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Risiken und Chancen berufsbiografischer Gestaltung

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.2 Die diachrone Perspektive: berufsbiografische GestaltungGestaltung

3.2.5 Risiken und Chancen berufsbiografischer Gestaltung

Die empirisch vorzufindenden berufsbiografischen Strategien einerseits und die bil-dungspolitischen Forderungen andererseits werfen Fragen auf. Einerseits fällt auf, dass sicherheitsorientierte Strategien auch in den jüngeren Studien trotz des dynami-schen Umfeldes noch immer sehr verbreitet sind. Andererseits scheint Selbstverwirk-lichung im Beruf trotz eines Trends zur Individualisierung und vielfältiger beruflicher Optionen nicht die Regel zu sein. Die nachfolgend referierten Studien diskutieren mögliche Ursachen und die mit berufsbiografischen Strategien verbundenen Chan-cen und Risiken.

Die Arbeitspsychologinnen Grote/Raeder (2003) stellten erhebliche Inkongruen-zen zwischen Erwartungen der Beschäftigten und Angeboten der Unternehmen fest.

Sie untersuchten, wie Unternehmen auf unterschiedliche berufsbiografische Ge-staltungsmodi reagieren. Sie befragten in drei Unternehmen (Dienstleistung und Industrie) 59 Akademiker und Nichtakademiker mit und ohne Berufswechsel zwi-162 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

schen 40 und 50 Jahren. Sie erhoben neben den berufsbiografischen Identitätstypen (vgl. Tab. 3) auch das Ausmaß der Flexibilisierung im Unternehmen und die Bewer-tung bestimmter personalpolitischer Instrumente als Elemente des psychologischen Vertrags zwischen Beschäftigten und Unternehmen. Bei steigender Flexibilisierung bleibt das Sicherheitsbedürfnis der Arbeitnehmer/-innen ungebrochen. Beschäftigte mit destandardisierten Berufsbiografien haben in der Regel schlechter ausgestattete Arbeitsverhältnisse als kontinuierlich Beschäftigte, d. h. ihre Flexibilität wird nicht honoriert. Zudem stellten Grote/Raeder fest, dass vor allem der Kritisch-flexible und der Berufszentrierte Typ (zusammen ca. 40 % der Befragten) den psychologischen Ver-trag negativ beurteilten, während der Selbstbestimmte und der Kontinuierliche Typ die-sen positiv bewerteten. Die Unzufriedenheit könnte auf nicht realisierbare Karrie-reambitionen zurückzuführen sein (vgl. Pongratz/Voss 2003, 2004). Grote/Raeder (2003) monieren, dass den steigenden Flexibilitätsforderungen der Unternehmen keine ausreichenden Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit gegen-überstehen. Aus dem Projekt heraus wurden maßgeschneiderte personalpolitische Empfehlungen – insbesondere zur Verbesserung der funktionalen Flexibilität (vgl.

Kap. 2.3.1) – ausgesprochen, die teilweise auch umgesetzt wurden.

Vor dem Hintergrund fehlender Wertschätzung beruflicher Flexibilität wird die häufig anzutreffende Kombination aus hoher Leistungsorientierung und sicherheits-orientierter berufsbiografischer Gestaltung plausibel. Pongratz/Voss (2004) geben je-doch zu bedenken, dass diese Strategie ein hohes Risiko und Frustrationspotenzial birgt. Dies ist beispielsweise bei betriebsbedingten Kündigungen der Fall. Dies war z. B. in der Automobil- und Textilindustrie zu beobachten, als die Produktion ins Aus-land verlagert wurde. Der erbrachten persönlichen Leistung der Beschäftigten steht dann keine Loyalität des Unternehmens mehr gegenüber. Zudem zeigen sich Arbeit-nehmer/-innen, die auf betriebliche Stabilität und berufsbiografische Kontinuität set-zen, in solchen Phasen weniger anpassungsfähig als solche, die bereits berufsbiogra-fische Brüche erlebt haben oder diese antizipieren. Fischer/Witzel (2008) stellten in einer Sekundäranalyse des von Witzel/Kühn (1999) erhobenen Interviewmaterials fest, dass es enge Zusammenhänge zwischen den berufsbiografischen Gestaltungs-modi und den Qualifizierungsstrategien der Befragten gibt. Beschäftigte mit starker Betriebsidentifizierung oder einem Lohnarbeiterhabitus zeigten sich weniger geneigt, über den eigenen Arbeitsplatz hinaus weisendes praktisches und theoretisches Ar-beitsprozesswissen zu erwerben. Ihr rein an betrieblichen Bedürfnissen ausgerichte-tes Profil droht am Arbeitsmarkt einen geringen Tauschwert zu haben (vgl. Kehl/

Kunzendorf 2006, 94; Preissler 2004; Kirpal/Brown/M’Hamed Dif 2007). Wenn die Leistungsorientierung mit Karriereambitionen verbunden ist, ist das Frustrationspo-tenzial hoch, wenn die erhofften Karriereschritte ausbleiben (vgl. Preissler 2004). Dies ist angesichts sich abflachender Hierarchien immer wahrscheinlicher (vgl. Kap. 2.3.4 und 3.2.1). Ashforth/Harrison/Corley (2008) empfehlen im Sinne größerer Flexibili-tät, die berufliche Identität auf abstraktem Niveau zu definieren, sodass möglichst viele konkrete Ausprägungen darunter subsumiert werden können (vgl. ebenso Wolf/

Kastner 2006). Eine berufliche Identität biete mehr Flexibilität als eine betriebliche. So

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kann ein Industriemechaniker, der von einem Automobilbauer entlassen wird, auch in anderen Branchen arbeiten.

Während Pongratz/Voss auf die Risiken sicherheitsorientierter Strategien hin-weisen, lenken andere Studien den Blick auf die mit destandardisierten Berufsbiogra-fien verbundenen Chancen. Klatt/Nölle (2006) stellten in einer qualitativen und quan-titativen Befragung von Beschäftigten der Medien/IT-Branche (NErVUM) fest, dass Befragte mit häufigen Beschäftigungswechseln über deutlich mehr fachliche und überfachliche Kompetenzen sowie eine deutlich höhere Lernbereitschaft verfügten.

Kehl/Kunzendorf (2006) kamen in einer empirischen Studie (VICO) mit Beschäftig-ten in virtuellen ArbeitskontexBeschäftig-ten zu einem vergleichbaren Ergebnis. Destandardi-sierte Berufsbiografien waren in diesem Kontext die Regel. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass die erworbenen Transitionskompetenzen dieser Zielgruppe und die größere Aufgeschlossenheit für organisationale Veränderungsprozesse eine wertvolle Ressource für die Innovationskraft von Unternehmen und organisationales Lernen darstellen. Raeder/Grote (2007) analysierten die berufliche Identitätsentwicklung von dreißig Erwerbstätigen mit Beschäftigungswechsel im Alter von 40–50 Jahren. Die Proband/-innen hatten die Übergänge dank eines attraktiven Qualifikationsprofils, günstiger Arbeitsmarktbedingungen und eines flexiblen berufsbiografischen Gestal-tungsmodus erfolgreich bewältigt. Auf sehr idiosynkratische, bejahende und flexible Art und Weise gelang es ihnen, einen roten Faden in ihrer Berufsbiografie zu konstru-ieren. Da Identitätsarbeit viele überfachliche Kompetenzen und Wissensstrukturen erfordert, kann dies als weiterer Beleg für die Kompetenzförderlichkeit positiv bewäl-tigter berufsbiografischer Brüche gewertet werden. Angesichts der dargelegten Be-funde ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb destandardisierte Werdegänge bei der Personalauswahl häufig als Makel gewertet werden (vgl. Klatt/Nölle 2006; Raeder/

Grote 2007, 176 f.). Obwohl die Befragten ihre Übergänge selbstständig bewältigten, fordern Raeder/Grote (2007), die hierzu erforderliche berufliche Identitätsarbeit aktiv zu unterstützen.

Dass dies tatsächlich notwendig ist, zeigen empirische Untersuchungen im Rah-men des Projektes Vocational Identity, Flexibility and Mobility in the European Labour Market – FAME. Qualitative Interviews mit 345 Beschäftigten des Metall-, Telekom-munikations- und Krankenpflegesektors zeigten, dass viele Beschäftigte sich mit den Flexibilitäts- und Mobilitätszumutungen der Arbeitgeber alleingelassen und überfor-dert fühlen (vgl. Kirpal/Brown/M’Hamed Dif 2007). Eine große Gruppe der Befragten sieht in der aktuellen Tätigkeit nur einen Kompromiss und zeigt eine aktive oder pas-sive Wechselbereitschaft.

Auch empirische Studien zum Weiterbildungsverhalten von Arbeitslosen zeigen, dass die berufliche Identitätsentwicklung nicht ausreichend gefördert wird. Hendrich (2005) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass beschäftigungspolitische Maßnah-men wie Berufsberatung und staatlich geförderte Weiterbildungsangebote vorrangig schnellstmögliche Beschäftigungsfähigkeit der zu Vermittelnden anstreben. Meist werden die Betroffenen auf Erwerbssegmente verwiesen, in denen eine hohe Nach-frage seitens der Arbeitgeber besteht. Widerstand gegen Weiterbildungsmaßnahmen sei oft auf die fehlende Berücksichtigung der Perspektive der Betroffenen zurückzu-164 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

führen. Dabei wird außer Acht gelassen, ob diese Berufe ihren Zielen und Wünschen entsprechen.7 Auch ausländische Vertreter der Laufbahnforschung (vgl. Cort/Thom-sen 2014; Plant/ThomCort/Thom-sen 2011; Law/Meijers/Wijers 2002; Arthur 2014) kritisieren, dass beschäftigungspolitische Maßnahmen den Interessen der Betroffenen oft entge-genstehen. Dies sei an einem aktuellen Beispiel illustriert: Aktuell werden Arbeitssu-chende häufig auf Branchen mit Fachkräftemangel wie die Altenpflege, Kinderbetreu-ung oder den Friseurberuf verwiesen. Diese Berufe zeichnen sich durch ein geringes Einkommensniveau aus, welches die Deckung des Lebensunterhaltes nicht sicher-stellt. Die Entscheidung für einen solchen Beruf hat damit erhebliche Auswirkungen auf das Privatleben und wird häufig nur akzeptabel sein, wenn eine Entwicklungsper-spektive mit höheren Verdienstmöglichkeiten besteht. Hendrich (2005) sieht daher die Notwendigkeit, in der Erwachsenenbildung und Berufsbildung eine erwerbsbio-grafische Gestaltungskompetenz zu fördern, die Erwerbstätige befähigt, die eigene Berufsbiografie auf Basis eines Selbstkonzepts und persönlichen Urteilsvermögens aktiv zu gestalten. Diese Forderung wird durch Befunde von Billet/Somerville (vgl.

2004; Billett 2007) gestützt. Sie zeigen mithilfe empirischer Beispiele, dass Lernen und Veränderungsprozesse am Arbeitsplatz sowie die berufliche Identität der Er-werbstätigen unmittelbar miteinander zusammenhängen und sich wechselseitig be-einflussen. Eine Politik, die Lebenslanges Lernen fördern will, müsse daher an den Interessen und Zielen der Betroffenen ansetzen. Hiervon profitierten auch die Be-triebe, da Erwerbstätige ihr Handlungs- und Gestaltungspotenzial nur unter diesen Voraussetzungen optimal einbringen könnten (vgl. Kap. 3.1.3).

Die Befunde zeigen, dass weder eine bewegte destandardisierte noch eine stabile Berufsbiografie per se gut oder schlecht ist. Die Bewertung hängt von den Zielen, Werten und Wünschen der Betroffenen ab. Entscheidend ist, ob der oder die Erwerbs-tätige seiner Berufsbiografie einen Sinn zu geben vermag und dieser von seiner sozia-len Umwelt anerkannt wird (vgl. Witzel/Kühn 1999; Heufers 2015, 24 ff., 51 ff., 168 ff.;

Faulstich/Bracker 2014; Billett 2007; Billett/Somerville 2004). Es wurde deutlich, dass Erwerbstätige einerseits von außen einwirkende Einflüsse reaktiv bewältigen, anderer-seits aber auch aktiv Veränderungen anstreben können, um den von ihnen angestreb-ten Sinn zu erzeugen. Insofern bergen die Rahmenbedingungen der Arbeitswelt Chancen und Risiken zugleich, wobei reaktive, sicherheitsorientierte Strategien sich in einem dynamischen Umfeld paradoxerweise als risikoreicher erweisen. Die für die erfolgreiche Bewältigung beruflicher Übergänge erforderliche Identitätsarbeit wird derzeit jedoch weder von der Beschäftigungspolitik noch seitens der Arbeitgeber hin-reichend unterstützt (vgl. Billett 2007; Grote/Raeder 2003; Hendrich 2005; Cort/

Thomsen 2014).

7 Von den vierzehn befragten Auszubildenden (vgl. Kapitel 2.4.2) berichten drei von fehlender finanzieller Unterstützung der Jobcenter für sinnvolle berufsbiografische Veränderungen (vgl. Anhang 2p). Auf diese Schwierigkeit waren sie nicht vorbereitet, da solche Situationen in der Berufsschule nicht behandelt wurden.

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