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Gestaltungsanforderungen humaner Arbeit in der Industriearbeit

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.4 Identitätsförderliche Lern- und Arbeitsbedingungen

3.1.4.2 Gestaltungsanforderungen humaner Arbeit in der Industriearbeit

Den Forschungsprogrammen zur Humanisierung der Arbeit sind umfangreiche em-pirisch belegte Erkenntnisse und valide Instrumente zur Messung von Arbeitsqualität zu verdanken. Hacker (1995, 227 ff.) nennt als einer der einflussreichsten Vertreter vier grundlegende Kriterien für Arbeitsqualität: Ausführbarkeit, Schädigungslosig-keit, Beeinträchtigungsfreiheit und die für Identitätsarbeit wichtige Lern- und Ge-sundheitsförderlichkeit (vgl. Abb. 35).

• Ausführbarkeit (vgl. Hacker 1995, 227 ff.): Aufgaben, Arbeitsmittel und -bedingun-gen müssen so beschaffen sein, dass die Arbeit dauerhaft fehlerfrei und ohne gesundheitliche Beeinträchtigung bewältigt werden kann. So muss z. B. der Scanner an der Kasse technisch so beschaffen sein, dass die erwartete Kunden-und Produktfrequenz erreicht werden kann. Die Sitzhaltung einer Kassiererin darf nicht zu Haltungsschäden führen. Aber auch Intra- und Interrollenkonflikte (vgl. Kap. 3.1.2) sind ein Indikator dafür, dass das Kriterium der Ausführbarkeit gefährdet ist.

• Schädigungslosigkeit (vgl. Hacker 1995, 241 ff.): Die Arbeit muss ohne unmittel-bare physische und psychische Gesundheitsgefährdungen durchführbar sein. In der Dienstleistungsarbeit sind psychische Reaktionen wie Depressionen, Angst-zustände und Neurosen wegen des hohen Anteils sozialer Interaktion von Bedeu-tung. Sie weisen auf eine nachhaltige erfahrungsbedingte Störung der Person-Umwelt-Beziehung hin (vgl. Kap. 3.1.6.1 zu Burn-out). Weitere Belastungsfakto-ren sind quantitative und qualitative Über- und Unterforderungen, Zeitdruck,

Abbildung 34:

118 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

häufige Störungen, unklare Anforderungen und soziale Konflikte (vgl. Kap. 3.1.2).

Das Erkrankungsrisiko ist bei geringer Beeinflussbarkeit und geringer sozialer Unterstützung erhöht (vgl. Karasek 1979). Mit einer Trefferquote von ca. 70 % können Fehlbeanspruchungen aus den Tätigkeitsmerkmalen Vollständigkeit und Variabilität der Arbeitsaufgaben, Freiheitsgrade und Qualifikationsanforderungen vorhergesagt werden (vgl. Hacker 1995, 253).

Hierarchisches System zur Bewertung von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen (Hacker 2009, 247)

• Beeinträchtigungslosigkeit (vgl. Hacker 1995, 265 ff.): Die Arbeit muss über längere Zeit ohne Beeinträchtigung wie Stress, Monotonieerleben, Müdigkeit und/oder emotionale Spannungszustände durchführbar sein, welche sich über die Arbeits-zeit hinaus auf das allgemeine Wohlbefinden auswirken. Beispiele sind Beein-trächtigungen des Selbstwertgefühls durch die geringen geistigen Anforderun-gen bei der Warenverräumung oder Monotonieerleben und Ermüdungserschei-nungen an der Kasse durch die repetitive, fremdbestimmte, wenig anspruchs-volle Tätigkeit (vgl. Langmann 2003; Zülch/Stock 2003; Rothe et al. 2017, 24 f.;

Abbildung 35:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 119

Kap. 2.3.3). Für die Beurteilung der Gesundheitsförderlichkeit eines Arbeitsplat-zes entwickelten Udris/Riemann (1999) die häufig eingesetzte Salutogenetische subjektive Arbeitsanalyse (SALSA).

• Persönlichkeitsförderlichkeit (vgl. Hacker 1995, 281 ff.): Die Arbeit sollte zur Erhal-tung und Weiterentwicklung von Fähigkeiten und Einstellungen geeignet sein.

Neben der unmittelbaren produktiven Nutzung der Kompetenzen der Beschäf-tigten führen höhere geistige Anforderungen auch zu einer verbesserten Motiva-tion, Beschäftigungsfähigkeit sowie einer stabileren psychischen Gesundheit (vgl.

