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Burn-out als Symptom misslungener Identitätsarbeit

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.6 Förderung psychischer Gesundheit durch Identitätsarbeit

3.1.6.1 Burn-out als Symptom misslungener Identitätsarbeit

Statistiken der BAuA (vgl. Abb. 39) liefern eine Reihe von Indizien für eine gefährdete Identitätsbalance. Fast die Hälfte der Fachkräfte klagt über zunehmenden Stress und steigende fachliche Anforderungen. Mehr als ein Drittel der beruflich Qualifizierten gibt an, in den letzten zwei Jahren von betrieblichen Umstrukturierungen betroffen gewesen zu sein (vgl. BAuA 2019, 32; Rigotti/Otto/Köper 2014). Die tatsächlichen Ar-beitszeiten liegen häufig deutlich über den vertraglich vereinbarten (vgl. Abb. 40).

Deutlich mehr als ein Drittel der Beschäftigten klagt über Müdigkeit und Erschöp-fung, ein Fünftel über Schlafstörungen (vgl. BAuA 2019, 29). Jedoch nur ein Sechstel der betroffenen Männer und weniger als ein Drittel der Frauen suchen professionelle Hilfe (vgl. Lademann et al. 2006; BPTK 2016). Frauen sind deutlich häufiger wegen psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig als Männer (vgl. BAuA 2019, 48).

130 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

hellblau: abgenommen, dunkelblau: gleich geblieben, mittelblau: zugenommen

Stress und fachliche Anforderungen nehmen zu (in % der Befragten) (BAuA 2019, 34; BIBB/

BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018)

Vertraglich vereinbarte und tatsächliche Arbeitszeiten (BAuA 2016, 36) Abbildung 39:

Abbildung 40:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 131

Burn-out als Syndrom psychischer und physischer Erschöpfung wurde 1974 erstmals von Herbert Freudenberger (1974) am Beispiel ehrenamtlicher Mitarbeiter/-innen von Hilfsorganisationen beschrieben. 1981 veröffentlichte Christina Maslach das auf so-ziale Helferberufe zugeschnittene Maslach Burn-out Inventory, welches trotz einiger testtheoretischer Mängel (vgl. Burisch 2014, 35 ff.; Voss/Weiss 2013, 38; Neckel/

Wagner 2013, 10) seitdem in 90 % aller empirischen Studien eingesetzt wird. Da es die Skalen Emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und Leistungsunzufriedenheit beinhal-tet, wird das Syndrom oft inhaltlich mit diesen drei Merkmalen gleichgesetzt, obwohl es eine verbindliche Definition nicht gibt und seine wissenschaftliche Anerkennung als Krankheit noch aussteht (vgl. Burisch 2014, 16, 22; Nerdinger 2011, 87; Hacker 2009, 233; Voss/Weiss 2013, 37 f.; Vogelmann 2013). Es ist als Gegenpol zum Engage-ment (vgl. Kap. 3.1.3.1) konzeptualisiert. Depersonalisation zeigt sich durch Zynis-mus, Leistungsunzufriedenheit durch das Gefühl, nicht genug zu bewirken. Burisch (2014, 18 f.) definiert Burn-out als Fehlbelastung, welche seit mehr als sechs Monaten Beschwerden von Müdigkeit und Erschöpfung erzeugt. Im fortgeschrittenen Stadium kann sie zum Ausscheiden aus dem Beruf und Suizid führen.

Mit dem Anstieg psychischer Erkrankungen erfreut sich das Phänomen in den letzten 10 bis 20 Jahren eines hohen Interesses in der Populärpresse (vgl. Heine-mann/Heinemann 2013; Vogelmann 2013). Seit 1991 wird Burn-out auch in der ICD-Klassifikation der WHO aufgeführt, jedoch nur als Problem der Lebensführung mit gesundheitlicher Auswirkung und nicht als anerkannte Krankheit (vgl. Burisch 2014, 7; Heinemann/Heinemann 2013; Vogelmann 2013). Laut BKK-Gesundheitsre-port (vgl. Knieps/Pfaff 2016, 62 ff.) sind die Arbeitsunfähigkeitstage mit der Zusatzdia-gnose Burn-out (Z73) zwischen 2004 und 2011 zunächst um das 18-fache gestiegen und seitdem rückläufig bis stagnierend (vgl. Burisch 2014, 18; Voss/Weiss 2013, 37 ff.). Ein-schließlich der Hauptdiagnosen Anpassungsstörung (F43), neurotische Störung (F48) und Unwohlsein/Ermüdung (R53) ist jedoch ein deutlicher Anstieg seit 2005 zu ver-zeichnen (vgl. Abb. 41).

