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F AZIT : P OSITIVE UND N EGATIVE G ENERATIVITÄT

2. AMBIVALENZ ALS DEUTUNGSMUSTER IM DISKURS ÜBER PSYCHISCH

2.4 F AZIT : P OSITIVE UND N EGATIVE G ENERATIVITÄT

Zunächst möchte ich an eine wichtige Eingrenzung des Gegenstandes erinnern (s. 1.2): In den meisten pflegewissenschaftlichen und klinisch-familientheoretischen Arbeiten wird ein diffu-ser Familienbegriff verwendet. Bei der genaueren Betrachtung stellt sich heraus, dass am häu-figsten die Beziehung von Eltern zu ihren erkrankten Kindern – und umgekehrt – thematisiert wird. Es geht in diesem Diskurs also um Betrachtungen zum Verhältnis der Generationen, freilich unter den sehr spezifischen Vorraussetzungen der psychischen Erkrankung des er-wachsenen Kindes. Dieser Abriss über die Geschichte wissenschaftlicher, politischer und psychiatrisch-praktischer Auseinandersetzung mit Familien psychisch Kranker sollte zeigen, dass man sich im Rahmen von Forschung, Organisation öffentlicher Gesundheitsversorgung und Empowerment der Angehörigen und Betroffenen aus jeweils verschiedenen Perspektiven heraus mit gegensätzlichen Aspekten ein und desselben Sachverhaltes befasste. Als Deu-tungsmuster lassen sich also Ambivalenzen im Diskurs feststellen.

Gegenstand sowohl der familientheoretisch-klinischen Forschung als auch pflegewissen-schaftlicher Arbeiten ist jeweils der Austausch zwischen Elterngeneration und Kindergenera-tion und somit eine Form der Generativität. Uneinigkeit zwischen beiden Forschungsfeldern besteht in der Frage, ob diese positiv oder negativ zu bewerten ist. Aus klinischer Perspektive interessiert das Risiko des Austausches zwischen den Generationen und des Generationen-lernens. Hierfür möchte ich den Begriff Negative Generativität wählen, womit gekennzeich-net ist, dass es sich dabei – zugespitzt formuliert – um das Hinterlassen von „Altlasten“ bei der Folgegeneration handelt. Die pflegewissenschaftlichen Arbeiten zu Familien psychisch Kranker haben sich dagegen eher mit der Bereitstellung von Ressourcen durch die Elternge-neration beschäftigt und hatten somit eine Form der Positiven Generativität zum Gegenstand.

Es gibt selbstverständlich auch eine Reihe an Arbeiten, in denen beide Aspekte gleichzeitig thematisiert werden. Katschnig hat bereits 1977, mit dem Standardwerk Die andere Seite der Schizophrenie: Patienten zu Hause eine vielseitige Darstellung von Schizophreniekranken und ihrem Leben in der Familie herausgegeben. Hier wird das Verhalten von Familien-mitgliedern selbst in Beiträgen zur psychopathogentischen Verlaufsforschung nicht einfach als Risikofaktor sondern– positiv gewendet – als Verhüter des Rückfalls verstanden. Auch werden – vereinzelt – Zusammenhänge zwischen beiden Forschungsfeldern hergestellt: So wird z.B. diskutiert, ob ein emotional stark aufgeladenes Familienklima im Sinne des Expres-sed-Emotion-Konzeptes nicht auch als Merkmal von stark in die Pflege involvierten Familien

verstanden werden kann (van Os, Marcelis, Gemeys, Graven, & Delespaul, 2001). Expressed Emotion wird nicht mehr allein in Vulnerabilitäts-Stress-Modelle, welche die Entwicklung der Krankheit des Patienten beschreiben, sondern auch in Stressbewältigungsmodelle, die auf die Erklärung von Belastung und Bewältigung auch der Angehörigen abzielen, integriert (Scherrmann, 1995). In diesen integrativen Darstellungen werden Gegensätze, Zwiespältig-keiten und DoppeldeutigZwiespältig-keiten im Bild von Generationenbeziehungen psychisch Kranker deutlicher. Wenn diese nicht augeblendet werden, erhält die Darstellung größere Tiefenschär-fe.

