Fördermaßnahmen wie Lernberatung und Berufsorientierung er-forderlich, um trotz sozioökonomisch bedingter Benachteiligungen einen Anschluss an die Berufsausbildung sicherzustellen. Insgesamt entsteht durch die Entwicklungs-schwerpunkte der Eindruck, dass der Selbstständigkeit der Lernenden eine noch hö-here Bedeutung als in den Dokumenten der EU beigemessen wird.

2008 veröffentlichte das BMBF eine Konzeption der Bundesregierung zum Ler-nen im Lebenslauf, die sich ausschließlich auf ihren Verantwortungsbereich der be-ruflichen Weiterbildung bezieht (BMBF 2008). Diese umfasst die betrieblich initiierte Weiterbildung, die individuelle berufliche Weiterbildung sowie die öffentlich geför-derte Weiterbildung zur Arbeitsmarktförderung. Weiterbildung kann formal (z. B.

Aufstiegsfortbildung zum Meister oder Fachwirt), nonformal (z. B. E-Learning oder Coaching) oder informell (Lernen am Arbeitsplatz) erfolgen. Ziel ist es, besonders gering qualifizierte Erwerbstätige zu beruflicher Weiterbildung zu motivieren. Hierzu sollten vor allem finanzielle Anreize in Form einer Bildungsprämie, Werbung und Beratung beitragen.

Entsprechend den strategischen Überlegungen der BLK sind auf institutioneller Ebene Maßnahmen realisiert worden, um Lebenslanges Lernen zu ermöglichen. Um die Anerkennung und Vergleichbarkeit von Kompetenzen zu verbessern, wurde der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR; www.dqr.de) als nationales Pendant zum Eu-ropäischen Qualifikationsrahmen (EQR) entwickelt (vgl. BMBF/KMK 2013; BMBF/

BIBB et al. 2017). Mit dem Kinderförderungsgesetz (2008) wurde ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem 1. Lebensjahr seit dem 01. August 2013 eingeführt, um die frühkindliche Förderung zu verbessern (vgl. BFSJ 2008). Die Zugangsmöglichkei-ten zu Hochschulen für beruflich Qualifizierte wurden verbessert (vgl. KMK 2009;

Elsholz 2015). Es werden zudem erhebliche Anstrengungen unternommen, um im Anschluss an die allgemeinbildende Schule den Übergang in die berufliche Erstaus-bildung zu ermöglichen (vgl. Kap. 6.2.5.2; BMBF 2008, 3).

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ELLI-Index (Hoskins/Cartwright/Schoof 2011, 39)

Eine Studie der Bertelsmannstiftung (vgl. Abb. 46) vergleicht die Qualität des Lebens-langen Lernens in den Ländern Europas mittels eines selbst entwickelten Index (ELLI). Dieser greift auf Kriterien des Delors-Berichts der UNESCO zurück (Delors 1996). Deutschland erreicht nur ein mittelmäßiges Ranking, während die nordischen Staaten Spitzenplätze einnehmen. Schwachstellen seien einerseits – wie schon durch die PISA-Studien dokumentiert – die geringen Ausgaben für das formale Bildungs-system und der vergleichsweise geringe Anteil tertiärer Bildung. Die durch die PIAAC-Studie der OECD gemessenen Grundkompetenzen Erwachsener (Lesekom-petenz, alltagsmathematische Kom(Lesekom-petenz, technologiebasierte Problemlösekompe-tenz) sind im internationalen Vergleich durchschnittlich ausgeprägt. Es gibt jedoch eine Gruppe besonders gering Qualifizierter, deren Teilhabemöglichkeiten am

Ar-Abbildung 46:

Die diachrone Perspektive: berufsbiografische Gestaltung 155

beitsmarkt sowie Weiterbildungsbeteiligung stark eingeschränkt sind (vgl. Abb. 47;

Baethge/Baethge-Kinsky 2004; Rammstedt 2013). Fischer/Huber et al. (2014) stellten in qualitativen Studien fest, dass vorhandene Chancen oft nicht bewusst sind und noch reflexiv erschlossen und sichtbar gemacht werden müssen. Die Weiterbildungs-beteiligung der Erwachsenen zwischen 25 und 64 Jahren – definiert als formale oder nonformale Maßnahme innerhalb der letzten vier Wochen – liegt laut Labor Force Survey 2018 in Deutschland mit 8,2 % unter dem EU-Durchschnitt von 11,1 % (vgl.