Die Ursachen des Syndroms werden intensiv diskutiert: einerseits werden Persön-lichkeitsmerkmale der Betroffenen, andererseits Umgebungsvariablen des Arbeits-platzes verantwortlich gemacht (vgl. Hacker 2009, 235 ff.; Nerdinger 2011, 88; Burisch 2014, 170 ff.; Heinemann/Heinemann 2013). Burn-out wurde inzwischen für 60 Be-rufe beschrieben, die überwiegend mit Menschen zu tun haben und Emotionsarbeit erfordern (vgl. Burisch 2014, 23 ff.). Dass regelmäßige emotionale Dissonanzen – z. B.

durch Rollenkonflikte – Burn-out begünstigen, gilt als empirisch gesichert. Emotions-arbeit ist aber kein Risikofaktor (vgl. Hacker 2009, 2008; Nerdinger 2011, 89). Soziale Unterstützung und Handlungsspielräume stellen Schutzfaktoren dar (vgl. Nerdinger 2011, 89; Hacker 2009, 236). Burisch (2014, 171) kommt nach 25 Jahren Forschungsar-beit zu dem Schluss, dass als Ursache ein Misfit von Individuum zu gefährdenden Arbeitsbedingungen am plausibelsten ist (vgl. auch Hacker 1995, 258 f.). Letztere können gesellschaftspolitisch-sozialer Art sein oder die Organisations- und Arbeits-prozessgestaltung betreffen (vgl. Hacker 2009, 240). Da ein solches Misfit als Störung des Verhältnisses zwischen Person und Umwelt für die Betroffenen ein Identitäts-132 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

problem darstellt, kann Burn-out demnach als Beanspruchungsfolge dauerhaft ge-störter Identitätsbalance verstanden werden. Burisch (2014, 170 ff.) stellt fest, dass die jeweiligen Bedingungskonstellationen sehr individuell sind und daher die in der Me-dizin übliche Suche nach Risikofaktoren in die Irre führt (vgl. Voss/Weiss 2013, 43;

Heinemann/Heinemann 2013). Es gibt zahlreiche Phasenmodelle, welche den Ent-stehungsprozess von Burn-out beschreiben, empirisch jedoch nicht gesichert sind (vgl. Hacker 2009, 234 f.; Burisch 2014, 40 ff.). Burisch greift auf ein Modell gestörter Handlungsepisoden zurück (vgl. 2014, 143 ff.), welches durch Autonomieeinbußen ge-kennzeichnet ist, weil

• subjektiv bedeutsame Ziele nicht oder nur schwer erreichbar sind;

• negative Nebenwirkungen eintreten oder

• eine erhoffte Belohnung ausbleibt.

Arbeitsunfähigkeitstage der BKK-Mitglieder ohne Rentner, Burn-out-Syndrom und alternative Codierungen (Kneips/Pfaff 2016, 64)

Burn-out-Betroffene machen besonders häufig Erfahrungen gescheiterter Bewälti-gungsversuche, ohne dass zwischenzeitlich Erholungsmöglichkeiten bestehen. Diese können durch ungünstige Copingstile begünstigt werden, die häufig auf starke Mo-tive wie Helfen- oder Leistenwollen, hohe Erwartungen und Maßstäbe und man-gelnde Selbstfürsorge zurückzuführen sind (vgl. ebd., 155 ff.). Oft entsteht eine Ten-denz, sich nicht mehr weiter der Situation aussetzen zu wollen, ohne über geeignete Alternativen zu verfügen. Es entstehen Gefühle der Hilfslosigkeit, der Resignation und Sinnlosigkeit. Zahlreiche Autoren (vgl. Neckel/Wagner 2013; Voss/Weiss 2013;

Sennett 2000; Burisch 2014, 241 ff.) sehen einen engen Zusammenhang zwischen dem starken Anstieg psychischer Erkrankungen und den gesellschaftlich-sozialen

Be-Abbildung 41:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 133

dingungen einer neoliberal geprägten Wirtschaftsordnung. Burn-out sei eine Sozial-pathologie (vgl. Thunman 2013; Heinemann/Heinemann 2013; Vogelmann 2013). So weisen Voss/Weiss (2013) und Burisch (2014, 241 ff.) auf das dem Neoliberalismus in-newohnende Selbstbestimmungsparadox hin. Die durch Subjektivierung und Entgren-zung entstehenden Freiheiten führten durch sozialen oder persönlichen normativen Druck sowie indirekte Steuerungsmechanismen häufig zur Selbstausbeutung (vgl.

Gross 2005a). Die Erwerbstätigen seien zwar frei, aber nicht autonom (vgl. Burisch 2014, 248; Elster 2007). Hierzu gehört nach Auffassung Honneths (2002) die Forde-rung nach Selbstverwirklichung. Häufig gehe dies einher mit einer ideologieartigen Überidentifikation mit der Arbeit, dem Beruf oder dem Unternehmen (vgl. Kap. 5.2.5).

Die Beschäftigten glauben, sich mit eigenen Werten und Zielen zu identifizieren, die aufgrund normativer Zumutungen des sozialen Umfeldes internalisiert wurden (vgl.

Neckel/Wagner 2013; Burisch 2014, 245 ff.; Thunman 2013). Dem Arbeitgeber sei so ein Gesamtzugriff auf die Persönlichkeit der Beschäftigten möglich. Die positiven Ef-fekte von Identifikation (vgl. Kap. 3.1.3) treten aber nur vorübergehend ein und führen mittelfristig zu psychischen Erkrankungen und Arbeitsunfähigkeit. Thunman (2013) fand in qualitativen Interviews mit Burn-out-Erkrankten ausnahmslos Muster, die der Beschreibung einer Selbstverwirklichung im Sinne Honneths (2002) entsprachen, aber als integrativer Teil der eigenen Identität wahrgenommen wurden. Entscheidend sei nach Auffassung von Burisch (2014, 247), ob die Betroffenen noch über die Autono-mie verfügen, sich von den normativen Erwartungen des Umfeldes zu distanzieren.

Häufig findet eine Ernüchterung erst statt, wenn die Überforderung nicht mehr zu leugnen ist (vgl. Thunman 2013).

Da das Person-Umwelt-Verhältnis bei der Entstehung von Burn-out entschei-dend ist, sind persönliche Präventionstrainings zwar grundsätzlich sinnvoll, im Falle der Missachtung der Gestaltungskriterien humangerechter Arbeit (vgl. Kap. 3.1.4) können sie die Frustrationsspirale jedoch beschleunigen, wenn diese sich nicht än-dern lassen. Hacker (2009, 241) betont daher ebenso wie Burisch (2014, 247 f.), dass bedingungs- und personenbezogene Gestaltungsmaßnahmen Hand in Hand gehen müssen. Eine gemeinschaftliche Studie der BGHW und der DAK im Groß- und Ein-zelhandel (vgl. Marschall/Barthelmes 2016, 45 ff.) zeigt enge Zusammenhänge zwi-schen der betrieblichen Gesundheits- und Sicherheitskultur und der Arbeitsfähigkeit der Angestellten. Diese wurde mit dem empirisch validierten Work Ability Index (vgl.

Hasselhorn/Freude 2007; Ilmarinen/Tempel/Giesert 2002) gemessen. Dieser erfasst mit einem interaktionistischen Ansatz das Zusammenspiel von individuellen Voraus-setzungen und situativen Arbeitsbedingungen. Das Gesundheits- und Sicherheits-klima wurde mittels elf Dimensionen erfasst. Es wurden enge Korrelationen zwischen fast allen Dimensionen und dem Work Ability Index gefunden. Auffällig ist eine hohe Streuung zwischen den Betrieben. Am einflussreichsten ist der Stellenwert von Ge-sundheit im Unternehmen. Die GeGe-sundheits- und Sicherheitskultur im Handel ist nur mittelmäßig ausgeprägt – unbefriedigend sind insbesondere Partizipation und Infor-mation und gesundheitsförderliche Angebote sowie das diesbezügliche Problembewusst-sein der Führungskräfte (vgl. Abb. 42).

134 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Dimensionen der Gesundheits- und Sicherheitskultur im Handel (IGES Institut, Marschall/

Barthelmes 2016, 24)

3.1.6.2 Salutogenese

Während die Medizin mit ihrer Suche nach Ursachen und Risikofaktoren (Pathoge-nese) das Person-Umwelt-Verhältnis nur unzureichend würdigt, interessiert sich der Soziologe Aaron Antonovsky (1997) mit seinem Konzept der Salutogenese für die Vo-raussetzungen der Entstehung von Gesundheit. Dabei sieht er Gesundheit und Krankheit – aber auch Stressoren und Ressourcen – nicht als dichotome Zustände, sondern als Ausprägung auf einem Kontinuum (vgl. ebd., 22 f.); die pathogenetische und die salutogenetische Sichtweise sieht er als komplementär an (vgl. ebd., 29 f.; Hö-fer 2000, 86 ff.). Das Konzept stellt eine Weiterentwicklung des Stressmodells von Laza-rus dar (vgl. Abb. 43; Bengel et al. 60 ff.). Aufbauend auf Beobachtungen an Überleben-den des Holocaust, eigenen empirischen Untersuchungen und salutogenetischen Interpretationen pathogenetisch angelegter Studien entwickelt er seine Theorie des Sense of coherence (SOC). Dieses ins Deutsche als Kohärenzsinn oder -gefühl übersetzte Konstrukt umfasst sowohl kognitive, affektive, motivationale als auch verhaltensbezo-gene Aspekte. Es bezeichnet eine globale Orientierung (vgl. Antonovsky 1997, 36), die ausdrückt, in welchem Ausmaß ein Individuum darauf vertraut,

• Einflüsse aus der Umwelt zu verstehen (Verstehbarkeit: kognitiver Aspekt);

• über Ressourcen zur Bewältigung auftretender Anforderungen zu verfügen (Handhabbarkeit: verhaltensbezogener Aspekt);

• dass Anstrengungen einem sinnvollen Zweck dienen (Bedeutsamkeit: affektiv-mo-tivationaler Aspekt).

Abbildung 42:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 135

Stressmodell von Lazarus (Lazarus/Folkman 1987; Darstellung: Guttmann, P. CC-BY-SA 4.0)

Die motivationale Komponente beurteilt Antonovsky als die wichtigste, da sie das In-dividuum dazu bewege, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit zu verbessern (vgl. ebd., 36 f.). Der SOC entstehe durch Gruppen ähnlicher Lebenserfahrungen, welche durch

„Konsistenz, Partizipation bei der Gestaltung des Ergebnisses und einer Balance zwi-schen Überlastung und Unterforderung“ gekennzeichnet seien (vgl. ebd., 36). Zen-trale Determinanten des SOC seien „übergeordnete psychosoziale generalisierte Wi-derstandsressourcen und -defizite“ (ebd., 43 f.), welche den Sense of coherence durch die generalisierte Erfahrung (de)stabilisierten, da eingeübte Bewältigungsstrategien (nicht) verfügbar seien.

Stressoren könnten akute tägliche Widrigkeiten, chronische Erfahrungen inad-äquater Ressourcen oder wichtige Lebensereignisse sein, welche Spannungen erzeug-ten (vgl. ebd., 44). Ob Stressoren sich negativ, neutral oder gesundheitsförderlich aus-wirkten, hänge davon ab, wie die subjektive Bewertung des Stressors sei und ob geeignete Bewältigungsstrategien gefunden würden (vgl. Abb. 43; Antonovsky 1997, 123 ff.). Für diese Annahme gibt es aus der Stress- und Resilienzforschung bereits empirische Belege (vgl. Lazarus/Folkman 1987; Nöker/Petermann 2008; Wustmann 2005). Personen mit einem starken SOC hätten eine ausgeprägtere Disposition, neu-artigen Anforderungen offen gegenüberzustehen und ein breites Repertoire an mobi-lisierbaren Bewältigungsstrategien (vgl. Antonovsky 1997, 166). Bei einem schwachen SOC bestehe hingegen die Gefahr der Paralysierung und damit das Risiko des Schei-terns, welches eine weitere Destabilisierung des SOC zur Folge habe (vgl. ebd., 123 ff.;

Abbildung 43:

136 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Höfer 2000, 86 ff.). Besorgniserregend seien vor allem chronische Stressoren, welche den SOC regelmäßig durch die Erfahrung der Nichtverfügbarkeit geeigneter Hand-lungsoptionen schwächten (vgl. Antonovsky 1997, 43 ff.). Der SOC sei Ausdruck vor-handener Widerstandsressourcen des Individuums. Dieses könnten laut Antonovsky (1980, 102 ff; Höfer 2000, 80 ff.) sein:

• physische Ressourcen, die sich aus der körperlichen Disposition ergeben;

• materielle Ressourcen, z. B. Einkommen, Vermögen;

• psychische Ressourcen, z. B. Wissen, Intelligenz, Einstellungen;

• tiefe Beziehungen zu anderen Menschen, z. B. Eltern und Freunde;

• institutionalisierte Bindungen zu Gemeinschaften, z. B. die Betriebszugehörig-keit, der Sportverein, die Religionszugehörigkeit oder Ähnliches.

Als besonders wichtige psychische Ressource hebt Antonovsky mit Bezug auf die psy-chotherapeutischen Arbeiten von Erikson mit Jugendlichen (1966) die Ich-Identität hervor. Darunter versteht er ein Gefühl der inneren Person, welches integriert und stabil, aber dennoch dynamisch und flexibel, sozial eingebunden und autonom sei (vgl. Antonovsky 1980, 108; Höfer 2000, 80 ff.). Der SOC müsse sich nicht auf die ge-samte Erfahrungswelt einer Person beziehen, sondern könne auch auf einen Lebens-bereich begrenzt sein. Dieser darf nach Antonovsky (1997, 39 f.) jedoch nicht die eige-nen Gefühle, die unmittelbaren interpersonellen Beziehungen, die wichtigste eigene Tätigkeit und existentielle Fragen ausklammern. So wäre ein SOC für einen Vollzeit-beschäftigten nicht erreichbar, wenn er diesen allein in der Familie sucht.

Antonovsky entwickelte für das SOC-Konzept ein Messinstrument, welches in zahlreichen empirischen Studien erprobt wurde (vgl. ebd., 71 ff.). Eine von Eriksson/

Lindström (2006) durchgeführte Auswertung von 458 wissenschaftlichen Studien und 13 Dissertationen aus dem englischsprachigen und skandinavischen Raum, in denen die SOC-Skala zur Anwendung kam, hat (ebenso wie Höfer 2000 und Bengel et al.

2001) enge Zusammenhänge zwischen dem gemessenen SOC und Indikatoren für psychische Gesundheit gefunden. So besteht eine stark positive Korrelation zwischen psychischem Wohlbefinden und dem SOC, eine stark negative mit Burn-out und De-pression. In mehreren – jedoch nicht allen – Langzeitstudien erwies sich der SOC als guter Prädiktor für psychische Gesundheit. Eriksson/Lindström (2006, 379) plädieren daher unter Würdigung der Kritik am Konzept dafür, die Forschung bezüglich des Konzepts zu intensivieren und ihm eine stärkere Bedeutung in der gesundheitlichen Prävention beizumessen.

Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA; vgl. Ben-gel et al. 2001, 40 ff., 89 ff.) bemänBen-gelt eine unzureichende empirische Fundierung der theoretischen Annahmen sowie einige Widersprüche zwischen Theorie und Empirie.

So gebe es zwar zahlreiche Korrelationsbefunde in Querschnittstudien, aber kaum Erkenntnisse über Kausalitäten und den Entstehungsprozess des SOC (zur positiven Wirkungsweise des SOC auf Gesundheitsverhalten und Bewältigungsstrategien vgl.

