• Keine Ergebnisse gefunden

Charakteristika kaufmännischer Dienstleistungsberufe

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.1 Charakteristika kaufmännischer Dienstleistungsberufe

Die Berufe des Einzelhandels weisen typische Charakteristika kaufmännischer Dienstleistungsberufe auf. Da diese zum Verständnis der entstehenden Konfliktfelder in beruflichen Handlungssituationen hilfreich sind, werden diese hier zunächst skiz-ziert.

Im Rahmen eines mehrjährigen Projektes untersuchten Brötz/Kaiser (2015) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Denkens und Handelns von Kaufleuten in 55 kaufmännischen Ausbildungsberufen sowie weiteren 33 Fortbildungsberufen auf Basis einer Ordnungsmittelanalyse. Ergänzend wurden historische und soziologische Studien hinzugezogen. Trotz der großen Vielfalt kaufmännischer Berufe ergab die Analyse eine Schnittmenge kaufmännischer Qualifikationen von ca. 70 % (vgl. Kaiser 2012, 171 ff.; Brötz/Kaiser 2015, 75 f.). Die wichtigsten Aufgabengebiete stellen dem-nach

• die kaufmännische Steuerung und Kontrolle (z. B. Rechnungswesen, Controlling),

• die Absatzwirtschaft (Kundenberatung und -orientierung, Marketing, Auftragsab-wicklung, Preisbildung, Kundenbindung) sowie die

• IT-gestützte Information und inner- und außerbetriebliche Kommunikation (z. B.

Schriftverkehr, Teamarbeit)

dar. Weitere Aufgaben betreffen Unternehmensorganisation, Logistik, Personalwesen und Einkauf. Anders als gewerblich-technische Beschäftigte sind Kaufleute nicht unmittel-bar am Produktionsprozess beteiligt, sondern tragen durch dessen Planung und

Steuerung sowie die Übernahme vor- und nachgelagerter Funktionen (Beschaffung, Vertrieb) erheblich zur Wertschöpfung bei (vgl. Pongratz 2012, 17; Brötz/Kaiser 2015, 61 ff.; Kaiser 2017). Hierfür benötigen Kaufleute rechtliche und volkswirtschaftliche Kenntnisse. Ihre konkrete Tätigkeit ist inner- und außerbetrieblich stark von interakti-ver Kommunikation geprägt. Dabei gehen Kaufleute mit planenden, steuernden und bilanzierenden Dokumenten (z. B. Geschäftsplanung, Soll-Ist-Vergleich, Gewinn- und Verlustrechnung, Kostenrechnung, Bilanz) um, welche die konkreten Geschäftspro-zesse und die daraus resultierenden Belegströme (z. B. Eingangs- und Ausgangsrech-nungen) in ihren monetären Auswirkungen abbilden (vgl. Kaiser 2012, 174 f.; Brötz/

Kaiser 2015 82 ff.; Tramm 2009). Aus diesem Funktionsspektrum ergeben sich impli-zit zwei weitere Anforderungen: Kaufleute benötigen umfangreiches systemisches Wis-sen und müsWis-sen in der Lage sein, konkrete Geschäftsprozesse in abstrakte Symbole wie Zahlen und Schriftverkehr zu übersetzen und umgekehrt (vgl. Tramm 2009; 2014;

Brötz/Kaiser 2015, 82 ff.; Kutscha 2009, 6; Kuhn 2014, 86; Brötz 2011, 213). Nach Kut-scha (vgl. ebd. 2009, 8 f.) ist Sinn der kaufmännischen Arbeit, die Güterversorgung unter Knappheitsbedingungen und die damit verbundenen monetären Austausch-prozesse und Informationsflüsse zu verstehen, zu gewährleisten und kritisch zu beur-teilen.

Kaufleute übernehmen stellvertretend für die Unternehmensleitung eine Mittler-funktion gegenüber Geschäftspartnern und steuern Prozesse dezentral auf Basis von Zielen und Kenngrößen, welche von der Geschäftsleitung zentral definiert werden (vgl. Kaiser 2012, 170). Handlungsleitend ist hierbei das ökonomische Prinzip (vgl.

Brötz/Kaiser 2015, 80; Kaiser 2012, 175). Aufgrund ihrer Mittlerfunktion ist gegenüber der Geschäftsleitung eine höhere Loyalität zu erwarten als im gewerblich-technischen Bereich. Folge ist ein geringerer gewerkschaftlicher Organisationsgrad (vgl. Brötz/

Kaiser 2015, 79).