Da jedoch in den meisten Arbeiten eine einseitige Darstellungsweise überwiegt, möchte ich für die gegenwärtige Familienforschung mit psychiatrischem Bezug zwei Forschungsfelder unterscheiden. Diesen ordne ich gegensätzliche Standpunkte zu, welche die Perspektive bestimmen, aus der heraus die Beziehungen zwischen psychisch Kranken und ihren Eltern im jeweiligen Forschungsfeld betrachtet, beschrieben und analysiert werden:

(a) Negative Generativität: Die Vertreter der ätiologischen und der verlaufsorientierten klinischen Familienforschung betrachten vor allem die potentielle Gefahr, welche von den Beziehungen v.a. der Eltern zu ihren psychisch kranken Kindern für deren psychi-sche Gesundheit ausgeht. Sie stellen den Patienten und seine Erkrankung in den Mittel-punkt der Analyse und betrachten seinen Zustand als Konsequenz u.a. familiärer Ein-flüsse. Dabei werden biochemische und genetische Einflüsse auf die Krankheit keines-wegs ausgeschlossen, sondern im Sinne von Vulnerabilitäts-Stress-Modellen integriert.

Nicht systematisch betrachtet werden jedoch die spezifischen Anforderungen und Leis-tungen, mit denen die Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern in diesen Familien verbunden ist.

(b) Positive Generativität: Die eher pflegewissenschaftlich orientierte Familienforschung, beeinflusst vom Empowerment der Angehörigen, betont dagegen die Rolle der Familie als Ressource für den psychisch Kranken. Sie fokussiert vor allem die Lage der Ange-hörigen, meist der Eltern. Ihre Vertreter wehren sich gegen eine einseitige Betrachtung der pflegenden Familienmitglieder als Risikofaktoren. Es besteht allerdings die umge-kehrte Tendenz, den psychisch Kranken als Risikofaktor für das seelische Wohlbefin-den seiner Angehörigen zu betrachten. Psychische Krankheit wird häufig als Schicksal verstanden und die Gleichstellung von seelisch und körperlich Kranken angestrebt, da-her steht man hier biologischen Modellen von psychiscda-her Krankheit sehr nahe. Wenig

beachtet werden die Auswirkungen von Versuchen der Krankheitsbewältigung auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen psychisch Kranken und ihren Angehörigen.

Welches Bild von Generationenbeziehungen psychisch Kranker gezeichnet wird, scheint inte-ressanterweise davon abzuhängen, welche Perspektive oder Familienrolle der Forscher in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt. Es erscheint nachvollziehbar, sich entweder dem psychisch Erkrankten und seiner Symptomatik zu widmen, wobei seine Familienbeziehungen den Status von antezedenten oder intervenierenden Variablen erhalten, oder aber genau umgekehrt die andere Seite zum Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu machen. Der Preis für dieses Vor-gehen ist allerdings, dass letztlich die Beziehung zwischen dem Erkrankten und Mitgliedern seiner Familie als Gegenstand verfehlt wird: Die Beziehung allein von einer Seite aus zu ana-lysieren, muss zu einem verkürzten Bild führen.

Als Fazit auf die vorangegangene problemgeschichtliche Betrachtung lautet meine Argumen-tation wie folgt: Keine der hier dargestellten Perspektiven ist per se weniger geeignet, die Realität einer Familie mit einem psychisch kranken Mitglied abzubilden. Jedoch erscheinen beide Ansätze unvollständig: Sie erlauben nicht, Familien- oder Generationenbeziehungen so zu analysieren, dass in ihnen potentiell sowohl positive als auch negative Generativität vorge-funden werden kann. Dies aber wird dem Verhältnis der Generationen nicht gerecht. Im Zu-sammenleben von Eltern und Kindern findet beides statt, sowohl abweisendes, verletzendes, ein Familienmitglied gefährdendes Handeln und das Hinterlassen risikoreicher psychischer Dispositionen, als auch ein Miteinander, dass die nächste Generation mit materiellen wie psy-chischen Ressourcen versorgt. Beide Aspekte prägen die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und sollten sich in deren Beziehungserleben wiederspiegeln.

Ich möchte an dieser Stelle die These aufstellen, dass Gegensätze und Zwiespältigkeiten in der Rethorik über Generationenbeziehungen psychisch Kranker auf Zwiespältigkeiten verwei-sen, die dem Phänomen selbst inhärent sind. Um diesem gerecht zu werden, ist eine Konzep-tion notwendig, die in der Lage ist, Gegensätzlichkeiten des Gegenstandes zu erfassen. Im Folgenden Kapitel wird mit dem Konstanzer Ambivalenzmodell eine solche Konzeption vor-gestellt.

3. DAS KONZEPT DER AMBIVALENZ UND SEIN NUTZEN FÜR DIE