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7. UNTERSCHIEDE ZWISCHEN GENERATIONENBEZIEHUNGEN

7.1 T HEORETISCHER H INTERGRUND

In 6.4 wurde u.a. deutlich, dass die Mitglieder von Familien Substanzabhängiger sich in den Einschätzungen ihrer Generationenbeziehungen häufiger signifikant von Eltern und Kindern aus gewöhnlichen Familien unterscheiden als die Mitglieder der Familien schizophren Er-krankter. In diesem Kapitel wird dargelegt, warum auch im direkten Vergleich zwischen die-sen beiden Diagnosegruppen Unterschiede im Beziehungserleben zu erwarten sind und wie sich diese in der empirischen Überprüfung darstellen.

Unterschiede im Krankheitskonzept und die Eltern-Kind-Beziehungen: Schuld und Verantwortung. Krankheitsmodelle sind nicht allein Sache von Experten, sondern bestim-men auch das Handeln von Betroffenen, seien es die Erkrankten selbst oder auch ihre Ange-hörigen. Dabei ist es nicht wesentlich, ob ein implizites Krankheitsmodell tatsächlich zutref-fend ist, als kontextualisiertes Wissen bestimmt es in jedem Fall den Umgang mit einer Krankheit (Benner, 1994). Aus phänomenologischer Perspektive stellen Benner, Janson-Bjerklie, Ferketich, und Becker (1994) die These auf, dass der Umgang mit einer chronischen Krankheit durch das in westlichen Kulturen vorherrschende Verständnis von Körper vs. Geist, von Autonomie sowie von Verursachung und Verantwortung bestimmt wird. Dieses Wissen wird in dem Moment salient, in dem durch einen Zusammenbruch die geschmeidige Einheit von Körper und Seele in Frage gestellt wird. Die Autoren sehen dabei drei Annahmen als zentral für das Krankheitsverständnis in unserer westlichen Kultur an: (a) Die Dichotomie von Geist und Körper seit Sokrates, (b) das Cartesianische Verständnis des Geistes als dem Kör-per übergeordnet und (c) die Annahme von der geistigen Selbstbestimmung des Menschen seit Kant.

Daraus ergibt sich für die von chronischer Krankheit Betroffenen ein zentrales Spannungs-feld: Die Erkrankten schwanken zwischen einem Verständnis der Krankheit als körperlich und damit als objektiv und einem Verständnis der Krankheit als ihrer eigenen, subjektiven, psychischen Erfahrung. Letzteres kann aber nicht wirklich angenommen und in ein physi-sches Krankheitsmodell integriert werden, weil damit auch immer verknüpft ist, die Krankheit als geistig beherrschbar zu betrachten. Daher sind die Betroffenen auch massiven Schuldzu-weisungen und Schuldgefühlen ausgesetzt: Hat die Erkrankung eine psychische Komponente, so muss mit ihrer geistigen Verfassung, ihrer geistigen Kontrolle über den Körper etc. etwas nicht stimmen. Damit ist zentral auch das Verständnis von Autonomie und Selbstwert betrof-fen.

Die Befreiung von Schuld und Verantwortung für die eigene Erkrankung, wie sie Parsons (1951) als Attribut der Krankenrolle beschrieben hat, sollte aus dieser Sicht für psychisch Erkrankte und ihr soziales Umfeld, zumindest in der westlichen Welt, immer ein prekärer und wenig eindeutiger Aspekt bleiben. Dementsprechend ist auch vorstellbar, dass psychische Krankheiten sich darin unterscheiden, wie eindeutig bzw. in welchem Ausmaß den von ihnen Betroffenen tatsächlich Schuld- und Verantwortungsfreiheit zugeschrieben werden.

Die Schizophrenie gilt als die am längsten und ausführlichsten beforschte psychische Störung, nichts desto trotz gibt die Beschreibung und Abgrenzung verschiedener schizophrener Stö-rungsbilder und vor allem ihre Ätiologie noch immer Rätsel auf. Jedoch ist die Anerkennung der Schizophrenie als Krankheit mit maßgeblich körperlichen Aspekten in Fachkreisen mitt-lerweile unumstritten, und auch in der Allgemeinbevölkerung setzt sich dieses Bild zuneh-mend durch, auch wenn es, wie in Abschnitt 4.1 gezeigt, noch andere Facetten aufweist. So-mit gelten für schizophren Erkrankte in Maßen jene Rollenerwartungen, welche Parsons (1951) allgemein für die Krankenrolle formuliert hat: Der Patient wird zumindest partiell von Schuld und Verantwortung für sein als krank interpretiertes Verhalten freigesprochen.