Hacker 2009, 248). Das Motivierungspotenzial eines Arbeitsplatzes wird von fol-genden Faktoren günstig beeinflusst (vgl. Hacker 1995, 302; Hacker 2009, 270;

vgl. DIN EN ISO 6385, 2016; Vollmer 2015, 53 ff.):

Aufgaben, die vorhandene Fähigkeiten vielfältig nutzen (Aufgabenvariabili-tät);

zyklische Vollständigkeit der Aufgaben, welche Zielstellung, Planung, Durch-führung und Kontrolle umfasst;

Freiheitsgrade (= Handlungsspielräume), welche ein selbstständiges Arbeiten ermöglichen;

der subjektive Sinn der Aufgabe, der sich aus der Transparenz des individuel-len Beitrags zum betrieblichen Gesamtzusammenhang ergibt;

Kooperationsmöglichkeiten, welche soziale Unterstützung gewährleisten;

tätigkeitsinterne Rückmeldungen als Anerkennung von Leistung.

Die Erlebensqualität am Arbeitsplatz kann auf Basis dieser Faktoren mit dem Tätig-keitsbewertungssystem (TBS) von Hacker (1983) ermittelt werden. Ähnliche Ziele ver-folgen das ebenfalls breit rezipierte Verfahren zum Ermitteln von Regulationserfordernis-sen in der Arbeitstätigkeit (VERA) von Volpert et al. (1983a) sowie die Job Diagnostic Survey (JDS) von Hackman/Oldham (1975).

3.1.4.3 Besondere Gestaltungsanforderungen für die Dienstleistungsarbeit

Die Erkenntnisse über die Gestaltung gesundheits- und entwicklungsförderlicher Ar-beitsplätze sind überwiegend für den Bereich der Industrie- und Büroarbeit erforscht worden. Aufgrund der besonderen Anforderungen der Dienstleistungsarbeit (vgl.

Kap. 3.1.1 und 3.1.2) formuliert Hacker (2009) hierfür besondere Gestaltungsanforde-rungen:

• Oberstes Ziel ist eine klientenfreundliche Dienstleistung, was eine partizipative Ar-beitsgestaltung und Einbeziehung der Beschäftigten in Zielvereinbarungspro-zesse nahelegt (vgl. ebd., 249 ff.).

• Die Geschäftspolitik muss wesentliche ethische Grundsätze des menschlichen Mit-einanders berücksichtigen. Dies impliziert Arbeitsaufträge und Ziele, die nicht nur Geschäfts-, sondern auch Kundeninteressen berücksichtigen (vgl. ebd., 256 ff.).

• Effektive betriebsinterne Informationsflüsse sind eine wesentliche Voraussetzung, damit eine anforderungsgerechte, fehlerfreie Ausführung dialogischer Interak-tion möglich ist (vgl. ebd., 271).

120 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

• Die anzustrebende Ganzheitlichkeit ist zweidimensional, da sowohl die monologi-schen Tätigkeiten (z. B. Sachbearbeitung) als auch die dialogisch-interaktiven Tä-tigkeiten die Gestaltungskriterien erfüllen müssen (vgl. ebd., 284).

• Die typischen Unwägbarkeiten von dialogisch-interaktiver Dienstleistungsarbeit müssen zur Aufrechterhaltung der Servicequalität bei Zeitvorgaben und Personal-bemessung berücksichtigt werden (vgl. ebd., 259 ff.).

Über die speziellen Gestaltungsbedürfnisse für Dienstleistungsarbeit gibt es bisher wenig empirisch fundiertes Wissen (vgl. Nerdinger 2011, 180 ff.). Eine aktuelle Studie der BAuA (vgl. Rothe et al. 2017) arbeitet den diesbezüglichen Forschungsstand auf und untersucht die Prävalenz der in der Literatur diskutierten Stressoren und Ressour-cen mittels 18.224 telefonischer Interviews mit Erwerbstätigen aller Berufsgruppen sowie sechzehn qualitativen Experteninterviews. Folgende Arbeitsbedingungen stel-len demnach Schlüsselfaktoren dar (vgl. ebd., 85 ff.):

• der Tätigkeitsspielraum (Ressource) – resultierend aus Handlungs- und Entschei-dungsspielräumen sowie Aufgabenvariabilität und -vollständigkeit;

• eine aufgaben- und mitarbeiterorientierte Führung (Ressource);

• die als Arbeitsintensität bezeichneten quantitativen Anforderungen (Stressor);

• ein emotionales Oberflächenhandeln (Stressor);

• fehlende Erholungsmöglichkeiten durch ungünstige Arbeitszeiten (Stressor);

• eine destruktive Führung (Stressor).

Gemäß Rothe et al. (2017, 21 ff.) gebe es aber keine eindeutigen Ursache-Wirkung-Be-ziehungen, sondern die

• Akkumulation von Stressoren,

• die Kompensation von Stressoren durch Ressourcen und

• das Zusammentreffen mit persönlichen Fähigkeiten zur Nutzung dieser Res-sourcen

bestimmten das Ausmaß der wahrgenommenen Belastung. Diese Wechselwirkungen sind jedoch noch nicht erforscht (vgl. Kulik/Oldham/Hackman 1987). Sie können in einem Belastungs-Beanspruchungs-Modell dargestellt werden (vgl. Abb. 36).

Belastungen sind die objektiv auf Erwerbstätige einwirkenden Arbeitsbedingun-gen – BeanspruchunArbeitsbedingun-gen die von persönlichen und ökologischen Ressourcen abhängi-gen Auswirkunabhängi-gen auf die einzelnen Beschäftigten. Das Modell macht deutlich, dass gelingende Identitätsarbeit als Ressource Beanspruchungen reduzieren kann. Ein weiteres für die Fragestellung dieser Arbeit wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass Angestellte des Handels besonders häufig angeben,

• geringe Handlungsspielräume bei der Ausführung der Aufgaben zu haben (vgl.

Rothe et al. 2017, 28),

• sehr schnell sehr viel arbeiten zu müssen (vgl. ebd., 30) und

• in hohem Maße Emotionsarbeit leisten zu müssen (vgl. ebd., 29).

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 121

Belastungs-Beanspruchungs-Modell (Marschall/Barthelmes 2016, 3)

Dies bestätigt die bereits in Kapitel 2.3.3 deutlich gewordene ungünstige Bedingungs-konstellation im Einzelhandel: Hierbei sind weniger hohe Belastungen als vielmehr fehlende Ressourcen ein Problem (vgl. Zülch/Stock 2003; Musslick et al. 2012; Lang-mann 2003). Die Gleichzeitigkeit geringer Aufgabenvariabilität, hoher Arbeitsintensi-tät und geringer Tätigkeitsspielräume trifft ganz besonders auf Kassierer/-innen zu.

Auch Voss-Dahm (2002), Richter (2003) und die Erwerbstätigenbefragung des BIBB und der BAuA ( 2012) bestätigen die herausfordernde Kombination von hohen Leis-tungsanforderungen bei knappen Ressourcen, fragmentierten Arbeitsprozessen und komplexen Arbeitszeitreglements – besonders ausgeprägt für den Lebensmittelein-zelhandel.

Eine repräsentative Befragung von Erwerbstätigen im Auftrag des BMAS (vgl.

Nübling/Schröder/Gerlach 2015, 130 f.) zeigt jedoch trotz objektiv unterschiedlicher Arbeitsbedingungen kaum branchenspezifische Unterschiede hinsichtlich der Ein-schätzung der Arbeitsqualität. Entscheidender seien Strukturmerkmale. So schätzen Führungskräfte die Arbeitsqualität deutlich besser ein als Gruppen mit geringem Status, Teilzeitbeschäftigte besser als Vollzeitbeschäftigte und Erwerbstätige mit atypi-schen Arbeitszeiten schlechter als solche mit normalen Arbeitszeiten, Geringverdie-ner schlechter als Besserverdienende. Je niedriger Beschäftigte in der Hierarchie an-gesiedelt sind, umso dringlicher stellen sich demnach Identitätsprobleme.

Wie die betrieblichen Fallstudien von Voss-Dahm (vgl. ebd. 2009; Kap. 2.3.1) be-reits zeigten, sind einige Unternehmen trotz hohen Rationalisierungsdrucks um eine humane Gestaltung der Arbeit bemüht. Solche Empowermentstrategien versuchen, den aus Rationalisierungsmaßnahmen resultierenden verengten Handlungsspielräumen Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten für die Beschäftigten

entgegenzu-Abbildung 36:

122 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

setzen (vgl. Nerdinger 2011, 180 ff.; Vollmer 2015, 57 ff.). Erste empirische Studien zei-gen zwar durchaus positive Effekte auf die Arbeitszufriedenheit, allerdings hängt die Dienstleistungsqualität auch von anderen Faktoren ab, wie z. B. dem Kommunika-tionsstil und fachlicher Kompetenz zur Nutzung der Spielräume. Der Stimmigkeit von Arbeitsbedingungen und Voraussetzungen der Beschäftigten kommt daher eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Kulik/Oldham/Hackman 1987). Rothe et al. (2017, 88) be-tonen, dass die Erwerbstätigen zur Selbstgestaltung der eigenen Arbeit (= job crafting) befähigt werden müssen (vgl. ebenso Vollmer 2015, 67 ff.; Hacker 2009, 34).

3.1.4.4 Zwischenfazit

Die Erkenntnisse der Arbeits- und Lernpsychologie bezüglich der Entwicklungsför-derlichkeit von Lern- und Arbeitsplätzen sind für die Forschungsfrage 3.1 in mehrfa-cher Hinsicht interessant.

• Erstens zeigen sie – wie schon die Dienstleistungsforschung (vgl. Kap. 3.1.3.) – positive Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungen, der Mitarbeiter-motivation und -leistung sowie ökonomischem Erfolg des Unternehmens.

• Zweitens weisen sie darauf hin, dass für das Zustandekommen dieser positiven Effekte das stimmige Verhältnis zwischen Umwelt und Person entscheidend ist.

Dies bedeutet, dass Identitätsarbeit zur Realisierung dieser positiven Effekte bei-tragen kann und sowohl im Interesse des Unternehmens als auch der Beschäf-tigten ist.

• Drittens bieten sie empirische Belege für die Plausibilität der Selbstbestim-mungstheorie der Motivation von Deci/Ryan (1993). Sie stützen die Annahme, dass Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit zentrale Be-dürfnisse von Erwerbstätigen sind, deren Befriedigung den ökonomischen Er-folg maßgeblich mitbestimmt.

• Viertens zeigen sie, dass die in Kapitel 2.3 beschriebenen Entwicklungen für An-gestellte im Einzelhandel vor dem Hintergrund dieser Forschungsbefunde be-denklich sind, da die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse durch Trends zur Dequalifizierung, Einengung von Handlungsspielräumen durch Rationalisie-rungsmaßnahmen und soziales Konfliktpotenzial gefährdet ist.

• Fünftens weisen die Befunde übereinstimmend darauf hin, dass Beschäftigte nicht ohne Weiteres in der Lage sind, ihren Arbeitsplatz entwicklungsförderlich zu gestalten, sondern dass sie hierzu gezielt befähigt werden müssen.

Damit stellt sich die Frage, wie Erwerbstätige vorhandene Gestaltungsspielräume nut-zen können, um für ihr Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu sorgen. In den Kapiteln 2.3 und 3.1.2 wurde deutlich, dass interaktive kaufmännische Dienstleistungsarbeit auf die Gesamtpersönlichkeit der Beschäftigten zugreift. Dies ermöglicht es, die Poten-ziale der Belegschaft geschäftspolitisch zu nutzen, was zugleich auch deren Persön-lichkeitsentwicklung fördern kann. Gelingt es nicht, dieses Potenzial als Win-win-Situation zu gestalten, sind erhebliche Nachteile für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens und die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu erwarten (vgl.

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 123

Voss/Weiss 2013). Daher ist es erforderlich, dass Erwerbstätige Verantwortung für ihre psychische Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung übernehmen. Inwieweit dies möglich ist, hängt von Rahmenbedingungen ab, welche hier nochmals resümiert werden (vgl. Day/Randell 2014):

• die Unternehmenskultur, insbesondere ein partizipativer Führungsstil und so-ziale Unterstützungsstrukturen;

• die Geschäftspolitik mit ihren ethischen Wertsetzungen, dem Zentralisierungs-grad der Geschäftsprozesse und ihren Kontrollmechanismen;

• die Arbeitsplatzgestaltung, insbesondere vorhandene Handlungsspielräume so-wie das Anforderungsspektrum und -niveau;

• eine Sicherheits- und Gesundheitskultur, welche auch die Work-Life-Balance ein-schließt.

Wenn diese Bedingungen nicht vorliegen, müssen sich Auszubildende und Beschäf-tigte die Anerkennung ihrer berechBeschäf-tigten Bedürfnisse, Wünsche und Ziele erkämp-fen. Dass dies in der Praxis tatsächlich notwendig ist, wird im folgenden Kapitel ge-zeigt.

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