Ein Blick auf die in Kapitel 2.3.1 dargestellten Tätigkeiten von Einzelhandelskauf-leuten zeigt, dass das Bild kaufmännischer Tätigkeit in der Tat zutrifft. Verkäufer/-in-nen erfüllen es jedoch nur zum Teil. Ihr Schwerpunkt liegt in der Durchführung und Steuerung der Absatzwirtschaft. Einkauf, Organisation, Rechnungslegung und Perso-nalwesen gehören in der Regel nicht zum Berufsbild (vgl. Brötz 2011, 214). Eine Be-sonderheit stellt in den Einzelhandelsberufen die Tatsache dar, dass Belegströme und konkrete Geschäftsprozesse zusammenfallen, während Kaufleute in anderen kauf-männischen Berufen (z. B. Industriekaufleute) häufig nicht direkt am konkreten Ar-beitsprozess beteiligt sind, sondern diese nur in Form von Belegen nachverfolgen können (vgl. Tramm 2009).

Im Zuge der Tertiarisierung der Arbeitswelt (ca. 70–80 % der Wirtschaftsleistung) erhalten kaufmännische Berufe zunehmend einen Dienstleistungscharakter, da unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs die Absatz- und Marketingstrategie bei vergleichbaren Produkten über die Marktposition entscheidet (vgl. Brötz/Kaiser 2015, 65 ff.; Pongratz 2012; Nerdinger 2011, 13 ff.; Birken/Dunkel 2013, 8; Kap. 2.1). Hiermit kommt der von Kaufleuten zu gestaltenden Schnittstelle zwischen Kundschaft und Unternehmen eine erfolgsbestimmende Funktion zu. Der Begriff der Dienstleistung 98 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

bedarf einer näheren Bestimmung, um das hieraus resultierende Konfliktpotenzial nachvollziehen zu können. Im Diskurs werden häufig die Merkmale Immaterialität der Leistung, Gleichzeitigkeit der Leistungserstellung und -nutzung (uno-actu-Prinzip) so-wie Kundenbeteiligung genannt (vgl. Pongratz 2012, 19; Nerdinger 2011, 15). Pongratz (2012, 19 f.) zeigt jedoch beispielhaft, dass die Abgrenzung mit diesen Kriterien nicht eindeutig gelingt, da es auch Dienstleistungsberufe gibt, auf die diese Kriterien nicht vollständig zutreffen. Andererseits haben auch Berufe, die nicht als Dienstleistungs-beruf gelten, Dienstleistungsanteile (z. B. Wartungs- und Notdienste bei Handwer-kern; vgl. Birken 2012; Birken/Dunkel 2013, 14 f.). Pongratz schlägt daher vor, immer dann von Dienstleistungscharakter der Arbeit zu sprechen, wenn Produktion und Konsum der Leistung in irgendeiner Form miteinander verschränkt sind (vgl. Pon-gratz 2012, 27 ff.). Dabei unterscheidet er zwischen dem primären nachgefragten Leis-tungsergebnis (im Falle des Einzelhandels der Verkauf der Ware) und sekundären Transaktionsleistungen, welche der Anbahnung und Förderung von Tauschgeschäf-ten dienen (z. B. Erlebnisshopping, KundenkarTauschgeschäf-ten; vgl. ebd., 28 f.). Durch die Ver-schränkung von Leistungserstellung und -nutzung besteht die Möglichkeit, die Leis-tung an die Kundenbedürfnisse anzupassen. Die hiermit angestrebte Kundenorientie-rung setzt jedoch eine anspruchsvolle dialogische Interaktion voraus (vgl. ebd., 28, 35;

Nerdinger 2011, 18 ff.; Munz/Wagner/Hartmann 2012, 51 f.; Birken 2012). Diese ist geprägt durch

• die erforderliche Ko-Produktion zwischen Kund/-innen und Dienstleistenden (vgl. Pongratz 2012, 39; Birken 2012, 2; Nerdinger 2011, 116; Hacker 2009, 8 ff.);

• die geringe Planbarkeit der Interaktion (vgl. Pongratz 2012, 38 ff.) in der direkten Konfrontation mit der Kundschaft (vgl. Birken 2012, 6; Hacker 2009, 71 ff., 98 ff.);

• die sozial kompetente Gestaltung der Beziehungsebene (vgl. Voswinkel/Korzekwa 2005, 30 ff.; Nerdinger 2011, 18 ff.; Hacker 2009, 70 ff.);