Franke 1997). Entgegen der Annahmen von Antonovsky konnten keine Zusammen-hänge zwischen SOC und körperlicher Gesundheit gefunden werden. Auch die durch

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 137

Erikson (1966) inspirierte Annahme, der SOC bleibe nach Eintritt in das Erwachse-nenalter relativ stabil, ist nicht haltbar (vgl. Höfer 2000, 103, 271 ff.; Schiepe 2008;

Bengel et al. 2001, 92). Der Mehrwert des Konzepts sei nach Einschätzung der BzgA begrenzt, da es eine große Nähe zu ähnlichen, teils besser erforschten Konzepten wie Widerstandsfähigkeit (vgl. Kobasa/Maddi/Kahn 1982), Kontrollüberzeugungen (vgl.

Wallston/Wallston 1978), Resilienz (vgl. Wustmann 2005; Nöker/Petermann 2008), er-weitertes biopsychosoziales Modell (vgl. BzgA 2001, 16 ff.; Egger 2008) oder Selbstwirk-samkeit (vgl. Bandura 1977) aufweise (vgl. Bengel et al. 2001, 52 ff., 89 ff.; Höfer 2000, 96 ff.; zum Stand der Konstruktvalidierung vgl. Franke 1997). Antonovsky hatte jedoch ein ausgeprägtes Interesse, solche Erkenntnisse anderer Forschungslinien in seine Theorie zu integrieren. Die BzgA würdigt daher, dass das Salutogenese-Konzept eine integrative Gesundheitstheorie anbiete, welche den Blick ganzheitlich auf Ressour-cen, Umweltfaktoren und den Erwerb gesundheitsförderlicher Kompetenzen lenke, wie es die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (vgl. WHO 1986) fordere.

Unschwer ist die Nähe des Salutogenese-Konzepts zum Konzept Identität – wie es in Kapitel 1.4.5 konzeptualisiert wurde – erkennbar. Die Entstehung des SOC stellt eine übersituative Verarbeitung situativer Erfahrung dar, wie sie auch für Identitäts-arbeit typisch ist. Der SOC beinhaltet ebenso wie Identität Fragen des Subjekt-Um-welt-Verhältnisses, Vorstellungen vom eigenen Handlungsvermögen und Sinnfragen.

Renate Höfer (2000) wirft dabei die Frage auf, wie Identität, Gesundheit und Kohä-renzgefühl miteinander zusammenhängen und führt hierzu quantitative und qualita-tive Studien mit einer Kohorte benachteiligter Jugendlicher aus der Jugendhilfe durch. Hierbei vertritt sie ein Identitätsverständnis, welches alle fünf der in Kapi-tel 1.4.5 genannten psychischen Funktionen von Identitätsarbeit umfasst (vgl. Höfer 2000, 181 ff.; Straus/Höfer 1997). Höfer (2000, 64 ff.) präferiert das Salutogenese-Kon-zept gegenüber dem in der Medizin etablierten biopsychosozialen Modell, weil es die Einbeziehung der Identitätsarbeit ermöglicht. Höfer (ebd., 146 ff.) erarbeitet in der Auseinandersetzung mit identitätstheoretischen Stressbewältigungsmodellen (vgl.

Thoits 1991; Burke 1991; Berzonsky 1992) und ihren empirischen Befunden einen dreifachen Zusammenhang zwischen Identität, Gesundheit und Kohärenzgefühl (vgl.

Höfer 2000, 205 ff.):

• Stressoren können identitätsrelevant sein, wenn sie die Balance zwischen inneren und äußeren Bedingungen erschweren, z. B. Spannungsverhältnisse zwischen dem angestrebten und realisierbaren Selbstkonzept, soziale Konflikte, die In-fragestellung bedeutsamer Identitätsaspekte, Rollenübergänge oder regelmäßig wiederkehrende negative Erfahrungen, wie z. B. fehlende Anerkennung (vgl.

Kap. 3.1.5). Hierdurch können sowohl die Handlungsfähigkeit als auch die Errei-chung der Identitätsziele beeinträchtigt werden (vgl. Thoits 1991; Burke 1991; Ber-zonsky 1992).

