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Subjektivierte Beruflichkeit in der modernen Arbeitswelt

Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

4.1 Berufliche Identitätsarbeit als subjektivierte Beruflichkeit

4.1.3 Subjektivierte Beruflichkeit in der modernen Arbeitswelt

Der Vorwurf, das Lernfeldkonzept vernachlässige das Persönlichkeitsprinzip, muss umso mehr beunruhigen, als der Beruf seine sozial-integrative Funktion durch Dere-gulierung und Individualisierungstrends am Arbeitsmarkt zunehmend einbüßt (vgl.

Kurtz 2001a, 181; Baethge/Baethge-Kinsky 1998; Beck 1986, 222 ff.; Bories 2013). Hier-durch wird die Entstehung sozialer Identität erschwert. Berufliche Identität muss zu-nehmend über an die Person gebundene Aspekte aktiv konstruiert werden (vgl. Gid-dens 1991; Unger 2007; Baethge 2004b, 346). Hierbei ist neben einer Passung des 180 Die Vernachlässigung der Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

Tätigkeitsprofils zum Stelleninhaber (person-job-fit) auch eine Passung zwischen Ar-beitnehmer/-in und Unternehmenskultur des Arbeitgebers (person-environment-fit) herzustellen (vgl. Kristof-Brown/Guay 2011). Aus Arbeitnehmersicht besteht ein Pro-blem in der Koexistenz tayloristischer und postfordistischer Produktions- und Dienst-leistungsmodelle, welche grundlegend unterschiedliche Anforderungen stellen. Die in postfordistischen Arbeitsprozessen dringend benötigten Reflexions- und Selbst-steuerungskompetenzen sind in tayloristischen Arbeitsprozessen dysfunktional (vgl.

Kap. 2.3.1; Baethge/Baethge-Kinsky 2006, 159 ff.). In Unternehmen herrschen zudem sehr unterschiedliche Unternehmenskulturen, bedingt durch Traditionen, Manage-mentpersönlichkeiten, Struktur der Belegschaft, Betriebsgröße und -organisation und Geschäftspolitik. Außerdem spielen identitätsrelevante Aspekte wie Ethnie, nationale Herkunft, Geschlecht, Religion und Familie ebenfalls eine Rolle (vgl. Kurtz 2001a, 181 ff.). Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten von Rollenkombinationen steigt in der modernen Arbeitswelt die Wahrscheinlichkeit, dass andere Teilidentitäten im Wi-derspruch zur Berufsrolle stehen (vgl. Kurtz 2001a, 191; Keupp et al. 2013). Diese au-ßerberuflichen Teilidentitäten sind in beruflichen Handlungssituationen präsent und müssen ausbalanciert werden (vgl. Krappmann 1975, 47). Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es können aber auch sehr indivi-duelle Konstellationen entstehen, beispielsweise eine Katholikin, die als medizinische Fachangestellte in einer gynäkologischen Praxis an Abtreibungen mitwirken muss, ein Angestellter eines Energieversorgers, der sich gegen Kernkraft engagiert, oder eine verfassungswidrige Gesinnung in einem pädagogischen Beruf.

Um Rollenkonflikte zu reduzieren, ist ein hohes Maß an Konsistenz der Teiliden-titäten anzustreben (vgl. Storch 1999; Keupp et al. 2013, 243 ff.; Nerdinger 2011, 43 ff.;

Unger 2010; Faulstich 2015). Keupp et al. (2013) kommen bei ihren Untersuchungen zur Patchwork-Identität (vgl. auch Krappmann 1975, 8 ff.) zu dem Schluss, dass die Herstellung von Kohärenz unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zwar deutlich schwerer, aber notwendiger denn je sei. Durch die psychotherapeutischen Forschungsarbeiten von Erikson (1966) mit Jugendlichen wurde erstmals empirisch belegt, dass die Herstellung von Kohärenz ein menschliches Grundbedürfnis ist, des-sen Befriedigung Voraussetzung für psychische Gesundheit ist (vgl. Krappmann 1975, 174 ff.; Hoffmann 1997, 37 ff.). Auch die Arbeitspsychologie liefert deutliche Hinweise, dass eine Identifikation mit der eigenen Tätigkeit positive Effekte auf psychische Ge-sundheit, Arbeitsmotivation und -leistung hat (vgl. Kap. 3.1.3) und damit unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs unverzichtbar ist (vgl. Brown/Kirpal et al.

2007, 1 ff.). Das Streben nach Stimmigkeit ist auch lerntheoretisch belegt. Piagets (1983) Befunde zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten beruhen auf Mechanis-men der Identitätsregulation wie Assimilation, Akkommodation und Äquilibration (vgl. Hausser 1995, 62 ff.).