Für die Substanzabhängigkeit ist dieses Bild weit weniger eindeutig, es kann sogar, wie in Abschnitt 4.2 gezeigt wurde, als ambivalent bezeichnet werden: Zwar ist diese Störung schon seit 1960 durch die WHO und auch in Deutschland im Zuge sozialrechtlicher Urteile als Krankheit anerkannt worden, Modelle zur Suchterkrankung können sich jedoch zwei gegen-sätzlichen Positionen bedienen bzw. zwischen beiden Annahmen schwanken: (a) einem ex-tremen Pol kann die Annahme zugeordnet werden, dass, da der Umgang mit psychotropen Substanzen als grundsätzlich kontrollierbar verstanden wird, derjenige, der diese Kontrolle

verliert, seine Störung selbst verursacht hat und daher nicht im Sinne der Krankenrolle nach Parsons (1951) von Schuld- und Verantwortung freigesprochen werden kann. Auf dieser Posi-tion werden illegale und legale Drogen strikt voneinander unterschieden, da bei legalen Dro-gen ein kontrollierter Konsum für möglich gehalten wird, bei illegalen DroDro-gen dageDro-gen die Kontrolle in absoluter Abstinenz zu bestehen hat. Auf diesem Konzept basieren rigide Ein-stellungen bzgl. gesellschaftlich organisierter Interventionen, die vom Suchtkranken aufgrund seiner Unfähigkeit zur Kontrolle vollständige Abstinenz verlangen und ein umfassendes Ver-bot illegaler Drogen und scharfe strafrechtliche Verfolgung befürworten. Es kann damit als Abstinenzparadigma bezeichnet werden.

(b) Auf dem anderen Pol wird Sucht klar als Krankheit konzeptualisiert. Auf dieser Position – dem Krankheitsparadigma – basieren pragmatische Interventionsvorschläge, die sich ständig wandeln, verschiedenen Formen von Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Sub-stanzen angepasst werden und sich jenseits des Abstinenzparadigmas bewegen (z.B. bei Mei-li, Dober & Eyal, 2004). So basiert auf dem Bild von Substanzabhängigkeit als Krankheit die Erhaltungsverschreibung bei Opiatabhängigkeit (v.a. Nyswander, 1956) und ebenso das kon-trollierte Trinken als Therapieziel bei Alkoholabusus (vgl. Reinert & Bowen, 1968; s. zur aktuellen Übersicht Körkel, 2002a, 2002b). Wie für andere körperliche Krankheiten auch, so wird argumentiert, sollte das Ziel therapeutischer Intervention bei Suchterkrankungen sein,

„die Beschwerden zu beheben – und nicht die zugrundeliegende Pathologie umzukehren“

(Newman, 2001, S. 12).

Wenn also Substanzabhängigen in höherem Maße Schuld und Verantwortung für ihre Er-krankung zugeschrieben wird als schizophren Erkrankten, welche Auswirkungen könnte dies auf die Beziehungen zwischen ihnen und ihren Eltern haben? Hier können nur Vermutungen angestellt werden. In Abschnitt 6.1 wurde schon deutlich, dass bei der Feststellung von Diffe-renz zwischen den Generationen auch die Eindeutigkeit bzw. die Ambiguität, mit der diese Differenzen auf den freien Willen des Erkrankten zurückgeführt werden, von Bedeutung da-für sind, wie sehr diese Differenzen eine Grundlage da-für Ambivalenzerfahrungen bilden.

Aufgrund der besonders polarisierten Positionen, die gesellschaftlich zur Interpretation der Suchterkrankungen herangezogen werden können und möglicherweise auch aufgrund von Aspekten der Selbstzerstörung in der Suchtsymptomatik (s.u.) ist zu erwarten, dass Eltern Substanzabhängiger häufiger hin- und hergerissen sind, ob das von ihrem eigenen Handeln und ihren Erwartungen, Normen und Wünschen abweichende Suchtverhalten als Ausdruck

von Krankheit oder von willentlicher Provokation oder Abgrenzung zu interpretieren ist. Die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung ist allerdings nicht allein auf den Erkrankten beschränkt. Aus der Forschung zu Angehörigen psychisch Kranker ist bekannt, dass deren Eltern sich häufig selbst die Schuld für die Erkrankung zuschreiben (vgl. Dörner, Koenning und Egetmeyer, 1987/1997).