• die erforderliche Emotionsarbeit (vgl. Pongratz 2012, 23; Kaiser 2012, 170; Birken 2012, 8; Nerdinger 2011, 76 ff.; Birken/Dunkel 2013, 34 ff.; Hacker 2009, 61 ff.);

• Probleme der Prozess- und Ergebnisqualitätsmessung (vgl. Voswinkel/Korzekwa 2005, 28 ff.; Nerdinger 2011, 21 f.; Hacker 2009, 76 ff.);

• den dialektischen Widerspruch zwischen der Gewinnerzielungsabsicht der Dienst-leistenden und dem Dienstcharakter der Leistung (vgl. Munz/Wagner/Hart-mann 2012, 51–54; Brötz/Kaiser 2015, 83; Birken 2012, 5; Voswinkel/Korzekwa 2005, 52 ff.; Hacker 2009, 67 ff.).

Im Einzelhandel wurde mit dem Selbstbedienungskonzept die unternehmerische Entscheidung getroffen, die anspruchsvolle Möglichkeit einer individuellen Kunden-orientierung aus Kostengründen zu meiden (vgl. Kap. 2.1.2). Personalintensive Kun-denkontakte sollen auf ein Mindestmaß reduziert und Rationalisierungspotenziale aus-geschöpft werden (vgl. Pongratz 2012, 35 f.; Brötz/Kaiser 2015, 82 ff.; Munz/Wagner/

Hartmann 2012, 52; Brötz 2011, 214 f.). Unterstützt durch Kommunikations- und In-formationstechnologien können viele kaufmännische Unterstützungsfunktionen in die Dienstleistungserstellung integriert werden (vgl. Birken/Dunkel 2013, 53 f.).

Auf-Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 99

träge können im Kundengespräch z. B. direkt online erfasst werden (oft als erzwun-gene Ko-Produktion). Im Einzelhandel werden Warenbestandsveränderungen direkt an der Scannerkasse über das Warenwirtschaftssystem erfasst.

Die Ambivalenz der Kundenorientierung wird auch an der Semantik des Begriffs Dienst deutlich. Im Feudalismus war Dienst in der Regel mit der Untergebenheit un-ter einen Herren verbunden (vgl. Vorwinkel/Korzekwa 2005, 22–28). In der bürger-lichen Gesellschaft wurde Dienst als Pflichterfüllung verstanden (z. B. Militärdienst;

Staatsdienst von Beamten). Während Ersteres mit einer geringen gesellschaftlichen Stellung verbunden war, galt der Dienst im zweiten Sinne als ehrenhaft. Mit dem Ein-zug der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bekommt Dienst zunehmend den Cha-rakter einer Ware, deren Gegenleistung in Form von Geld als ver-dient gilt. Hierfür muss der Kundennutzen glaubhaft gemacht werden (vgl. Pongratz 2012, 24, 34 f.; Ner-dinger 2011, 15; Bruhn/Meffert 2002). Kaufleute übernehmen heute daher immer häufiger absatzorientierte anstelle administrativer Aufgaben (vgl. Pongratz 2012, 34, 65 ff.;

Birken/Dunkel 2013, 8). Während hochqualifizierte Dienstleistungen (z. B. Ärzte, Lehrkräfte, Rechtsanwälte, Steuerberater etc.) gesellschaftliche Anerkennung genie-ßen, gelten haushaltsnahe Dienstleistungen (z. B. die Pflege von Angehörigen; Haus-wirtschaft) zwar als moralisch anerkennenswert, sind jedoch mit einem geringen Sozialprestige verbunden (vgl. Birken/Dunkel 2013, 30 f.; Eberhard et al. 2009).

Die Leistung setzt sich aus einer sachlichen, sozialen und ökonomischen Dimension zusammen (vgl. Voswinkel/Korzekwa 2005, 28 f.). Während der Unternehmer sich vorrangig für den Deckungsbeitrag (= ökonomische Dimension) und die Kundenzu-friedenheit (= soziale Dimension) als Mittel zu deren Zweck interessiert (vgl. Nerdin-ger 2011, 21 f.), sind Kund/-innen an der Verfügbarkeit der von ihnen gewünschten Ware (= sachliche Dimension) sowie von Beratung und Service (= soziale Dimension) interessiert. Anhand dieser Konstellation lässt sich das hiermit verbundene Konflikt-potenzial aus Sicht dienstleistender Beschäftigter erarbeiten.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE