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1. EINLEITUNG

1.2 B EGRIFFE

Zu Beginn möchte ich auf die Problematik einiger Begriffe hinweisen, die im Folgenden Verwendung finden.

Psychische Krankheit. Indem in dieser Arbeit von psychischer Krankheit die Rede ist, wird ein Begriff verwendet, der keinesfalls unumstritten ist. Das, was hier als Krankheit bezeichnet wird, ist ein vielschichtiges Phänomen und daher kaum mit einem einzigen Begriff abzude-cken. Es manifestiert sich auf der körperlichen Ebene, in individuellem Erleben und Verhalten sowie in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und ist nicht zuletzt Gegenstand gesellschaftlicher Bezeichnungs- und Zuschreibungsprozesse. Allein für jede dieser Ebenen, der körperlichen, der individuell-psychischen, der mikro- und der makrosozialen müssten, um genau zu sein, spezifische Begriffe definiert werden, um dem jeweiligen Aspekt des Gegens-tandes gerecht zu werden. Der Begriff Krankheit ist im Deutschen vor allem auf die körperli-che Ebene bezogen, im Amerikaniskörperli-chen dagegen ist mit den allesamt in Krankheit übersetz-baren Begriffen sickness, disease und illness jeweils Unterschiedliches gemeint (Kleinman, 1980, 1998).1

Abgesehen davon gibt es nicht „die“ psychische Krankheit. Psychische Krankheiten unter-scheiden sich auf allen obengenannten Ebenen ihrer Manifestation, in den gesellschaftlichen Bildern, die von ihnen entworfen werden, in der Intensität, mit denen die Forschungsgemein-schaft sich mit ihnen beschäftigt und auch in ihren Folgen für die Betroffenen. Gegenstand dieser Arbeit sind Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis und verschiedene Arten von Suchterkrankungen, und es wird im Laufe dieser Arbeit noch zu thematisieren sein, wel-che Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei von Bedeutung sind. Trotz all dieser Schwie-rigkeiten fiel die Entscheidung für den Begriff Krankheit. Verschiedentlich wird auch Er-krankung verwendet, um die zeitliche Dynamik der Patho- und Salutogenese herauszustellen und zu unterstreichen, dass es sich bei einer Krankheit weder um einen Zustand handelt noch um eine Seinsform, in der Person und Krankheit miteinander identisch sind. Mit dem Begriff der Krankheit sind hier Phänomene körperlicher Funktionen, des Erlebens, des Verhaltens, der Lebensführung und Beziehungsgestaltung gemeint, die für den Betroffenen und sein sozi-ales Umfeld zu Leiden und Beeinträchtigung infolge der Beschädigungen seiner Autonomie führen. Diese Phänomene gelten dann als spezifische Krankheit, wenn sie als einigermaßen klar umrissenes Syndrom auf der Verhaltensebene beobachtbar, unterscheidbar und mit einer

1 Der Begriff Disease bedeutet nach Kleinman (1980) die Dysfunktion biologischer und/oder psychologischer Prozesse. Mit Illness ist dagegen die persönliche Erfahrung und Deutung dieser Dysfunktion gemeint.

Sickness bezeichnet das allgemeine, mit makrosozialen Entwicklungen verbundene, gesellschaftliche Ver-ständnis einer Krankheit.

gewissen Zuverlässigkeit diagnostizierbar sind. Diese Trennschärfe soll es erlauben, auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank einzelfallbezogen eine Grenze festzulegen.

Wenn von psychischer Krankheit die Rede ist, soll jedoch immer mitgedacht werden, dass das Bild, das sich eine Gesellschaft von diesem Begriff macht, von ebenso großer Bedeutung für den Kranken und die Personen seines sozialen Netzes ist, wie die primären Krankheitssym-ptome auf den Ebenen Körper, Erleben und Verhalten. Labelling- und Ettikettierungesprozes-se, kausale Zuschreibungen und die Verwendung von Krankheitsbegriffen als Metaphern für persönliche Unzulänglichkeit oder Charakterschwäche begleiten als sozialer Subtext insbe-sondere das Kranksein an der Seele und beeinflussen den Umgang mit dem psychisch Er-krankten und damit seine persönliche Autonomie.

