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Leerstellen bezüglich des Persönlichkeitsprinzips

Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

4.4 Leerstellen bezüglich des Persönlichkeitsprinzips

Der Bildungsauftrag ist in die Präambeln der Rahmenlehrpläne übernommen wor-den (vgl. KMK 2004/2016; KMK 2011,14; Reetz/Seyd 2006). Bei der Formulierung ihres Auftrags war sich die KMK bewusst, dass sich die Berufs- und Arbeitswelt in einem dynamischen Wandel befindet. Die anzustrebende Handlungskompetenz bezieht sich daher auch auf künftige, noch unbekannte Handlungssituationen (vgl. KMK 2011, 31). Hierbei geht es nicht nur um zuvor klar umrissene, planbare Aufgaben, son-dern auch um Problemstellungen, bei denen der Lösungsweg zuvor nicht bekannt ist (vgl. KMK 2011, 10; Hacker 2009, 36 ff.; Aebli 2006, 278 ff.; Tramm 1996, 129). In der Wortwahl Problem kommt implizit zum Ausdruck, dass Arbeitsprozesse in erheb-lichem Umfang von Unsicherheit geprägt sind und daher auch der Umgang mit die-sen Unwägbarkeiten integraler Bestandteil von Handlungskompetenz ist (vgl. Ma-rotzki 1988; Aebli 2006, 278 ff.; Hacker 2009, 36 ff.; Kutscha 2009, 15 f.; Munz/Wagner/

Hartmann 2012, 14 f.). Zudem bezieht sich Handlungskompetenz auch auf private und gesellschaftliche Situationen. Zur Gewährleistung des Situationsprinzips sollen im Lernfeldkonzept jedoch die jetzigen beruflichen Arbeits- und Geschäftsprozesse als Referenz herangezogen werden. Es ist nicht nachvollziehbar, wie das angestrebte Ziel durch den gewählten Zugang erreicht werden kann.

190 Die Vernachlässigung der Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

Es bleibt auch offen, wie berufliche Schulen der Heterogenität der Lernenden gerecht werden können. Diese ergibt sich einerseits in objektiver Hinsicht aus der zu-nehmenden Ausdifferenzierung der beruflichen Profile in den Ausbildungsbetrieben.

Der Diskurs über Formen moderner Beruflichkeit bewegt sich jedoch noch auf einem abstrakten Niveau und bietet für die Konkretisierung des Bildungsauftrags wenig Hil-festellung (vgl. Fischer/Büchter/Unger 2015; Kap. 4.1.4). In subjektiver Hinsicht ist es eine Alltagserfahrung von Lehrenden, dass Lernende auf identische Lernangebote un-terschiedlich reagieren (vgl. Helmke 2006). Die heterogenen Lernvoraussetzungen sind teils angeboren, teils Resultat der Sozialisation in verschiedenen soziokulturellen Milieus. Die KMK (2011, 16) formuliert diesbezüglich anspruchsvolle Ziele:

• Die berufliche Wirklichkeit soll ganzheitlich erfasst werden – einschließlich so-zialer, ökologischer, ökonomischer, rechtlicher, sicherheitstechnischer und tech-nischer Aspekte;

• persönliche Erfahrungen der Lernenden sollen aufgegriffen und reflektiert wer-den;

• soziale Prozesse – einschließlich abweichender Interessen der Beteiligten und Konflikte – sollen berücksichtigt werden.

Die KMK (2011, 14) verlagert das Problem der Individualisierung auf die Berufsschule, indem sie postuliert, dass zum Bildungsauftrag der Berufsschule ein inklusiver Un-terricht gehöre, in dem alle Lernenden individuell gefördert werden. Da die curricula-ren Kompetenzziele in den Rahmenlehrplänen alle Lernenden in einem Bildungs-gang betreffen, implizieren diese jedoch zwangsläufig ein überindividuell gedachtes fiktives Subjekt (vgl. Kutscha 2009, 6). Die individuellen Lernbedarfe müssen auf der Mikroebene (im Unterricht) identifiziert und berücksichtigt werden. Dies ist maßgeb-lich der jeweiligen Lehrkraft überlassen. Die KMK (2011, 17 f.) suggeriert, die gefor-derte Individualisierung ergebe sich ohne größeres Zutun aus dem didaktischen Prin-zip der Handlungsorientierung und dem SituationsprinPrin-zip. Die Berücksichtigung individueller Lernvoraussetzungen ist jedoch keineswegs trivial, denn selbst einem stark rezipierten Modell wie der Didaktischen Analyse von Klafki (vgl. 1980/2007; Greb 2009; Tramm 2002) gelingt dies nicht, obwohl sie das Ziel verfolgt, die Bezüge zwi-schen Lerninhalten und Lernenden aufzuklären. Hierbei betont Klafki (1980/2007, 257 f.) die Notwendigkeit, die biografischen Bezüge der Lernenden einzubeziehen, so-wie das Erfordernis, die Lernenden an der Gestaltung des Unterrichts maßgeblich mitwirken zu lassen. Für beide Postulate kann er jedoch keine Lösungen anbieten, da es ihm noch nicht gelungen sei, die Beziehung zwischen den biografisch bedingten sozialen Aspekten und den inhaltsbezogenen Aspekten des Lernens zu klären. Das in der Handreichung der KMK postulierte didaktische Prinzip der Handlungsorien-tierung birgt die Gefahr eines Methodenmonismus, welcher die Berücksichtigung individueller Unterschiede noch erschweren könnte (vgl. Dörig 2003, 367 ff.; Zabeck 2006).

