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Chancenungleichheit und soziales Kapital

Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

3.2 Die diachrone Perspektive: berufsbiografische GestaltungGestaltung

3.2.6 Biografische Projekte Jugendlicher

3.2.6.2 Chancenungleichheit und soziales Kapital

Auffällig ist, dass der in den Jugendstudien zum Ausdruck kommende Optimismus mit nur rund einem Drittel in der sozialen Unterschicht und ca. der Hälfte in der unteren Mittelschicht deutlich geringer ausgeprägt ist als in höheren gesellschaft-lichen Schichten (vgl. Albert/Hurrelmann/Quenzel 2016, 14; Ratschinski 2017). Junge

Abbildung 50:

168 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

Menschen sind sich darüber im Klaren, dass die soziale Herkunft und die Bildungs-karriere die künftigen Entwicklungschancen maßgeblich beeinflussen (vgl. Leven/

Quenzel/Hurrelmann 2016, 66 ff.; Baethge 2011; Bremer 2012; Wenzel 2011; Maaz/

Baumert/Trautwein 2011; Geissler 2006). Die Bildungsaspirationen junger Menschen nehmen daher weiter zu. Das Gymnasium ist die beliebteste Schulform (41 % aller Schüler/-innen). Viele streben in integrierten Schulformen (24 %) das Abitur an (vgl.

Leven/Quenzel/Hurrelmann 2016, 66 ff.). Rund die Hälfte der jungen Menschen in der sozialen Unterschicht hat jedoch bereits die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Berufswünsche aufgrund fehlender schulischer Voraussetzungen nicht verwirklichen ließen (vgl. Leven/Quenzel/Hurrelmann 2016, 73 f.).

Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass im deutschen Bildungssystem frühzeitig Weichenstellungen erfolgen, die die Zugangschancen zu attraktiven Segmenten des Arbeitsmarktes beeinflussen. Sozio-emotionale Ressourcen – insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung – erweisen sich als entscheidend für die spätere Kompe-tenzentwicklung (vgl. Bois-Reymond 2016). Zudem spielen Bildungsaspirationen eine große Rolle (vgl. Müller 2014). Das dreigliedrige deutsche Schulsystem ist hochgradig selektiv: Bereits in der Primarstufe fällt eine Entscheidung über die weiterführende Schule (vgl. Schmillen/Stüber 2014). Der Schulabschluss der Eltern ist trotz formaler Chancengleichheit der beste Prädiktor für die Chance eines Kindes, das Gymnasium zu besuchen (vgl. Bundesregierung 2017, 228 ff.; Maaz/Baumert/Trautwein 2011;

Geissler 2006). Durch die Antizipation der künftigen Erwerbsverläufe und die sozio-kulturell bedingten unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden wirkt das wettbewerbsorientierte Wirtschaftssystem zurück auf das Bildungssystem (vgl. Ce-chura 2015, 94 ff.).

Die Folgen sind besonders an den beruflichen Schulen sichtbar, wo die künftigen gesellschaftlichen Subsysteme in Form von Bildungsgängen unter einem Dach ver-eint sind: Wirtschaftsgymnasium, duale Berufsausbildung, Fachoberschule und Bil-dungsgänge des Übergangssystems (vgl. Wenzel 2011; Ratschinski 2017). Hierbei ist das duale Berufsbildungssystem selbst hochgradig exklusiv: ca. 79.000 Jugendliche des Jahrgangs 2015 fanden nicht den gewünschten Ausbildungsplatz. Hinzu kommen ca. 189.000 Altbewerber (vgl. BMBF 2019, 73 ff.). Unternehmen bestimmen über eine bildungsmeritokratische Einstellungspolitik die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeits-markt (vgl. Baethge 2011, 297 ff.). Jugendlichen ohne Schulabschluss oder mit Haupt-schulabschluss stehen am Ausbildungsmarkt oft nur Ausbildungsberufe im Niedrig-lohnsegment wie Gastronomie, Einzelhandel und Altenpflege offen (vgl. Eckelt/

Schmidt 2014, 10). Diese Berufe sind aus Sicht der Betroffenen mit einem geringen Prestige verbunden (vgl. Eberhard et al. 2009). Insbesondere für Migrant/-innen und Jugendliche mit Behinderungen ist der Zugang zur Berufsausbildung erschwert (vgl.

BMBF 2019, 44 ff.; Imdorf 2011; Wenzel 2011). Nur ca. 3500 von 50.000 jährlichen Schulabgängern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelingt es, direkt eine regu-läre duale Ausbildung zu beginnen (vgl. Euler/Severing 2014, 21). Das Arbeitslosig-keitsrisiko ist für Jugendliche ohne Berufsausbildung besonders hoch (vgl. Frick et al.

2014; Bundesagentur für Arbeit 2017a; Imdorf 2011). Über 2,1 Mio. junge Menschen

Die diachrone Perspektive: berufsbiografische Gestaltung 169

zwischen 20 und 34 Jahren (14,2 %) verfügen über keinen Berufsabschluss (vgl. BMBF 2019, 43). Trotz stark gesunkener Zahlen beginnen noch immer 270.000 Jugendliche jährlich Bildungsgänge des Übergangssystems (vgl. BMBF 2019, 30 f.) mit fragwürdi-ger Wirksamkeit (vgl. Stomporowski 2007; BIBB/Bertelsmann 2011; Ratschinski 2017).

Die duale Berufsausbildung hat dabei ein Janusgesicht, denn die Gewinner/-in-nen eines Ausbildungsplatzes sind zugleich Verlierer/-inGewinner/-in-nen gegenüber Hochschul-absolventen, die im Durchschnitt 70 % mehr als beruflich Qualifizierte verdienen und bessere Arbeitsmarktperspektiven haben (vgl. Baethge 2011; Geissler 2006; Briedis 2013; Frick et al. 2014). Der Anteil der Studienberechtigten hat sich von 36,4 % im Jahr 1995 auf 52,1 % im Jahr 2016 deutlich erhöht. Die Zahl der Studienanfänger/-innen verdoppelte sich seit 1995 nahezu auf ca. 511.000 im Jahr 2017 (vgl. Maaz et al. 2018, 338 f.). Während das duale Berufsbildungssystem im Ausland nach wie vor eine hohe Reputation genießt, wird in Deutschland vor Akademisierungswahn gewarnt (vgl. Seve-ring/Teichler 2013; Nida-Rümelin 2014; Frick et al. 2014). Dabei zeichnet sich auch in der Hochschullandschaft durch die Gründung von Privathochschulen und das durch die Exzellenzinitiative forcierte Spitze-Breite-Dilemma zwischen Lehre und For-schung eine Differenzierung ab (vgl. Maaz et al. 2018, 151 ff.; Kreckel 2011). Seit der Bologna-Reform wird eine Verschulung der Hochschulbildung beklagt, die kaum noch Raum für selbstgesteuerte Lernaktivitäten lasse (vgl. Winter 2009; Naeve-Stoss 2013). Rosenstiel/Frey (2012) warnen davor, Universitäten zu verwertungsorientierten Berufsbildungsinstitutionen zu degradieren.

Im Vergleich zur Situation Jugendlicher in anderen europäischen Staaten stellt die deutsche Situationsanalyse ein Jammern auf hohem Niveau dar. Während Jugendar-beitslosigkeit in Deutschland ein Minderheitenproblem darstellt, ist es seit der Fi-nanzkrise in den südeuropäischen Ländern das Schicksal vieler Kohorten von Schul-abgänger/-innen (vgl. Frick et al. 2014). Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dabei in der Regel deutlich höher als die Erwachsenenarbeitslosigkeit. Im Juli 2018 erreicht die Jugendarbeitslosigkeitsquote in der EU 14,8 % (Erwachsene 6,8 %) – in etwa das Ni-veau vor der Finanzkrise. Zwischenzeitlich war sie 2013 auf 23,7 % angestiegen. Dies entspricht etwa 3,3 Mio. arbeitslosen Jugendlichen im Jahr 2018 gegenüber 4,2 Mio.

im Jahr 2008. Dahinter verbergen sich extreme Unterschiede zwischen den Mitglieds-staaten: Die Jugendarbeitslosigkeitsquoten liegen auf dem gesunkenen Niveau noch immer zwischen 5,5 % in Malta, 6,2 % in Deutschland, 7,2 % in den Niederlanden und 42,3 % in Griechenland, 34,1 % in Spanien und 32,6 % in Italien (vgl. European Union 2018).

Erschwerend kommt hinzu, dass eine hohe Zahl junger Menschen in keiner die-ser Statistiken enthalten ist, weil sie weder in Bildung, Ausbildung noch Beschäfti-gung sind. Für sie wurde eine gesonderte statistische Kategorie gebildet: NEET (not in education employment or training; vgl. Frick et al. 2014). Ihr Anteil unter den 20- bis 34-Jährigen lag 2018 in der EU bei 16,5 %. Die Spreizung hinsichtlich der Mitglieds-staaten reichte von 8 % in Schweden bis zu 28,9 % in Italien (vgl. Eurostat 2019a). Bei diesen jungen Menschen handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe (vgl. Euro-170 Die Notwendigkeit beruflicher Identitätsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht

found 2016). Hinter dieser Zahl verbergen sich junge Menschen mit Auslandsaufent-halt ebenso wie resignierte junge Menschen, Drogensüchtige und Obdachlose (vgl.

Mögling et al. 2015; Carcillo 2015 et al.).

Eine Ursache für die innereuropäischen Unterschiede sind unterschiedliche Strukturen der Berufsbildungssysteme. Der Übergang zwischen Schule und Beruf gelingt deutlich besser in Ländern mit Praxisanteil wie in Deutschland und den Nie-derlanden (vgl. Frick et al 2014). In Südeuropa spielen gesamtwirtschaftliche Pro-bleme vor dem Hintergrund einer hohen Staatsverschuldung und der Eurokrise eine große Rolle (vgl. Koch/Clement 2014). Die EU hat daher ergänzend zu den Maßnah-men der Mitgliedsstaaten Initiativen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit er-griffen (Europäische Union 2018). Die deutsche Bundesregierung warb mit dem Pro-jekt Mobi-Pro EU (www.thejobofmylife.de) gezielt ausländische Auszubildende zur Bekämpfung des Fachkräftemangels an (vgl. Koch/Clement 2014).

Durch die dargestellten nationalen und internationalen Disparitäten sind die Ausgangsbedingungen für die berufliche Identitätsarbeit junger Menschen sehr un-terschiedlich. Vielen wird schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn ein hohes Maß an Resilienz, Flexibilität, Mobilität und Eigeninitiative abverlangt. Kinder, Jugendliche und (künftige) Beschäftigte sind sowohl im Beschäftigungs- als auch im Bildungssys-tem regelmäßig Selektionsprozessen ausgesetzt, bei denen sie sich immer wieder aufs Neue bewähren müssen (vgl. Findeisen 2015; Köcher et al. 2015, 30 ff.). Wer die-sem Wettbewerb zum jeweiligen Zeitpunkt nicht gewachsen ist, läuft Gefahr, im Wett-lauf um die attraktiven Plätze abgehängt zu werden (vgl. Cechura 2015).

