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Berufliche Identifikation in der dualen Ausbildung im Einzelhandel

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.1.3 Vorteile von Identifikation, Commitment und Engagement .1 Definitionen der Konzepte.1 Definitionen der Konzepte

3.1.3.3 Berufliche Identifikation in der dualen Ausbildung im Einzelhandel

Wegen der besonderen Bedeutung von Identifikationen für den beruflichen Erfolg ist es wichtig zu wissen, wie sich Auszubildende mit ihrem Beruf identifizieren. Er-kenntnisse hierzu sind den Untersuchungen des ITB Bremen zu den Phänomenen des beruflichen und betrieblichen Engagements sowie der beruflichen Identitätsent-wicklung zu verdanken (vgl. Rauner et al. 2010; Heinemann/Rauner 2008; Heine-mann/Maurer/Rauner 2009). Die Autoren verstehen unter beruflicher Identität die subjektive (kognitive und emotionale) Disposition, die Berufsrolle zu übernehmen.

Diese deuten sie mit Bezug auf Blankertz als Dimension beruflicher Handlungskom-petenz (vgl. Heinemann/Rauner 2008, 10):

„Die Dramatik des doppelt-qualifizierenden Bildungsganges besteht darin, daß hier die Kompetenzentwicklung durch Sinnstrukturen reguliert ist, die vom Schüler einen Per-spektivenwechsel verlangen: Er muß eine spezifische Berufsrolle antizipieren und sich mit ihr identifizieren – anders würde keine Kompetenzentwicklung denkbar sein – […].“

(Blankertz 1983, 139)

Diese Annahme einer engen Beziehung zwischen Kompetenz- und Identitätsentwick-lung erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten empirischen Zusammenhänge zwischen Identifikation und beruflichem Erfolg plausibel. Dies setzt allerdings vo-raus, dass sich der Bildungsgang in ein persönliches berufsbiografisches Projekt ein-fügt (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 48 f.; Elster 2007, 127 ff.).

Den Begriff Engagement verwenden Heinemann/Rauner (vgl. 2010, 10 ff.) im Sinne des angloamerikanischen Begriffs Commitment und verstehen hierunter eine affektive Bindung zu einem Bezugsfeld. Hinsichtlich des Engagements unterscheiden Heine-mann/Rauner (2008, 11 f.) die motivationalen Bezugsfelder Beruf, Betrieb sowie Ar-beitsmoral. Mit Arbeitsmoral sind grundsätzliche Arbeitstugenden gemeint, welche unabhängig von einer Bindung oder Identifikation einzuhalten sind, wie Pünktlich-keit, HöflichPünktlich-keit, Verlässlichkeit. Anders als die Dienstleistungspsychologie unterstel-len Heinemann/Rauner (2008) die Förderung beruflicher Identität von vornherein als normatives Ziel und interessieren sich vor allem für die Frage, wie deren Entwicklung positiv beeinflusst werden kann. Daher werden die Konzepte Engagement und Identi-tät mit anderen Kontextvariablen (Voraussetzungen der Auszubildenden, Arbeits-und Lernumgebung) in Beziehung gesetzt (vgl. ebd., 3).

Um ein berufsübergreifendes, von den konkreten Inhalten einzelner Berufe los-gelöstes Instrument zu entwickeln, operationalisieren Heinemann/Rauner (2008, 12 f.) berufliche Identität mittels dreier Dimensionen:

• Einordnung in den beruflichen und betrieblichen Gesamtzusammenhang (Orien-tierung),

• Mitgestaltung von Arbeit und Technik (Gestaltung),

• Hochwertige Durchführung der eigenen Arbeit (Qualität).

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 109

Das Instrument wurde in mehreren empirischen Studien mit Auszubildenden unter-schiedlicher Berufe eingesetzt. Dabei zeigte sich durchgängig ein enger Zusammen-hang zwischen beruflicher Identität, beruflichem Engagement und – etwas schwächer ausgeprägt – dem von der Ausbildungsqualität abhängigen betrieblichen Engagement (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 16 ff., 35 f.). Die Ausbildungsberufe wiesen hinsichtlich der Identifikation mit dem Beruf erhebliche Unterschiede auf. In der KOMET-Studie in Hessen (vgl. Rauner et al. 2010) zeigten Elektroniker für Energie-und Gebäudetechnik (Handwerksberuf) z. B. eine deutlich geringere Identifikation mit ihrem Beruf als Elektroniker für Betriebstechnik (Industrieberuf). Hierbei schei-nen das Sozialprestige und die Attraktivität des Berufes sowie der Ausbildungsbe-triebe eine große Rolle zu spielen.

In einer Studie mit über 1500 Bremerhavener Auszubildenden aus über 40 Beru-fen (vgl. Abb. 30; Heinemann/Maurer/Rauner 2009) zeigt sich hinsichtlich der beruf-lichen Identifikation ebenfalls eine starke Spreizung. Eine hohe berufliche Identifika-tion zeigen z. B. Köche, Friseure und Automobilkaufleute. Viele kaufmännische und Verwaltungsberufe zeigen eine sehr niedrige Identifikation, z. B. Verwaltungsfachan-gestellte, SteuerfachanVerwaltungsfachan-gestellte, Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfen sowie Kauf-leute für Groß- und Außenhandel (vgl. ebd., 13 ff.). Verkäufer und Einzelhandelskauf-leute liegen im oberen Mittelfeld. Auffällig ist, dass Verkäufer/-innen Spitzenwerte hinsichtlich der Arbeitsmoral belegen (vgl. Abb. 31; ebd., 22). Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass die Geschäftszeiten und der rollierende Schichtdienst eine hohe Verlässlichkeit erfordern und auch die Einhaltung bestimmter Standards (z. B. Zeit-vorgaben, max. Anzahl von Kund/-innen an der Kasse) eine hohe Disziplin im Ar-beitsablauf erfordert. Bei einer Typisierung der Berufe hinsichtlich der Stärke beruf-licher und betriebberuf-licher Orientierung zeichnen sich die Verkäufer/-innen durch eine starke betriebliche Orientierung aus (vgl. Abb. 32). Die geringe berufliche Orientierung dürfte auf das reduzierte Berufsbild zurückzuführen sein, denn bei den Einzelhan-delskaufleuten tendiert die Orientierung stärker zu einer beruflichen Identifikation.

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* inkl. Kaufmann/-frau für Bürokommunikation, ** inkl. Fachkraft für Lagerlogistik

Berufliche Identität Bremerhavener Auszubildender nach Berufen (Heinemann/Maurer/

Rauner 2009, 15) Abbildung 30:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 111

Identität, Engagement und Arbeitsmoral – Einzelhandel im Vergleich zu anderen kfm. Berufen (Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 27)

Rauner et al. (2016) konnten die Befunde hinsichtlich des unterschiedlichen Identifi-kationspotenzials von Berufen in einer ähnlichen Studie mit 3339 Auszubildenden in Sachsen (davon 49 Verkäufer/-innen und 119 Einzelhandelskaufleute) in 71 Berufen weitgehend replizieren. Bei vielen Berufen – auch im Einzelhandel – beobachteten sie hierbei – wie schon Lewalter/Krapp/Wild (2001) bei Versicherungskaufleuten und Heinzer/Reichenbach (2013) bei Auszubildenden in der Schweiz – ein abnehmendes Ausbildungsinteresse während der Ausbildung.

Die Ursachen für die unterschiedlichen berufsspezifischen Identifikationspoten-ziale sind noch ungeklärt. Ein Blick auf die Liste der Berufe lässt vermuten, dass in den weniger identitätsstiftenden Berufen in höherem Maße Bedingungen vorherr-schen, welche Entfremdung begünstigen, wie z. B. eine hohe Arbeitsteilung, geringe Autonomie, geringe Anerkennung und eine abstrakte Beziehung zwischen Tätigkeit und Produkt (vgl. Casper 2021, 41 ff.). Baethge (2014) nimmt an, dass die berufliche Identität in der interaktiven Dienstleistungsarbeit stärker in den individuellen

Kom-Abbildung 31:

112 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

petenzen als im Produktstolz wurzelt. In den Fallstudien der Verfasserin (vgl. An-hang 2) war diese kompetenzbasierte Form der Identifikation bei fünf (von vierzehn) Befragten stark ausgeprägt (vgl. Lara, Hauke, Markus, Sophie, Nils). Besonders häufig war auch eine Identifikation über Lebensziele und Interessen anzutreffen. Die Ausbil-dung wurde hier vorrangig als Mittel zum Zweck der späteren Selbstverwirklichung gesehen (vgl. Bastian, Ciara, Jennifer, Alina, Ahmet, Hendrik, Berat), die aber bei acht der zwölf genannten Befragten in einem anderen Beruf stattfinden soll (vgl. Lara, So-phie, Bastian, Ciara, Jennifer, Ahmet, Hendrik). Kostas und Jasper identifizierten sich gar nicht. Zudem erweist sich der Kundenkontakt als starkes Motiv für die Berufs-wahl. Außer Kostas, Ciara und Jasper weisen alle Befragten stark überdurchschnitt-liche Werte für die Selbstkonzeptskala für Kommunikations- und Umgangsfähigkeit FSKU auf (vgl. Anhang 1d und 1 f).

* allgemein schwächere Werte

Typisierung der Berufe nach beruflicher und betrieblicher Orientierung (Heinemann/Maurer/

Rauner 2009, 33) Abbildung 32:

Die synchrone Perspektive: Bewältigung beruflicher Handlungssituationen 113

Hinsichtlich der persönlichen Merkmale der Auszubildenden konnten in den ITB-Studien keine Zusammenhänge zwischen Wohnort, schulischer Vorbildung, Migra-tionshintergrund und Ausprägung von Identität und Engagement festgestellt werden (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 47 f.). Eine große Rolle spielt jedoch, ob es sich beim Ausbildungsberuf um den Wunschberuf handelt. Dies ist jedoch nicht ein-mal bei der Hälfte der Befragten der Fall (vgl. ebd., 58; Rauner et al. 2016, 6 f., 39 ff.).

Eine gute Arbeitsatmosphäre wirkt sich positiv auf das betriebliche Engagement aus, nicht aber auf die berufliche Identität (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 49 f.).

Die gezielte Unterstützung der Auszubildenden durch Ansprechpartner sowie die Ein-bindung in die betriebliche Expertenkultur fördern sowohl Identität als auch Engage-ment (vgl. ebd., 50 f.). Ähnliche Zusammenhänge wurden in den bereits vorgestellten qualitativen Studien mit Auszubildenden im Einzelhandel festgestellt (vgl. Kap. 2.4.2;

Duemmler/Caprani/Felder 2017, 18, 29; Kutscha/Besener/Debie 2012, 415 f.). Als be-sonders wichtig für die Entwicklung einer beruflichen Identität erweisen sich gehalt-volle Arbeitsaufgaben, welche es ermöglichen, erlerntes Wissen praktisch anzuwen-den (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 52 f.; ebenso Duemmler/Caprani Felder 2017, 25 ff.; Piening et al. 2012). Heinzer/Reichenbach (2013) stellten in einer Studie mit Auszubildenden in der Schweiz positive Zusammenhänge zwischen wahrgenom-mener Kongruenz von subjektiv wahrgenommenen Anforderungen und Kompeten-zen sowie der selbst eingeschätzten beruflichen Motivation einerseits und beruflicher Identifikation, Selbstwirksamkeit und Selbstwert andererseits fest. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das persönliche Interesse, die soziale Einbindung und die Art der Aufgabenstellung wichtige Faktoren sind, um berufliche Identität gezielt zu för-dern.

Aufgrund dieser Befunde sehen Heinemann/Maurer/Rauner (2009, 55 ff.) die Notwendigkeit, Auszubildende in die Arbeits- und Geschäftsprozesse einzubinden, um ein Zusammenhangverständnis zu fördern, welches die Entwicklung beruflicher Identität begünstigt (vgl. Rauner et al. 2016, 10 ff.). Insbesondere bei breitbandigen Kernberufen wie den Einzelhandelsberufen sehen sie – wie schon von Duemmler/

Caprani/Felder (2017) und Kutscha/Besener/Debie (2009, 2012) gefordert – vor allem die beruflichen Schulen in der Pflicht, die Entwicklung beruflicher Identität zu för-dern (vgl. Heinemann/Maurer/Rauner 2009, 34, 57). Hierzu sei jedoch eine Verbesse-rung der Lernortkooperation erforderlich, da diese von zwei Dritteln der Auszubilden-den als verbesserungsfähig eingeschätzt wird (vgl. ebd., 45 ff.; Rauner et al. 2016, 136 ff.). Darüber hinaus müsse die Berufsorientierung im Vorfeld verbessert werden, um eine bessere Passung zwischen Berufswünschen und Ausbildungsangebot zu er-zielen (vgl. Rauner et al. 2016, 7 f.). Von einer gezielten Förderung beruflicher Identität in der dualen Ausbildung erwarten die Autoren nicht nur eine Unterstützung der Kompetenzentwicklung der Auszubildenden, sondern auch eine erhöhte Attraktivität der dualen Ausbildung.

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3.1.3.4 Zwischenfazit

Als weiterer Grund für die Notwendigkeit, berufliche Identitätsarbeit in synchroner Perspektive zu fördern (Forschungsfrage 3.1), kann nun Folgendes resümiert werden:

Von einer beruflichen oder betrieblichen Identifikation der Beschäftigten profitieren alle drei Beteiligten der Dienstleistungstriade: die Beschäftigten durch Wohlbefinden und psychische Gesundheit, die Kundschaft durch einen besseren Service und das Dienstleistungsunternehmen durch ökonomischen Erfolg. Für Betriebe ist es daher einerseits wichtig, potenzielle identitätsrelevante Aspekte – wie z. B. das Interesse für den Beruf, die Branche, die Produkte oder die Identifikation mit einer Marke – schon bei der Personalauswahl zu berücksichtigen (vgl. Gammoh et al. 2014). Andererseits müssen Arbeitsplätze so gestaltet sein, dass persönliche Bedürfnisse, Ziele, Wünsche und Interessen der Angestellten berücksichtigt werden können, um potenziellen Konflikten vorzubeugen.

Vorliegende Studien zur dualen Ausbildung zeigen, dass bei bestimmten Beru-fen generell eine niedrige Identifikation vorliegt und in vielen BeruBeru-fen das Interesse an der Ausbildung im Verlauf abnimmt. Berufliche Identifikation ist in der dualen Ausbildung offensichtlich kein Selbstgänger und bedarf einer gezielten Förderung.

Mehrere Studien stellen unabhängig voneinander für die Berufe des Einzelhandels einen besonders hohen Förderbedarf fest. Dies betrifft besonders die Verkäufer/-in-nen. Die empirischen Studien geben bereits Hinweise darauf, wie eine Arbeits- und Lernumgebung identitätsförderlich gestaltet werden kann. Dabei sind die Interessen der Betroffenen, die Qualität der Aufgaben und damit verbundene Handlungsspiel-räume sowie die Art der sozialen Einbindung von hoher Relevanz. Die Gestaltung der Lern- und Arbeitsumgebung wird nun im folgenden Kapitel eingehender betrachtet.

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