In Hinblick auf die Heterogenität der Lernenden tritt eine weitere Leerstelle zu-tage: Die KMK (2011, 15) macht keine Angaben, welche normativen Maßstäbe darüber

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entscheiden, ob eine Handlung sachgerecht durchdacht bzw. individuell und sozial verantwortlich erfolgt ist und setzt dabei voraus, dass Lernende über durchdachte Wertvorstellungen verfügen. Gerade in einer pluralen, heterogenen Gesellschaft ist es unwahrscheinlich, einen Konsens über normativ geprägte Bildungsideale zu errei-chen (vgl. Prandini 2001, 69, 75). Der verbindliche Minimalkonsens des Grundgeset-zes (Parlamentarischer Rat 1949) ist zu abstrakt, um hieraus konkrete Konzepte für die berufliche Bildung herzuleiten. Um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen, müssen didaktische Zugänge geeignet sein, unterschiedliche Wertorientie-rungen zu integrieren. Reinisch (1989) macht darauf aufmerksam, dass das Situa-tionsprinzip, welches berufliche Handlungsfelder zum Ausgangspunkt der theoreti-schen Überlegungen nimmt, keineswegs wertneutral ist. Sowohl die Auswahl und Zuschneidung der Handlungsfelder, die hieran anschließende Auswahl von Inhalten und zu entwickelnden Kompetenzen als auch die betriebliche Realität sind von nor-mativen, häufig nicht explizit formulierten Vorstellungen geprägt (vgl. Kutscha 2009, 4). Zudem gibt Reinisch zu bedenken, dass betriebliche Werte und Normen auch in Widerspruch zum Bildungsauftrag stehen können (vgl. Reinisch 1989, 89 f.; Dörig 2003, 297 ff.).

Alle hier aufgeworfenen Leerstellen betreffen das Verhältnis der Lernenden zu ihrer Umwelt und damit die berufliche Identitätsarbeit der Lernenden. Gerade diese gewinnt jedoch angesichts der Subjektivierungs- und Entgrenzungserscheinungen in der Arbeitswelt und Gesellschaft an Bedeutung. Die schon in der Präambel sichtbaren Leerstellen werden noch dadurch verstärkt, dass der formulierte Bildungsanspruch in den lernfeldbasierten Zielformulierungen kaum wiederzufinden ist (vgl. Tramm/

Hofmeister/Derner 2009, 32 ff.; Kutscha 2019). Dies sei exemplarisch anhand des Lernfeldes 2 Verkaufsgespräche kundenorientiert führen des Rahmenlehrplans für den Einzelhandel veranschaulicht. Dort heißt es:

„Die Schülerinnen und Schüler führen unter Anwendung von Waren-, Kommunikations-und Verkaufskenntnissen Verkaufsgespräche zur Zufriedenheit der KKommunikations-unden Kommunikations-und des Un-ternehmens. Sie beherrschen wichtige Elemente der Kommunikations- und Verkaufs-technik sowie Techniken zum Erwerb wesentlicher Kenntnisse über Waren. Sie wenden diese in Rollenspielen an, zeigen dabei sowohl verbal wie nonverbal kundenorientiertes Verhalten. Bei Bedarf geben sie situationsgerecht einfache Auskünfte in einer fremden Sprache. Beim Verkaufsgespräch nutzen sie ihre Warenkenntnisse, um geeignete Ver-kaufsargumente zu entwickeln.Sie beziehen in das Verkaufsgespräch auch Serviceleistun-gen des Unternehmens ein und reagieren angemessen auf Kundeneinwände. Sie unter-breiten Alternativvorschläge mit dem Ziel, die Kaufentscheidung zu fördern und zu einem erfolgreichen Kaufabschluss zu bringen.Die Schülerinnen und Schüler erstellen Kriterienkataloge zur Beurteilung von Spiel- und Trainingssituationen. Sie bewerten Kommunikations- und Verkaufssituationen und geben angemessene Rückmeldungen.

Als Hilfsmittel verwenden sie unter anderem Audio- und Videotechnik.“ (KMK 2004/

2009, 9)

Handlungskompetenz wird hier ausschließlich dahingehend verstanden, dass Be-dürfnisse der Kundschaft und des Unternehmens befriedigt werden. Wie die Lernen-den ihre eigenen Ziele und Wünsche berücksichtigen können, bleibt offen. Auch der 192 Die Vernachlässigung der Subjektperspektive in kaufmännischen Curricula

Umgang mit Rollenkonfliken und Unsicherheit wird nicht thematisiert. Es entsteht der Eindruck, dass Handlungskompetenz über eine Anpassungsleistung zu erlangen ist (vgl. Kutscha 2019).

Empirische Studien zeigen, dass Lehrkräfte angesichts fehlender Konzepte für die Persönlichkeitserziehung ihre je individuellen Wertmaßstäbe setzen (vgl. Pran-dini 2001, 95–97). Selbst wenn mit dieser Form der Persönlichkeitserziehung das übergeordnete Ziel der Mündigkeit angestrebt wird, erweist sich dies aus normativer Sicht als höchst problematischer Zugang, weil es auf einer asymmetrischen Bezie-hung zwischen Lehrkräften und Lernenden basiert und somit die Freiheit mit dem Zwange zu kultivieren sucht (vgl. Schluss 2007; Kant 1803, 12). Es ist daher essenziell, die genannten Leerstellen in der Bildungsgangarbeit zu füllen, da sonst eine Vernach-lässigung oder ein Missbrauch des Persönlichkeitsprinzips droht (vgl. Tramm/

Hofmeister/Derner 2009, 31). Nachfolgend wird exemplarisch dargestellt, wie das EvaNet-EH-Projektteam diese Aufgabe gelöst hat. Hierzu werden zunächst Aufbau und Struktur des erarbeiteten Curriculums vorgestellt.

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