Die Entscheidung für den Begriff der Krankheit ist zugleich eine Entscheidung gegen den im klinisch-psychologischen und psychiatrischen Kontext mittlerweile vorherrschenden Begriff Störung (vgl. dessen Verwendung im Kapitel V. der ICD-10, World Health Organisation, 1992). Der Störungsbegriff wird allein auf psychische Dysfunktionen angewandt und ermög-licht eine aus akademischer Sicht sinnvolle Unterscheidung, weil er nicht wie der Krankheits-begriff suggeriert, es lägen der Verhaltens-Symptomatik eindeutig zuordenbare körperliche Vorgänge zugrunde, denen mit einer ebenso eindeutigen Therapie zu begegnen ist. Da diese Arbeit sich aber an Erkrankte, Angehörige, Wissenschaftler und Praktiker gleichermaßen richtet, hat der Krankheitsbegriff den Vorteil, dass er in stärkerem Maße Schuldfreiheit impli-ziert und alltagsprachlich weniger negativ konnotiert scheint als der Begriff Störung oder gar Wendungen wie „der psychisch Gestörte“.

Wenn im Rahmen dieser Arbeit von Personen die Rede ist, denen eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis zugeordnet wurde, soll von schizophren Erkrankten oder Schizo-phreniekranken – nicht von Schizophrenen – die Rede sein. Für Personen mit einer Diagnose aus dem Bereich Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit dagegen scheint es möglich, neben Suchterkrankten auch von Substanzabhängigen zu sprechen, da mit diesem Substantiv eine konkrete Verhaltensbeschreibung statt eines abstrakten nosologischen Begriffs mit zahlrei-chen komplizierten Implikationen vorliegt. Außerdem wird der Begriff Patient verwendet, da die gemeinten Personen in ihrer Rolle als psychiatrisch Behandelte angesprochen sind – der Begriff Klient hat sich nicht durchgesetzt und wird außerdem der wenig geschäftsmäßigen Rolle von „Konsumenten“ psychiatrischer Versorgung nicht gerecht.

Generation und Familie. Lüscher (2003) versteht Familie als Ergebnis der „Gestaltung der elementaren Aufgaben, die sich aus der Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit des menschli-chen Nachwuchses ergeben, sich über mehrere Jahre erstrecken und somit der Organisation bedürfen“ (S. 539). Infolgedessen definiert er den Begriff der Familie als „geeignet, . . . jene Lebensformen eigener Art zu bezeichnen, die sich durch die Gestaltung der grundsätzlich lebenslangen Beziehungen von Eltern und Kindern im Generationenverbund sowie – daran orientiert – der Beziehung zwischen den Eltern konstituieren und als solche gesellschaftlich anerkannt werden“ (S. 540). Somit wird die Generationenbeziehung als der Kern von Familie angesehen. Daher wird als Gegenstand dieser Arbeit die Beziehung zwischen Eltern und ihren (psychisch erkrankten) Kindern definiert.

Diese Eingrenzung des Gegenstandes erscheint vor allem deshalb erwähnenswert, weil in der klinischen Familienforschung – wie auch in vielen pflegewissenschaftlichen Arbeiten – der Begriff der Familie meist ohne explizite Definition verwendet wird. Er wird häufig benutzt, wenn der eigentliche Gegenstand die Lage einzelner Familienangehöriger von psychisch Er-krankten ist, wobei weder festgelegt wird, ob es sich um Eltern, Partner, Geschwister oder Kinder des Patienten handelt, noch tatsächlich die Beziehung zwischen zwei Familien-mitgliedern im Vordergrund steht. Dabei würde erst die Beschäftigung mit intrafamilialen Beziehungen, allen voran mit der Generationenbeziehung, einen Rekurs auf den Begriff der Familie rechtfertigen. Damit sind viele klinisch-psychiatrische und pflegewissenschaftliche Arbeiten, die den Begriff Familie im Titel führen, keine Familienforschung im engeren Sinne.