Die Unterschiede lassen sich theoretisch mit Bourdieus Habituskonzept sowie den von ihm geprägten analytischen Kategorien ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 2006, 2012) erklären. Benachteiligte haben mangels finanzieller Mittel nicht die Möglichkeit, private Schulen zu besuchen, Nachhilfe zu nehmen oder ins Ausland zu gehen. Ihre Eltern sind aufgrund eigener Einschränkungen (z. B. feh-lende Erfahrung und Kenntnisse, Krankheit, fehfeh-lende Sprachkenntnisse, anderer kul-tureller Hintergrund) nicht in der Lange, sie im Berufsorientierungsprozess zu unter-stützen und können keine nützlichen Beziehungen mobilisieren (vgl. Nohl 2009, 174 ff.). Neben diesen primären Benachteiligungsfaktoren entstehen sekundäre Hemm-nisse in Form niedriger Bildungsaspirationen oder fehlenden Vertrauens in das ei-gene Potenzial. Müller (2014) zeigt mit Bezug auf empirische Studien, dass vor allem sekundäre Faktoren die Unterschiede zwischen den OECD-Ländern bezüglich der Aufstiegschancen Benachteiligter erklären. Gille/Sardei-Biermann (2011) stellen in einer Sekundäranalyse der 3. Welle des Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstitutes (Gille 2006) fest, dass junge Menschen mit passiv-fremdbestimmten Zukunftsorien-tierungen über deutlich weniger soziale Ressourcen wie Eltern, Freunde, Vereine ver-fügen als junge Menschen mit selbstbestimmten und aktivitätsorientierten Zukunfts-orientierungen. Koch/Clement (2014) beschreiben in ihrer qualitativen Studie mit vierzig im Rahmen des Mobi-Pro-EU-Projektes nach Deutschland migrierten spani-schen Auszubildenden eindrücklich, welche Überforderung es für die Befragten

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stellt, von ihren sozialen Ressourcen im Heimatland abgeschnitten zu sein und die Erfahrung zu machen, dass diese im neuen Kontext nicht hilfreich sind.

Die sekundäre Benachteiligung verstärkt sich noch dadurch, dass sich junge Men-schen mit ihren Benachteiligungen identifizieren. Heinz et al. (1985, 185 ff., 229 ff.) haben dieses Phänomen im Rahmen des Forschungsprogramms Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf als retrospektive Glättung bzw. biografische Konstruktion be-schrieben (vgl. Trippler 2010). Jugendliche, deren Berufswünsche sich aufgrund der Gegebenheiten des Arbeitsmarktes nicht unmittelbar realisieren lassen, passen ihre ursprünglichen Aspirationen an die Realität an, indem sie eine Identifikation mit dem ursprünglich unerwünschten Beruf herstellen. Eckelt/Schmidt (2014) zeichnen in qualitativen Fallstudien exemplarisch nach, wie benachteiligte Berliner Jugendliche am Übergang zwischen Schule und Beruf die Identität eines prekären Lohnarbeiters annehmen. Diese Art der Identitätsarbeit stellt zwar die angestrebte Balance zwischen eigenen Ansprüchen und sozialer Realität her, sie führt aber auch dazu, dass Chancen und Potenziale ungenutzt bleiben (vgl. Gottfredson 1981; Bourdieu 2006, 2012). Lang-fristig kann dies durch die Ausbildung eines falschen Selbst zu psychischen Proble-men führen. Aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht mag dies kurzfristig dazu beitragen, Niedriglohnbranchen mit Personal zu versorgen. Ob eine langfristige Beschäftigungsfähigkeit der Betroffenen damit einhergeht, ist äußerst zweifelhaft.

Die Verfasserin schließt sich daher der Auffassung von Gille/Sardei-Biermann (2011) und Müller (2014) an, dass das Bildungssystem benachteiligten jungen Menschen kompensierende soziale Ressourcen zur Verfügung stellen sollte, um sie bei der Ent-wicklung von Handlungsmöglichkeiten zu unterstützen. Dies wird bereits in großem Umfang versucht, jedoch entsprechen die Angebote häufig nicht den tatsächlichen Bedürfnissen der jungen Menschen (vgl. Koch et al. 2017; Mögling et al. 2015; Cechura 2015; Kap. 3.2.5).

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