Bei Pillemer und Suitor (2002) findet sich die Vermutung, dass es vielleicht nicht das abwei-chende Verhalten und die Probleme der Kinder alleine sind, die auf Seiten der Eltern zu Am-bivalenzerfahrungen disponieren, sondern deren Interpretation durch die Eltern als duch die Kinder selbstverschuldet oder unverschuldet. Für Eltern Substanzabhängiger kann angenom-men werden, dass diese die Symptomatik ihrer Kinder häufiger als durch diese selbst ver-schuldet interpretieren und sie daher häufiger oder intensiver Ambivalenzen gegenüber ihren Kindern erleben. Außerdem führt die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung auch da-zu, dass aversives Verhalten verstärkt zu einer herabgesetzten Zufriedenheit mit der Bezie-hung führt und die BezieBezie-hung möglicherweise auch distanzierter gestaltet wird. In Familien Substanzabhängiger ist die wechselseitige Verstrickung in Schuldgefühle und -vorwürfe mög-licherweise noch stärker als in Familien schizophren Erkrankter, und somit ist auch ihr zu Ambivalenzen und geringer Beziehungszufriedenheit disponierender Einfluss auf die Genera-tionenbeziehung größer.

Symptomatik und Funktionsniveau. Schizophren Erkrankte und Substanzabhängige unter-scheiden sich in ihrer Symptomatik. Während die Substanzabhängigkeit vor allem darin be-steht, ein Konsum-Verhalten in unkontrolliertem Ausmaß zu zeigen, das, wird es kontrolliert, zumindest teilweise als normal und sozial erwünscht angesehen wird, leiden Schizophrenie-kranke an Symptomen, die sich entweder als Defizit ausdrücken oder in Form von Halluzina-tionen und Wahn häufig über das hinausgehen, was sich Nicht-Betroffene an Erleben vorstel-len können. Möglicherweise erzeugen daher die Erkrankungen aus dem schizophrenen For-menkreis für gewöhnliche Menschen mehr Gefühle von Fremdheit und Unverständnis als Suchterkrankungen. Auf der anderen Seite ist gegenüber Subtanzabhängigen gerade deshalb Unverständnis zu erwarten, weil Nicht-Süchtige diese Form des Kontrollverlustes, Entzugser-scheinungen, den Zwang zu Konsumieren und die damit verbundene Selbstzerstörung nicht nachvollziehen können. Die durch die Symptomatik verstärkte Differenz zwischen Eltern und Kindern ist in Familien Schizophrenie- und Suchtkranker daher vermutlich ähnlich groß.

Wenngleich hierzu keine empirischen Vergleiche vorliegen, ist anzunehmen, dass Schizo-phrenie- und Suchtkranke auch vergleichbar stark in ihrem sozialen Funktionsniveau einge-schränkt sind. Zwar ist es wahrscheinlich, dass Substanzabhängige häufiger als schizophren Erkrankte eine eigene Partnerschaft, Kinder und einen eigenen Wohnsitz haben, und von da-her weniger auf ihre Herkunftsfamilie, d.h. ihre Eltern, verwiesen sind. In anderen Bereichen wie Ausbildung und Erwerbstätigkeit gibt es jedoch Grund anzunehmen, dass in beiden Diag-nosegruppen vergleichbare Einbußen bestehen. Im familialen Funktionsniveau fanden Fried-mann, McDermut, Solomon, Ryan, Keitner und Miller (1997) keine signifikanten Unterschie-de zwischen Familien mit einem schizophren erkrankten und Familien mit einem abhängig-keitserkrankten Mitglied.

Auf der Basis der Symptomatik und ihrer unmittelbaren Folgen allein lassen sich also eher keine Erwartungen darüber ableiten, dass sich die Anforderungen an die Generationen-beziehungen substanzabhängiger und schizophren Erkrankter unterscheiden, wenn auch die Verwiesenheit auf die Eltern bei schizophren Erkrankten möglicherweise erhöht ist. Aller-dings stellen sich bzgl. des Risikos für die Ausübung von Gewalt mögliche Unterschiede dar, die für die Qualität der Generationenbeziehungen relevant sind.