In Arbeiten zu familialen Risikofaktoren wird Familie häufig einseitig als Umwelt des Patien-ten betrachtet. Dies geschieht möglicherweise gerade deshalb, weil den intrafamilialen Bezie-hungen und ihrer Rekursivität zu wenig Rechnung getragen wird. Nach meinem Verständnis handelt es sich bei Familien um Verbünde aus Personen, die sich wechselseitig beeinflussen, weshalb im Falle der Familien psychisch Kranker auch der Patient einen Teil der Umwelt für seine Eltern und andere Angehörigen darstellt. Daneben stehen sowohl der Patient als auch die anderen Mitglieder seiner Familie im Austausch mit makrosozialen Gegebenheiten, wie z.B. institutionalisierten Formen der sozialen Absicherung und Gesundheitsversorgung. Fami-lie darf nicht als abgeschlossenes System, sondern muss als Verbund von Subjekten, die sich unter bestimmten Anforderungen miteinander und in der Außenwelt zurechtfinden müssen, verstanden werden. Damit schließe ich mich der pragmatischen Definition von Familie durch Lüscher (2003) an, welche m.E. nahelegt, dass ein tieferes Verständnis von

Eltern-Kind-Beziehungen nur erreicht werden kann, wenn die sozialen und kulturellen Vorraussetzungen erfasst werden, unter denen ihre Mitglieder die Beziehungen miteinander gestalten.

Der Begriff der Generation bedarf in Hinblick auf seine Verwendung in dieser Arbeit aller-dings noch genauerer Eingrenzung, da von ihm in verschiedenen Diskursen unterschiedlich Gebrauch gemacht wird (vgl. zu den folgenden Unterscheidungen Lüscher, im Druck):

(a) Generationenzugehörigkeit kann genealogisch-familial als biologische Generationen-folge verstanden werden, wobei für diese Definition zentral ist, dass die erste Generati-on die zweite GeneratiGenerati-on ins Leben bringt und Erbgut an diese weitergibt.

(b) Der Begriff Generationen hat auch einen pädagogischen Aspekt, gehört doch zum Ver-hältnis der Generationen die Weitergabe von Erfahrungen, Wissen, Werten und Normen der ersten Generation an die zweite Generation. Hierzu wurde der Begriff Generatio-nenlernen geprägt, wobei anzumerken ist, dass es zunehmend auch zu einer Umkehrung des Generationenverhältnisses kommt (Lüscher & Liegle, 2003). Im Generationenler-nen liegt auch die Möglichkeit auf nicht-biologischem Wege Spuren in der Nachwelt zu hinterlassen, wofür Erikson den Begriff Generativität prägte, wobei für ihn die Ausei-nandersetzung mit dem Konfliktpaar Generativität vs. Stagnation eine Aufgabe des Er-wachsenenalters darstellt (Erikson, 1950/1966).

(c) Der sozio-kulturell-historische Generationendiskurs versteht Generationen v.a. als Ko-horten, die sich durch kollektive zeithistorische Erfahrungen konstituieren und vonein-ander abgrenzen lassen.

Für diese Arbeit ist insbesondere das genealogische und das generativ-pädagogische Genera-tionenverständnis von Bedeutung, u.a. weil in der vorliegenden Studie auch Mütter und Väter befragt wurden, die ihren Kindern zwar keine biologischen, jedoch Adoptiv- oder Stiefeltern sind. Aber auch der sozio-kulturell-historische Aspekt der Generationenzugehörigekeit ist relevant für das Verhältnis der Eltern-Kind-Beziehungen, weil Eltern und Kinder immer auch verschiedenen Kohorten angehören. Laut Lüscher ist diesen drei Generationenbegriffen ge-meinsam, dass sie sich jeweils auf individuelle oder kollektive Akteure und deren Handlungs-befähigung bzw. Identität beziehen (Lüscher, im Druck). Weiter verweisen die Diskurse auf die zweifache Bedeutung von Generation: Einerseits besteht über Erben und Lernen eine Ver-bindung zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen, andererseits lassen sie sich durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen voneinander abgrenzen. Im

Generationen-begriff ist sowohl das die Generationen verbindende Element des Schöpfertums als auch das die Generationen differenzierende Element der Mitgliedschaft enthalten. Somit ist sowohl Generationendifferenz als auch Generationenverbundenheit konstitutiv für das Verhältnis der Generationen, was bereits auf die Bedeutung von Ambivalenz für das Verständnis dieser Form sozialer Beziehungen verweist (Lüscher & Liegle, 2003).

„Klinische“ und „normale“ Familien? Eine weitere Begriffsklärung ist für diese Arbeit ebenfalls von zentraler Bedeutung. Im empirischen Teil werden die Beziehungen zwischen Eltern und ihren psychisch erkrankten Kindern, die Beziehungen zwischen Eltern und den gesunden Geschwistern psychisch erkrankter Kinder sowie die Beziehungen zwischen Eltern und gesunden Kindern aus Familien ohne ein psychisch krankes Kind einander gegenüberge-stellt. Dies geschieht in der klinischen Familienforschung ohnehin sehr selten, wenn es jedoch der Fall ist, ist u.a. von psychiatrischen oder klinischen Familien die Rede (z.B. bei Fried-mann, McDermut, Solomon, Ryan, Keitner, Gabor, & Miller, 1997). Auch mir drängten sich zum Zwecke der Vereinfachung solche Begriffe auf. Ich habe mich gegen ihre Verwendung und für die Einführung anderer Bezeichnungen entschieden.

Der Begriff der Normalfamilie in der klinisch-familientheoretischen Literatur wurde kritisch hinterfragt (Cierpka & Nordmann, 1988). Die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kin-dern, und damit (s.o) der Kern der Familie, sollte nicht alleine deswegen als klinisch oder psychiatrisch bezeichnet werden, weil das Kind psychisch erkrankt ist, denn dies impliziert bereits in den Begrifflichkeiten und noch vor jeder empirischen Überprüfung einen patho-logischen Charakter der Generationenbeziehung und stellt daher m.E. eine unzulässige Etti-kettierung dar. Im Folgenden soll also entweder von psychiatrieerfahrenen Familien oder von Patientenfamilien die Rede sein, wenn die untersuchte Gruppe aus Müttern, Vätern und ihren psychisch erkrankten Kindern gemeint ist. Mit dem Adjektiv psychiatrieerfahren beziehe ich mich auf einen Begriff, der in der Betroffenen- bzw. Patientenbewegung geprägt worden ist.

Patientenfamilien meint Familien mit einem Patienten, und dies halte ich trotz der Reduzie-rung auf den gesundheitlichen Status und die Rolle in der medizinisch-psychiatrischen Ver-sorgung für eine tragbare Formulierung.

Auch der Umstand, dass psychische Erkrankungen von relativer statistische Seltenheit sind, reicht m.E. nicht aus, um Familien ohne ein psychisch krankes Kind im Gegensatz zu Famili-en mit einem psychisch krankFamili-en Kind als normal zu etikettierFamili-en. Alternative Begriffe sind allerdings rar. Ich möchte hier von gewöhnlichen Familien sprechen, wenn die Gruppe aus

psychisch Gesunden in der Kindergeneration sowie ihren Müttern und Vätern gemeint ist.

Gewöhnlich sind diese Familien, weil sie das repräsentieren, was wir, ihre Betrachter, ge-wohnt sind, etwas, das nicht von unseren Erwartungen abweicht. Der leicht negative Beiklang im Sinne von einfach ist m.E. angesichts der Tatsache, dass diese Gruppe nicht in Gefahr ist, Ziel sozialer Etikettierungsprozesse zu werden, akzeptabel.

Nichts desto trotz: Mitunter schien mir beim Abfassen dieser Arbeit kein Wort von ausrei-chender Beschreibungskraft zu sein. Die Leserin – der Leser – mag sich ihre – seine – eigene Begriff machen, nachdem ich expliziert habe, was bei der Verwendung zentraler Begriffe an Konnotationen mitschwingt. Zuletzt sei angemerkt, dass ich im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit – die angesichts der neu eingeführten ungewohnten Begriffe bereits genug strapa-ziert werden dürfte – die männliche Form der Personenbeschreibung verwendet habe. Wenn in der männlichen Form von Personen die Rede ist, so schließt dies immer mit ein, dass eben-so Frauen gemeint sind.

2. AMBIVALENZ ALS DEUTUNGSMUSTER IM DISKURS ÜBER