Eurostat 2018). Laut Adult Education Survey (AES) findet Weiterbildung vor allem in nonformaler und informeller Form statt (vgl. Abb. 47).

Beteiligung Erwerbstätiger an unterschiedlichen Lernformen (Quelle: Behringer/Schönfeld 2014, 5, Datenbasis: Adult Education Survey 2012)

Abbildung 47:

156 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Im Vergleich zu nordischen Staaten fällt auf, dass in Deutschland zwar institutionelle Voraussetzungen für das Lebenslange Lernen geschaffen werden. Die individuellen Lernprozesse werden jedoch kaum in den Blick genommen (vgl. Achtenhagen/

Lempert 2000, 19 ff.), obwohl das Strategiepapier der BLK den hohen Grad der Fremd-steuerung in der formalen Bildung kritisiert. Die Politik bemüht sich mit wenig Erfolg versprechenden Mitteln, die Betroffenen in die Verantwortung zu nehmen (vgl.

Heinze/Ollmann 2006; Rothe 2009). Ein Hemmnis ist zudem das föderale Bildungs-system. Nachdem die BLK noch in größerem Umfang Modellversuche gefördert hatte, wird das Thema Lebenslanges Lernen bei der Nachfolgeinstitution Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (www.gwk-bonn.de) nur indirekt über Themen wie Chancen-gerechtigkeit berücksichtigt. In Finnland findet dagegen derzeit eine Bildungsreform statt, um Allgemein-, Berufs- und Erwachsenenbildung eng miteinander zu verzah-nen und individuelle Entwicklungsverläufe in der beruflichen Erstausbildung zu er-möglichen (vgl. Prime Minister’s Office Finland 2016). In Dänemark sind berufliche Schulen durch das Bildungsministerium verpflichtet worden, berufsbiografische Ge-staltungskompetenzen (career learning) in beruflichen Bildungsgängen zu fördern (vgl. Euroguidance Denmark 2014, 17ff.). Beiden Ländern geht es um die Reduzierung von Abbruchquoten und die Nutzung vorhandener (auch informeller) Kompetenzen.

Formal haben auch deutsche Berufsschulen einen vergleichbaren Auftrag (vgl.

Kap. 4.3). In der Bildungspraxis sind jedoch nach wie vor hochgradig standardisierte Curricula anzutreffen (vgl. Kap. 4.5). Die Autorin ist bei ihren Recherchen nur auf ein einziges dokumentiertes Praxis-Projekt gestoßen, welches explizit zum Ziel hatte, be-rufsbiografische Gestaltungskompetenz im Rahmen der dualen Ausbildung zu för-dern. Im Rahmen eines BIBB-Modellversuchs wurden für eine heterogene Gruppe Auszubildender und Ausgebildeter im Handwerk unter wissenschaftlicher Beglei-tung von Munz et al. (2003, 2005, 2005a) Lernformen und Methoden zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz entwickelt. Hierzu wurden die benötigten Kompetenzen zunächst mittels Recherchen und Befragung Beteiligter ermittelt (vgl. Kap. 6.2.2.1). Bei der Auswahl der Lernformen wurde großer Wert auf eine hohe Eigenaktivität gelegt, um die Lernkompetenz zu fördern. Zur Förderung eines bio-grafischen Blicks wurden geeignete Reflexionshilfen – z. B. zur Erstellung eines Kom-petenzprofils – zur Verfügung gestellt. Obwohl die Beteiligten im Projekt über erheb-liche Lernzuwächse berichteten, blieb der Modellversuch für die deutsche Berufsbil-dungspraxis weitgehend folgenlos. Dass der Förderung berufsbiografischer Gestal-tungskompetenz in der dualen Ausbildung in Deutschland kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, dürfte auch auf die Tradition institutionell verankerter standardisier-ter Berufe (vgl. Kap. 1.4.6) zurückzuführen sein. Im Vergleich zum angelsächsischen Raum ist die individuelle Verantwortung zur Weiterentwicklung des eigenen beruf-lichen Profils daher wenig ausgeprägt. Hinzu kommt die Zurückhaltung der Berufs-und Wirtschaftspädagogik. Diese sei im folgenden Abschnitt skizziert.

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