Unterschiede im Risiko für Gewalt und Kriminalität. Eronen, Angermeyer und Schulze (1998) zeigen in einer Übersicht, dass das Risiko, sich gewalttätig zu verhalten, sowohl für schizophren bzw. psychotisch Erkrankte als auch für Suchtkranke erhöht ist. Häufiger als in der Allgemeinbevölkerung trifft gewalttätiges Verhalten psychisch Erkrankter Personen aus deren engerem sozialen Umfeld. Die Autoren betonen, dass das Risiko zur Gewaltausübung für Menschen mit Störungen aus dem Bereich des Gebrauchs psychotroper Substanzen höher ist als das schizophren erkrankter Patienten. Außerdem kann bei Substanzabhängigen krimi-nelles Verhalten in Form von Beschaffungskriminalität und -prostitution hinzu kommen (vgl.

Dewald, 2003). Dies wird von den Angehörigen möglicherweise als besonders aversiv, fremd, unverständlich und abweichend von ihren Erwartungen, Normen und Wünschen erlebt und verschlechtert die Beziehungszufriedenheit. In diesem Zusammenhang sind auch Eltern häu-fig gezwungen, ab einem gewissen Punkt strafrechtliche Konsequenzen gegen ihre eigenen Kinder einzuleiten, was auch auf Seiten der Kinder als unerwartet, unerwünscht und die Be-ziehung beeinträchtigend erlebt wird.

Pflegen und Sorgen vs. Co-Abhängigkeit. In Kapitel 2 und Abschnitt 6.1 wurde bereits er-wähnt, dass der Bereich des Sorgens und Pflegens in Familien Substanzabhängiger bisher

kein Gegenstand der Forschung ist. Häufig werden Familien Substanzabhängiger explizit aus solcherart Erhebungen ausgeschlossen, so z.B. bei Tessler und Gamache (2000). Das Küm-mern um ein substanzabhängiges Familienmitglied wird mit einem konzeptuell ganz anders gelagerten Begriff belegt, dem der Co-Abhängigkeit (s. zur Übersicht Günthner, 1996; Ren-nert, 1990). Der Bereich des Kümmerns um schizophren erkrankten Angehörige durch Fami-lienmitglieder ist mittlerweile als Ressource für die Behandlung entdeckt worden. Für Famili-en Suchtkranker scheint dieser Komplex anders und wesFamili-entlich prekärer gelagert zu sein.

Der Begriff der Co-Abhängigkeit, so Günthner (1996) kann nicht einfach als „Beschreibungs-begriff verstanden werden“ (S. 170), sondern beinhaltet eine Vielzahl theoretischer Implikati-onen, die sich aus seiner vielgestaltigen Geschichte ergeben. Aus psychopathologischer Sicht hat der Begriff seine Wurzeln laut Morgan (1991) vor allem in Konzepten zur abhängigen Persönlichkeit. Aus dieser Perspektive ist er ein Synonym für die Diagnose einer Persönlich-keitsstörung, die dem Angehörigen, der co-abhängiges Verhalten zeigt, zugewiesen wird.

Jedoch liegen weitere Wurzeln, darauf verweisen Rennert (1990) und Thomasius (1997, 2002) in den Erfahrungen der Betroffen Angehörigen selbst und somit entspringt der Begriff wie der des Caregivings auch dem Empowerment der Angehörigen sowie praktischer klini-scher Arbeit. Günthner (1996) beschreibt ihn daher als vor allem „impressionistisch“ (S. 171) und weniger empirisch begründet, die empirischen Belege für die Existenz der

Co-Abhängigkeit sind noch immer defizitär (Klein, 2001).

Rennert (1990) beschreibt Co-Abhängigkeit als ein Problem- und Lebensbewältigungsmuster, das in der Interaktion mit einer suchtkranken Person entwickelt oder verstärkt wird. Es führt beim Co-Abhängigen zu Einschränkungen in der Wahrnehmung von Verhaltensalternativen bis hin zum Gefühl existentieller Bedrohung durch jegliche Veränderung. Somit wird Co-Abhängigkeit als Versuch verstanden, mit der Substanzabhängigkeit eines Familienmitgliedes umzugehen, was v.a. für die psychische Verfassung des co-abhängigen Angehörigen selbst von Nachteil ist. Schmieder (1992) schildert für die Entwicklung der Co-Abhängigkeit einen phasenartigen Verlauf, innerhalb dessen ein weiterer Aspekt dieses Bewältigungsmusters deutlich wird, nämlich der Versuch, das süchtige Verhalten und den Süchtigen selbst zu kon-trollieren, was jedoch in einem Teufelskreis endet, in dem der Süchtige seinen Konsum als Reaktion auf dieses Abdriften in die Unselbstständigkeit weiter steigert.

