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Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.2 Die diachrone Perspektive: berufsbiografische GestaltungGestaltung

3.2.6 Biografische Projekte Jugendlicher

3.2.6.3 Mediatisierte Identitätsarbeit

Biografische Projekte junger Menschen unterscheiden sich nicht nur inhaltlich von älteren Generationen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie zustande kommen.

Die Identitätsentwicklung junger Menschen wird heute maßgeblich durch die Nut-zung digitaler Medien beeinflusst (vgl. Leven/Schneekloth 2016; Calmbach et al. 2016, 171 ff.). Die Mobilität, Multimodalität und Interaktivität moderner Medien eröffnen neue Möglichkeiten der sozialen Interaktion (vgl. Kap. 2.3.2). Die Nutzer/-innen sind nicht mehr nur Konsumierende, sondern auch Produzierende digitaler Inhalte. Die für die Identitätsentwicklung fundamentale soziale Interaktion findet daher immer häufiger über Social Media wie Whatsapp, Facebook oder Instagram statt. Dort stellen junge Menschen ihre Identität öffentlich sichtbar dar und finden die Möglichkeit, de-ren Akzeptanz durch Rückmeldungen zu testen (vgl. Hoffmann 2011; Döring 2010;

Fraas et al. 2012). Laut Shell-Studie (vgl. Leven/Schneekloth 2016, 146 ff.) verbringen junge Menschen im Schnitt 18 Stunden wöchentlich online. Die Nutzung bezieht sich dabei auf Unterhaltung (z. B. Musik, Videos, Spiele), die Beschaffung von Informatio-nen und den interaktiven Austausch. Hieraus ergeben sich fünf Nutzertypen: die 172 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Informationsnutzer/-innen (25 %), die Medienkonsument/-innen (24 %), Gelegen-heitsnutzer/-innen (19 %), interaktiv orientierte Selbstdarsteller/-innen (12 %) sowie digitale Bewohner/-innen (20 %), welche alle Angebote des Internets mit 25 Stunden wöchentlich nutzen. Hierbei ist sich die Mehrheit der jungen Menschen der mit dem Internet verbundenen Gefahren durchaus bewusst (vgl. Calmbach et al. 2016, 214 ff.).

Nur ein knappes Drittel zeigt sich unkritisch, jedoch beeinflusst das Bewusstsein für Gefahren nur bei 39 % der Befragten das Nutzerverhalten (vgl. Leven/Schneekloth 2016, 131 ff.).

Bei der Sozialisation durch und mit Medien stehen viele Einflussfaktoren in einer komplexen Wechselwirkung: soziokulturelle, nutzerbezogene, medienbezogene, in-stitutionelle und gesellschaftliche Aspekte. Die Mediensozialisationsforschung wählt für die Untersuchung dieser Vorgänge identitätstheoretische Zugänge (vgl. Gentzel 2017; Krotz 2017; Dallmann/Vollbrecht/Wegener 2017). Ihr ist es bisher aber trotz zahlreicher bereits vorliegender Studien nicht gelungen, den Einfluss von Medien auf die Identitätsentwicklung junger Menschen sowie deren Chancen und Risiken befrie-digend zu klären (vgl. Hoffmann 2011).

In pädagogischen Settings sind digitale Medien trotz einer unbefriedigenden Forschungslage aufgrund der herausragenden Bedeutung für die Lebenswelt junger Menschen in jedem Fall zu berücksichtigen. Gerade auch für die berufliche Orientie-rung junger Menschen spielt das Internet als Informationsquelle eine große Rolle (vgl. Köcher et al. 2015, 52 ff.; Gebhardt et al. 2016; Müller/Blaich 2014). Einerseits sind Medien Zweck der beruflichen Orientierung in dem Sinne, dass digitale Kompetenzen in vielen Berufen Bestandteil des Qualifikationsprofils sind. Andererseits sind sie ein Mittel, da der Prozess der Identitätsentwicklung durch digitale Medien unterstützt werden kann, z. B. durch digitale Lerntagebücher, Portfolios, Portale zur Informations-beschaffung (vgl. Dürkop/Elsholz/Knutzen 2013; Korhonen et al. 2019; Kap. 6.2.5.1, 6.2.4.2).