Auch Berufswahltheorien (Holland 1985; Super 1994; Gottfredson 1981; Galinsky/

Fast 1966) legen übereinstimmend einen hohen Wert auf eine Passung zwischen Be-ruf und Person. Während Holland (1985) Interessentypen ermittelt, welche er be-stimmten Berufsgruppen zuordnet, thematisiert Super (vgl. 1994) die lebenslange

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Entwicklung eines beruflichen Selbstkonzepts und Gottfredson (1981) die Passung zwischen soziokulturellem Umfeld, Geschlecht und Beruf. Auch im angelsächsischen Raum wird der Berufsbegriff in seiner subjektgebundenen Form verwendet, was an den englischen Begriffen occupation und vocation oder Berufsbezeichnungen wie ba-ker, plumber oder carpenter deutlich wird. Der Begriff vocation geht sogar noch über das Berufskonzept hinaus, denn er bedeutet wörtlich Berufung. Die bei vielen Berufstäti-gen vorherrschende Idee einer enBerufstäti-gen Verknüpfung von Erwerbstätigkeit, Lebenssinn und Persönlichkeit lässt darauf schließen, dass Arbeit für viele Menschen mehr ist bzw. sein soll als eine Tätigkeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen (vgl.

Kurtz 2001, 13 f.; Daheim 2001, 25; Faulstich 2015; Obermann 2013, 18). Im angelsäch-sischen Raum wird zwar kein Diskurs über Beruflichkeit geführt, wohl aber über be-rufliche Identität (vocational identity; vgl. Brown/Kirpal et al. 2007; Wayne/Randel/

Stevens 2006; Billett/Somerville 2004; Skorikov/Vondracek 1998; Dik/Duffy 2009; Sa-vickas 1985; Gini 1998; Ashforth/Harrison/Corley 2008, 350 f.). Gini (1998, 714) bringt dies so auf den Punkt: „We need work, and as adults we find identity and are identified by the work we do. If this is true then we must be very careful about what we choose to do for a living, for what we do is what we’ll become.“ Blankertz (1968, 41; vgl. Kutscha 2008, 5) interpretiert diese Herausforderung als individuelle Bildungschance:

„Die heutige soziale Mobilität erlaubt demgegenüber, die berufliche Arbeit als Daseins-möglichkeit der freigesetzten Subjektivität zu begreifen. […] Die den Berufsbegriff zerstö-rende Mobilität ist die Möglichkeit für eine neue Bildungskraft des Berufs, jedenfalls so-weit und insofern das Richtmaß dieser Mobilität in dem Grad der Freiheit gesehen wird, der sich im Wechsel und Wandel der Berufe realisiert.“

Die Handlungsspielräume hängen in einer kapitalistischen, leistungsorientierten Ge-sellschaft jedoch maßgeblich von verfügbarer Bildung, verfügbarem Geld und indivi-dueller Leistungsfähigkeit ab (vgl. Kurtz 2001a, 192 f.; Beck 1986, 242 ff.; Kutscha 2008, 5; Keupp 2014, 183 f.; Bourdieu 2006; Kutscha 2011; Kap. 3.2.6.2). Das Gelingen beruf-licher Identitätsarbeit setzt die Fähigkeit voraus, sich das Paradox zunutze zu machen, dass die Rahmenbedingungen einer ökonomisierten und globalisierten Welt einen Doppelcharakter als Chance und Bedrohung zugleich aufweisen (vgl. Keupp et al.

2013, 72 ff.). Berufliche Identitätsarbeit bedeutet, ein berufliches Profil zu entwickeln, welches das individuelle Leistungspotenzial ausschöpft, gesellschaftliche Anerkennung erfährt und hierdurch dem Individuum die nötige Autonomie verschafft, auch die au-ßerberufliche Identität im Sinne individueller Ziele und Werte zu gestalten. Es geht hierbei demnach um die Befriedigung der von Deci/Ryan (1993) identifizierten psy-chologischen Grundbedürfnisse (vgl. Kap. 3.1.4.1). Dies stellt letztlich die Würde des Menschen in der Erwerbstätigkeit sicher (vgl. Kutscha 2008; Obermann 2013; Hoff-mann 1997, 39 f.; Zabeck 2004, 19). Eine so verstandene subjektivierte Beruflichkeit grenzt sich von reiner Erwerbstätigkeit oder Arbeit dadurch ab, dass sie dem jewei-ligen Träger Sinn, gesellschaftliche Anerkennung, biografische Kontinuität und ein Gefühl von ganzheitlicher Kohärenz verschafft – sprich im Bereich der Erwerbstätig-keit die Funktionen von Identitätsarbeit erfüllt.

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