Co-Abhängigkeit beinhaltet allerdings noch einen weiteren Aspekt, der verschiedentlich auch mit dem Begriff des enabling belegt wurde (vgl. zur Übersicht Rennert, 1990): Das

co-abhängige Verhalten hat Anteil an der Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens. Entsprechend definiert etwa Klein (2001) Co-Abhängigkeit als Verhalten und Einstellungen von Personen, die zur Aufrechterhaltung der Substanzabhängigkeit beitragen. Aspekte dieses Verhaltens, wie etwa, dass dem Süchtigen Verantwortung abgenommen, die Substanzabhängigkeit ratio-nalisiert und akzeptiert und bei der Drogenbeschaffung kollaboriert wird, erlauben, dass der Suchtkranke seine Sucht noch unter den angenehmstmöglichen Begleitumständen leben kann.

Rennert (1990) charakterisiert den prekären Charakter co-abhängigen Verhaltens folgender-maßen:

Obwohl die bisher beschriebenen Verhaltensweisen letztlich suchtfördernd sind, ist die Person in der Enabler-Rolle sich dieser Qualität ihrer Handlungen nicht bewusst. Die vielen kleinen all-täglichen Entscheidungen, die insgesamt suchtverlängernde Wirkung haben, stellen schließlich unter normalen Umständen ganz normale Hilfen für jemanden dar, der in eine Notlage geraten ist. (S. 57)

Hier wird deutlich, dass es sich bei co-abhängigem Verhalten durchaus um eine Form des Pflegens und Sorgens handelt, das aber in verschärfter Form langfristige negative Folgen so-wohl für den Co-Abhängigen als auch für den von ihm unterstützten Süchtigen hat.

Klein spricht in diesem Zusammenhang von der „Ambivalenz der Angehörigen“ als einer

„Grundhaltung, die viele andere im Sinne einer Metakognition überragt“ (Klein, 2001, S.

211): „Diese besteht in dem Aushalten massiver Spannungen, Frustrationen und ggf. Demüti-gungen einerseits und in der Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, Kontrolle auszu-üben und Veränderungen zu fordern andererseits“ (Klein, 2001, S. 208). Mehr noch als das Pflegen und Sorgen für psychisch erkrankte erwachsene Kinder im üblichen Sinne, wie es der Begriff Caregiving beschreibt (vgl Abschnitt 6.3) enthalten diejenigen

Beziehungs-phänomene, die unter dem Begriff der Co-Abhängigkeit subsummiert werden, Potential für das Erleben von Ambivalenz. Hier drückt sich die Ambivalenz zusätzlich in

wider-sprüchlichen Haltungen aus: einerseits wird der Substanzkonsum zu verurteilt, andererseits ermöglicht.

Sind Bindung und Ausgrenzung als Formen des Umganges mit Ambivalenz? Insbesonde-re in der Literatur aus dem BeInsbesonde-reich der systemischen Familientherapie wird häufig eine Au-ßenseiterposition des Substanzabhängigen innerhalb seiner Familie beschrieben Stierlin

zeichnet dieses Beziehungsmuster59 als Ausstoßungsmodus, bei dem Eltern ihre adoleszenten substanzabhängigen Kinder in der Ablösungsphase vom Elternhaus vernachlässigen oder verstoßen, wobei er die Motivation für das Ausstoßen u.a. in starker Ambivalenz bei Eltern und Kindern sieht (Stierlin, 1980). Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von diesen Kindern als Sündenbock (Kaufman & Kaufman, 1983; Steinglass, 1983).