• Identität kann Quelle des Kohärenzgefühls sein, wenn es dem Individuum gelingt, das Gefühl zu entwickeln, die Umwelt zu verstehen, in ihr erfolgreich agieren zu können und subjektiv sinnvolle (Identitäts-)Ziele zu verfolgen. Damit sind alle Komponenten des Kohärenzgefühls angesprochen.

138 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

• Gesundheit (bzw. ggf. Krankheit) stellt eine Teilidentität dar, welche das Verhältnis des Subjekts zu Krankheit und Gesundheit bestimmt und damit auch sein Ge-sundheitsverhalten beeinflusst.

3.1.6.3 Zwischenfazit

Die dargestellten Zusammenhänge zwischen Identitätsbalance, Handlungsorientie-rung und Gesundheit liefern weitere Argumente für die Notwendigkeit, berufliche Identitätsarbeit zu fördern (Forschungsfrage 3.1). Aus den genannten Befunden kann gefolgert werden, dass

• es enge Zusammenhänge zwischen gelingender Identitätsbalance und psychi-schem Wohlbefinden gibt und die Förderung von Identitätsarbeit der Prävention psychischer Erkrankungen einschließlich Burn-out dienen kann;

• das Bildungsziel beruflicher Handlungskompetenz eine gesundheitsförderliche Wirkung impliziert, wenn es sich nicht auf die Aspekte Verstehen und Können reduziert, sondern auch den subjektiven Sinn des Handelns erschließt;

• eine immer wieder geforderte Wende von der Defizit- zur Ressourcenorientie-rung in der Pädagogik positive Effekte auf das psychische Wohlbefinden und die Handlungsfähigkeit der Lernenden erwarten lässt und

• durch eine salutogenetische Perspektive die Möglichkeit der aktiven Beeinflus-sung des psychischen Wohlbefindens durch die Betroffenen deutlich wird. Das biopsychosoziale Modell (vgl. Egger 2008) betrachtet den Menschen zwar auch als Einheit von Leib und Seele in seiner sozialen Eingebundenheit, es nimmt aber nach wie vor die Perspektive eines Experten (= Arzt) ein, dessen Auftrag es ist, gesundheitliche Defizite zu beseitigen.

Antonovsky (vgl. 1997, 118 ff.; Bengel et al. 2001, 69 ff.) selbst schätzte die Möglichkei-ten der inMöglichkei-tentionalen Beeinflussung des Kohärenzgefühls als begrenzt ein. Dass in empirischen Studien bei einigen Proband/-innen große Veränderungen des SOC nach bedeutenden Lebenserfahrungen beobachtet wurden, spricht jedoch eher für eine Beeinflussbarkeit von außen (vgl. Höfer 2000, 271 ff.). So zielen z. B. die ressour-cenorientierte Psychotherapie und Coachingverfahren auf eine relativ kurzfristige Er-weiterung der Handlungsfähigkeit der Patienten bzw. Klienten ab, was den SOC über die Handlungs- und Sinnkomponente positiv beeinflussen dürfte.

Einschränkend ist anzumerken, dass ein hoher SOC nichts über die moralische Qualität eines sinnhaft erlebten Handelns aussagt. Antonovsky (vgl. ebd. 1997, 40 ff.) beobachtete auch Formen rigiden SOCs, der sich stark auf soziale Rollen und Zugehö-rigkeiten stützt (vgl. Tajfel 1982). Beispiele hierfür sind religiöser Fanatismus oder Rassismus (vgl. Kap. 5.2.5). So geht Antonovsky davon aus, dass die Protagonisten des Nazi-Regimes einen hohen SOC gehabt haben. Daher sind bei der Gestaltung der Person-Umwelt-Beziehung explizit auch ethische Aspekte der Identitätsarbeit zu be-leuchten. Da diese im Falle der kaufmännischen Dienstleistungsarbeit in einem öko-nomisch geprägten Umfeld zu leisten ist, sind hierfür wirtschaftsethische Ansätze relevant (vgl. Kap. 5.1).

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 139

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