3.2.7 Zusammenfassung und Konsequenzen

In Kapitel 3.2.1 wurde gezeigt, dass es einen Trend zur Destandardisierung von Be-rufsbiografien gibt, ohne dass hierbei das Berufsprinzip oder unbefristete Vollzeitar-beitsverhältnisse grundsätzlich infrage gestellt sind. Die Erwerbsorientierung eines sich flexibel selbst ökonomisierenden und vermarktenden Arbeitskraftunternehmers ist empirisch jedoch noch ein Phänomen spezieller Branchen (vgl. Kap. 3.2.2). In Ka-pitel 3.2.3 wurde deutlich, dass die Gestaltung der Berufsbiografie den Beschäftigten unabhängig vom Ausmaß der Destandardisierung Identitätsarbeit abverlangt, denn auch der Verbleib in konventionellen Karrieremustern stellt eine Entscheidung gegen mögliche Alternativen dar. Anhand empirischer Studien wurde gezeigt, wie Beschäf-tigte diese Identitätsarbeit mittels berufsbiografischer Gestaltungsmodi leisten. Die Bildungspolitik nimmt unter dem Stichwort Lebenslanges Lernen Einfluss auf die berufsbiografische Gestaltung der Beschäftigten. Besonders bei gering Qualifizierten laufen Anreize und institutionelle Rahmenbedingungen jedoch ins Leere, da die indi-viduellen Bedürfnislagen ignoriert werden. Die Bildungspolitik sieht die Verantwor-tung für das Lebenslange Lernen vorrangig bei den Betroffenen, wobei das formale

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Bildungssystem hierfür die Voraussetzungen schaffen soll (vgl. Kap. 3.2.4). Auffällig ist, dass viele Beschäftigte nach wie vor leistungs- und sicherheitsorientierte Strate-gien verfolgen. Eine Analyse des Chance-Risiko-Profils unterschiedlicher berufsbio-grafischer Strategien zeigte, dass berufsbiografische Flexibilität zwar die Entwicklung von Transitionskompetenzen begünstigt, aber von Unternehmen nicht honoriert wird (vgl. Kap. 3.2.5). Sicherheitsorientierte Strategien erweisen sich dagegen bei berufs-biografischen Brüchen als risikoreich, da den Betroffenen die notwendigen Transi-tionskompetenzen fehlen. Beschäftigungspolitische Maßnahmen ignorieren zudem die berufliche Identitätsentwicklung der Betroffenen. Jugendstudien zeigen, dass viele junge Menschen von ihrer zukünftigen Berufstätigkeit sowohl Sicherheit als auch einen Sinnüberschuss erwarten (vgl. Kap. 3.2.6.1). Diese Ambition erfordert eine anspruchsvolle berufliche Identitätsarbeit, um widersprüchliche Ziele in Einklang zu bringen. Die Chancen und Ausgangsbedingungen sind dabei durch soziokulturelle Bedingungen ungleich verteilt (vgl. Kap. 3.2.6.2). Insbesondere fehlende soziale Res-sourcen erweisen sich als Handycap. Die Identitätsentwicklung junger Menschen fin-det zunehmend mediatisiert statt, wobei ein bewusster zielgerichteter Umgang mit Chancen und Risiken nicht die Regel ist (vgl. Kap. 3.2.6.3). Sowohl Erwachsene als auch Jugendliche wünschen sich aufgrund der komplexen Herausforderung Unter-stützung bei der Gestaltung ihrer Berufsbiografie.

Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich in Hinblick auf die Forschungs-frage 3.2 folgende Gründe für die Notwendigkeit diachroner beruflicher Identitäts-arbeit formulieren:

• Die zunehmende Unsicherheit berufsbiografischer Verläufe erfordert Transi-tionskompetenzen, welche durch die erfolgreiche Bewältigung berufsbiografi-scher Übergänge mittels Identitätsarbeit erworben werden.

• Im Falle berufsbiografischer Brüche können Beschäftigte von beschäftigungspo-litischen Maßnahmen keine Unterstützung hinsichtlich persönlicher berufsbio-grafischer Ziele erwarten.

• Durch berufsbiografische Übergänge erworbene Kompetenzen und Qualifika-tionen werden häufig unzureichend honoriert und bedürfen der Einforderung von Anerkennung durch die Betroffenen.

• Widersprüchliche berufsbiografische Ziele – wie sie viele Jugendliche verfolgen – bedürfen aktiver Anstrengungen in Form beruflicher Identitätsarbeit.

• Benachteiligte Jugendliche benötigen zur Ausschöpfung ihrer Potenziale kom-pensatorische soziale Ressourcen.

• Die mediatisierte Identitätsentwicklung junger Menschen bedarf eines bewuss-ten Umgangs mit Chancen und Risiken digitaler Medien.

• Die Schaffung der Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Herausforderun-gen ist Aufgabe der formalen Bildungssysteme.

Bei der geforderten Unterstützung geht es z. B. darum,

• Lern- und Entwicklungschancen am Arbeitsplatz zu erkennen und zu nutzen,

• berufsbiografische Diskontinuitäten freiwilliger oder unfreiwilliger Art für die eigene Entwicklung fruchtbar zu machen,

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• alternative Entwicklungspfade zu klassischen Karriereaufstiegen zu entwerfen,

• Lösungen zur Vereinbarung widersprüchlicher Ziele zu finden (z. B. Work-Life-Balance),

• sich nicht vorzeitig von ambitionierten Ziele abbringen zu lassen,

• Zumutungen einer ökonomisierten Arbeitswelt mit eigenen Aspirationen abzu-wägen.

Im Wesentlichen bezeichnet diachrone berufliche Identitätsarbeit das, was die KMK (2011, 15) als Selbstkompetenz bezeichnet, nämlich die „Bereitschaft und Fähigkeit, als individuelle Persönlichkeit die Entwicklungschancen, Anforderungen und Ein-schränkungen in Familie, Beruf und öffentlichem Leben zu klären, zu durchdenken und zu beurteilen, eigene Begabungen zu entfalten sowie Lebenspläne zu fassen und fortzuentwickeln“.

In Kapitel 3.1 wurde in synchroner Perspektive bereits festgestellt, dass es notwen-dig ist, Auszubildende dazu zu befähigen,

• Rollenkonflikte zu lösen,

• sich Anerkennung zu verschaffen,

• ihren Arbeitsplatz entwicklungsförderlich mitzugestalten und

• gesundheitliche Selbstfürsorge zu betreiben.

In diachroner Perspektive ergibt sich zudem die Notwendigkeit,

• Lernende zu befähigen, ihre Berufsbiografie aktiv entsprechend eigener Bedürf-nisse, Werte, Interessen und Ziele zu gestalten.

Diese objektiv für alle Lernenden relevanten Entwicklungsziele konkretisieren sich in subjektiv erlebten Problemstellungen in der Berufspraxis (vgl. Kap. 2.4.2). Kapitel 4 geht nun der Frage nach, inwieweit die notwendige berufliche Identitätsarbeit bereits in der Berufsbildungspraxis stattfindet (vgl. Forschungsfrage 4.2). Hierfür wird zu-nächst herausgearbeitet, inwieweit die Berufs- und Wirtschaftspädagogik die Förde-rung beruflicher Identitätsarbeit bereits als ihre Aufgabe begreift (vgl. Forschungs-frage 4.1).

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