Die Ausgrenzung des Substanzabhängigen innerhalb der Familie wird empirisch vor allem durch Studien belegt, in denen alkoholabhängige Väter die Indexpatienten waren. Villiez (1986) fand in einer Untersuchugn solcher Familien, dass die Kohäsion aller Familien-mitglieder bis auf den Erkrankten selbst zunahm, während sich die Familie als Ganzes von der Umwelt zurückzog und der Indexpatient innerhalb der Familie isoliert war. Eine kontrol-lierte Verlaufsstudie bestätigte die Isolation alkoholabhängiger Väter von der Kernfamilie (Kröger, Drinkmann, Wälte, Lask, & Petzold, 1995). In der Diktion dieser Autoren äußert sich die Isoliertheit süchtiger Familienmitglieder vor allem darin, dass diese von ihren Ange-hörigen als andersartig beurteilt werden und der Kontakt mit ihnen eher gemieden wird.

Übertragen auf Eltern-Kind-Beziehungen könnte dies bedeuten, dass dann, wenn die Kon-trollversuche seitens der Eltern scheitern und es nicht zur Entwicklung einer Co-Abhängigkeit kommt, auch eine Form der Atomisierung wie sie das Ambivalenzmodul von Lüscher be-schreibt, vermehrt beobachtet werden kann. Diese sollte vor dem Hintergrund, dass hier Ent-scheidungen getroffen werden, die normativen Erwartungen an die Gestaltung von Generatio-nenbeziehungen widersprechen, das Erleben von Ambivalenzen sowohl bei Eltern als auch bei Kindern wahrscheinlicher machen.

Möglicherweise, das zeigt der Rekurs auf das Phänomen der Co-Abhängigkeit, ist in Eltern Kind-Beziehungen Substanzabhängiger jedoch auch das Potential dafür angelegt, dass sich eine Form der Beziehungsgestaltung manifestiert, bei der Eltern versuchen, die mit der Sub-stanzabhängigkeit einhergehenden Defizite ihrer Kinder auszugleichen. Durch die Substanz-abhängigkeit wird das Bedürfnis nach Kontrolle oder Fürsorge seitens der Eltern verstärkt (Kaufman & Kaufman, 1983) und somit Bindungsverhalten aktiviert. Der Substanzabhängige werde „häufig übertrieben beschützt und als hilflose und unfähige Person behandelt“ (Stantod

& Todd, 1983, S. 66), Stierlin bezeichnet dies als Bindungsmodus, bei dem die Eltern den

59 Stierlin unterscheidet drei Beziehungsmodi im Umgang der Generationen miteinander: Binden, Delegieren und Ausstoßen. Diese Beziehungsmuster sind „transitiv und reziprok“, d.h. es besteht zwischen Kindern und Eltern eine wechselseitige Beeinflussung (Stierlin, 1980, S. 48).

substanzabhängigen Jugendlichen infantilisieren Dies kann aber das pathologische Konsum-muster der Erkrankten nicht unterbrechen, sondern unterstützt es sogar noch – und so kommt es zu einem Hin- und Her aus Bitten der Erkrankten um Hilfe, Hilfeleistungen und Kontroll-versuchen durch die Eltern sowie Zurückweisung derjenigen elterlichen Kontrollversuche durch die Kinder, die nicht dem Konsum dienen.

Weiter wurde postuliert, dass die Kinder als Reaktion auf die Kontrollversuche der Eltern versuchen, über den Substanzkonsum Distanz und Unabhängigkeit herzustellen. Familien Substanzabhängiger wird häufig zugeschrieben, dass sie Probleme mit der generationalen Abgrenzung oder Nähe-Distanz-Regulierung (Thomasius, 1997) haben. Der Substanzkonsum wird in diesem Zusammenhang als Versuch verstanden, einen adoleszenten Ablösungs-konflikt zu lösen, wobei der Jugendliche durch den Substanzkonsum eine Pseudoautonomie erreicht, ohne sich wirklich lösen zu müssen (Stantod & Todd, 1983).

Es scheint also angebracht anzunehmen, dass neben dem widersprüchlichen Krankheitskon-zept und dem erhöhten Risiko für gewalttätige Auseinandersetzungen innerhalb der Familie und außerhalb der Familie vor allem der Bereich des Sorgens und Kümmerns die Mitglieder von Familien Substanzabhängiger für das verstärkte Erleben von Generationenambivalenzen stärker disponiert als die Mitglieder von Familien schizophren Erkrankter. Gewalt und Phä-nomene wie Co-Abhängigkeit oder die Isolation durch Familienmitglieder sollten außerdem in einer geringeren Beziehungszufriedenheit resultierten und dazu führen, dass Eltern und Substanzabhängige erwachsene Kinder sich weniger miteinander verbunden fühlen als Eltern und schizophren erkrankte Kinder.